Das Wirtschaftszentrum Zürich zehrt zu sehr von seinem Ruf. Seine Finanzpolitik ist ambitionslos. Die Zeichen stehen auf Abstieg.
Ernst Stocker spricht gerne in Bildern. Oft greift er dafür auf das Tierreich zurück. Das mag mit Stockers Erstberuf zu tun haben. Vor seiner politischen Karriere war der Zürcher Finanzdirektor als Landwirt tätig. Noch heute schwingt er gelegentlich die Mistgabel auf dem Hof seines Sohnes in Wädenswil.
Bauer Stockers liebstes Bild ist jenes der Milchkuh. Als Herr über das grösste kantonale Budget des Landes will er damit zum Ausdruck bringen, wie potent Zürich ist. «Wir sind die Milchkuh der Nation!», sagte er 2015. Kurz zuvor hatte er das Amt als Finanzdirektor übernommen. Seither wiederholt der SVP-Mann das Bild in schöner bis penetranter Regelmässigkeit.
Und es ist ja auch nicht falsch. Zürich generiert bis heute einen Fünftel des Bruttoinlandproduktes der Schweiz. Entsprechend hoch sind die Zahlungen aus Zürich an die direkte Bundessteuer und in den nationalen Finanzausgleich. Das Wirtschaftszentrum des Landes ist ein attraktiver Standort, von dem auch der Bund und andere Kantone profitieren – gewiss.
Die Frage ist nur: wie lange noch? Und strengt sich der Kanton mit dem 69-jährigen Stocker an der Spitze finanzpolitisch genügend an, damit Zürich nicht nur von seinem Ruf zehrt, sondern auch in Zukunft erfolgreich ist?
Zweifel sind angebracht. Eigentlich sollte allen bewusst sein, dass es nicht genügt, nur ständig zu wiederholen, wie grossartig der eigene Standort ist. Man muss auch etwas dafür tun. Sonst gleicht der Kanton Zürich bald tatsächlich einem Rindvieh. Jedoch keiner prächtigen Milchkuh, sondern einem abgehalfterten Exemplar, das träge auf der abgegrasten Weide steht und wiederkäut und wiederkäut – während andere überholen. Genau das geschieht.
Es zeigt sich unter anderem im Finanzausgleich. Nächstes Jahr wird der kleine Kanton Zug erstmals mehr Geld in den nationalen Ausgleichstopf einzahlen als Zürich. Richtig zu beunruhigen scheint das aber niemanden.
Dass die Zürcher Finanzpolitik im Vergleich zu anderen Kantonen ambitionslos ist, sieht man nur schon in den Legislaturzielen des formell bürgerlichen, überalterten Regierungsrats. Langfristiges Ziel der Finanzpolitik sei es, steht da, dass Kanton und Gemeinden im Steuerwettbewerb «bestehen können». Die Steuern gelte es zu «erhalten». Alle Zeichen stehen auf Besitzstandwahrung, Aufbruch tönt anders.
Es mag Wortklauberei sein, aber vor 15 Jahren war man offensiver. Damals hiess es in den Legislaturzielen immerhin, man wolle die «Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Zürich stärken». Den Konkurrenzkampf also aktiv angehen und gestalten.
Dass dieser Anspruch verlorengegangen ist, fällt auf. Heinz Tännler, der umtriebige und erfolgreiche Finanzdirektor des Kantons Zug, formulierte es kürzlich in einem NZZ-Interview so: «In Zürich ist man nicht mehr so mutig.» Den politischen Willen und den unternehmerischen Geist spüre er in Zürich von Jahr zu Jahr weniger. Was vor allem fehle, sei eine «proaktive Steuerpolitik». Eine, wie sie der Kanton Zug und andere Innerschweizer Kantone verfolgt hätten. «Die haben konsequent daran gearbeitet und das Blatt gewendet», so Tännlers Befund.
Auch wenn Zug und Zürich nur schon von der Grösse her schwer vergleichbar sind, sollte Tännlers Kritik zum Nachdenken anregen – und zum Handeln. Denn sie fusst auf harten Zahlen und unguten Entwicklungen. Das ist keine einseitige, parteiische Panikmache. Nachzulesen ist es in einer Dokumentation, die Stockers Direktion selbst jedes Jahr herausgibt: dem Zürcher Steuerbelastungsmonitor.
Die Befunde lesen sich ernüchternd. Überall hat der stolze Wirtschaftskanton an Boden verloren. Bei der durchschnittlichen Einkommensbelastung hat Zürich im interkantonalen Vergleich seit 2006, als der Monitor zum ersten Mal erschienen war, acht Plätze eingebüsst (nun auf Platz 13). Bei der Vermögensbelastung rutschte der Kanton sieben Plätze ab (auf Rang 10).
Besonders dramatisch ist die Lage bei den Firmensteuern. Dort liegt Zürich mittlerweile auf dem zweitletzten Platz aller Kantone; zwölf Ränge hat man seit 2006 eingebüsst. Nicht weil die Zürcher die Steuern erhöht hätten, sondern weil die anderen Kantone in diesem Bereich viel aktiver und unternehmerfreundlicher gewesen sind. Zürich trottet vor sich hin, die anderen ziehen davon.
Die agilen Kantone wissen, dass ihnen Firmen neben Steuereinnahmen viele Arbeitsplätze und wertvolle Impulse bringen. In Zürich scheint man das nicht mehr nötig zu haben. Eine gefährliche Selbstgenügsamkeit macht sich breit.
