Das Tonhalle-Orchester und sein Musikdirektor Paavo Järvi treten nacheinander im KKL und in ihrem historischen Saal in Zürich auf – der Ortswechsel zeigt die Qualitäten der Musiker in anderem Licht.
Das Tonhalle-Orchester Zürich schlägt eine Brücke. Noch in der vergangenen Woche mischte es mit seinem Musikdirektor Paavo Järvi im KKL beim Reigen der internationalen Spitzenensembles am Lucerne Festival mit – diese Woche läutet es mit drei Auftritten in der heimischen Tonhalle bereits nahtlos die neue Konzertsaison ein. Zwei unterschiedlich konzipierte Programme, zwei durchaus gegensätzliche Konzerthallen, aber die gleichen Musiker und derselbe Dirigent – ein Vergleich drängt sich geradezu auf.
Das beginnt mit den Räumlichkeiten: Die Säle in Luzern und Zürich bieten ein kleines Lehrstück zu der Frage, welche Bedeutung der akustische Rahmen bei einem Konzert besitzt. Oft wird nämlich übersehen, wie stark ein hochspezifischer Raum wie ein Konzertsaal mit seinen Klangeigenschaften auf die Darbietung selbst zurückwirken kann. Deshalb ist es wichtig, dass sich Orchester regelmässig ausserhalb ihrer angestammten Säle erproben und bewähren können. Paavo Järvi forciert dies zu Recht mit Gastspielen, etwa in der Hamburger Elbphilharmonie und seit zwei Jahren endlich auch wieder jede Saison am Lucerne Festival.
Ein «Järvi-Orchester»
Hier trifft das Zürcher Orchester auf einen Saal, der sich nicht bloss architektonisch erheblich von der historischen Tonhalle unterscheidet: Die Salle Blanche in Jean Nouvels KKL ist auch klanglich moderner ausgerichtet, und das meint in diesem Fall: viel analytischer, mehr auf Transparenz denn auf die organische Verschmelzung des Klanges fokussiert. Während die Tonhalle mit ihrem voll und warm tönenden Bassregister als Musterbeispiel dieses romantischen Mischklang-Ideals gilt, kehrt das KKL die höheren Register hervor. Es kann dadurch kühler wirken, und aufgrund seiner Durchhörbarkeit ist es auch weniger «nett» zu Orchestern – es legt nämlich Fehler ebenso offen wie Feinheiten.
Bei der Aufführung von Gustav Mahlers 1. Sinfonie gab es erfreulich wenige Fehler, aber man hörte doch ein «anderes» Tonhalle-Orchester. Das KKL nimmt dem Ensembleklang tatsächlich die warme Grundierung im Bass; diese behaglich-satte Basis – sie fehlt regelrecht. Hier zeigt sich, wie mächtig Hörgewohnheiten nachklingen können. Im Gegenzug tritt aber etwas anderes hervor, das man in der Tonhalle weniger deutlich wahrnimmt: die spieltechnische Genauigkeit, die Järvi und das Orchester in den mittlerweile fünf Jahren ihrer Zusammenarbeit erreicht haben.
Das erinnert beinahe schon an die sozusagen mikrofonoptimierte Akkuratesse von Rundfunkorchestern, etwa den Klangkörpern des Bayerischen Rundfunks und des NDR, die sich unlängst am Lucerne Festival mit ähnlicher Präzision präsentierten. Namentlich aber erkennt man hier Parallelen zum Frankfurter HR-Sinfonieorchester, das sieben Jahre lang durch Järvi geprägt und gleichsam auf eine höhere Umlaufbahn katapultiert worden ist. Für ein solches «Järvi-Orchester» bildet die penible Auseinandersetzung mit dem Notentext die Basis, von der aus man dann aber im