Aus der Finanzdirektion und von anderen Besitzstandwahrern hört man Ausreden. Für den Grossteil der Zürcherinnen und Zürcher sei die Steuerbelastung erträglich, nur bei den Spitzensätzen sei man wesentlich teurer als andere Kantone, heisst es. Vergessen geht, dass es die Spitzenverdiener sind, die überdurchschnittlich viel zum Zürcher Haushalt beitragen – ihnen sollte besonders Sorge getragen werden.
Auch das miserable steuerliche Umfeld für Unternehmen wird schöngeredet. Die Steuern seien nicht das wichtigste Kriterium für eine Firmenansiedelung. Zürich habe viele andere Standortvorteile – von der Zentrumslage bis hin zum Kinderkrippen-Angebot. Das mag alles stimmen. Trotzdem bleiben die Steuern eine massgebliche Grösse. Nicht umsonst verliert der Kanton Zürich seit mehreren Jahren netto Unternehmen. Nicht erfasst sind Firmen, die aufgrund des schlechten Angebots von Anfang an einen Bogen um Zürich machen.
Vor allem in den rot-grün regierten Städten und im linken Parteienspektrum scheint man über diese Situation gar nicht unfroh zu sein. Neue Firmen werden nicht mehr als Bereicherung, sondern als Bedrohung gesehen. Expats mit guten Löhnen sind das neue Feindbild vieler Linken. In ihren Augen sind sie für die hohen Mieten und Lebenshaltungskosten in den Städten verantwortlich. Es ist ein Zeichen fortschreitender Dekadenz, wenn jene, die einen Standort vorwärtsbringen, niedergemacht werden.
Immerhin einen Prozentpunkt
Dem Widerstand zum Trotz macht Finanzdirektor Stocker nun Anstalten, die Lage für die Firmen zumindest leicht zu verbessern. Es ist der zweite Schritt im Vollzug der Unternehmenssteuerreform auf Bundesebene. Nachbarkantone wie der Thurgau, der Aargau oder Schaffhausen haben längst gehandelt, auch urbane Zentren wie Basel und Genf.
In Zürich soll der Gewinnsteuersatz jetzt um einen Prozentpunkt sinken. Diese Mini-Anpassung ist überfällig und sollte angesichts der Lage eine Selbstverständlichkeit sein. Nicht so im Kanton Zürich.
Die Gegner ziehen alle Register, um die massvolle Senkung zu bekämpfen. Nicht weniger als drei Referenden sind dagegen angekündigt: SP, Grüne, AL und EVP sammeln Unterschriften für ein Volksreferendum, die gleichen Parteien erwirken ein Behördenreferendum im Kantonsrat, dazu kommt ein Gemeindereferendum der Stadt Zürich. Die Gegner warnen vor Steuerausfällen in dreistelliger Millionenhöhe, kurz: Sie fürchten um ihre Pfründen.
Ernst Stocker, der Gesamtregierungsrat, die bürgerlichen Parteien und die Wirtschaft werden angesichts des geballten Widerstands viel Überzeugungsarbeit leisten müssen. Sie müssen aufzeigen, weshalb die statische Verlustlogik der Linken zu kurz greift. Nur wenn sich der Standort Zürich effektiv verbessert, wird er gerüstet sein für die Herausforderungen der Zukunft und wird im Steuerwettbewerb nicht vollends abgehängt.
Steuererträge sind kein Sackgeld
Es ist ja nicht so, dass Kanton und Gemeinden verlumpen würden. Dazu schaut der schlaue Bauer Stocker. Die Senkung der Gewinnsteuern wollte er ursprünglich mit einer Erhöhung der Dividendensteuern kompensieren – ein Plan, den die Mehrheit im Parlament gerade noch verhindern konnte.
Ein neuer Geldsegen für den Staat ist jedoch bereits beschlossen. Stockers Direktion wird die Steuerwerte für Liegenschaften anheben. Was technisch tönt, hat für Hausbesitzer handfeste Folgen. Wenn ihre Immobilien auf dem Papier mehr Wert haben, steigern sich ihr Vermögen und der Eigenmietwert. Rund 170 Millionen Franken mehr an Steuern werden die Zürcher Eigentümer jedes Jahr an Kanton und Gemeinden abliefern müssen.
Damit es nicht heisst, der Kanton schröpfe die Privaten und entlaste die Unternehmen, wäre es nichts als recht, Stocker würde eine anderweitige Erleichterung der natürlichen Personen in die Wege leiten. Vorstellbar ist eine Senkung des allgemeinen Steuerfusses. Möglich wären auch kreativere Ansätze wie ein Ausgleich der sogenannten warmen Progression, wie ihn die FDP kürzlich im Kantonsrat anregte.
Stocker reagierte damals in der Debatte ziemlich ungehalten. «Dieser Rat geht mit Steuereinnahmen leichtfertiger um als mein Enkel mit seinem Sackgeld», rief er den bürgerlichen Parlamentariern entgegen. Es war wieder so ein Stockersches Sprachbild.
Steuergelder mit Sackgeld zu vergleichen, das man unhinterfragt einstreichen und verprassen darf, trifft den Kern der heutigen Zürcher Finanzpolitik ziemlich gut. Angesichts der vielen Warnsignale und der vifen Konkurrenz ist es an der Zeit, den bisherigen Kurs grundlegend zu überdenken.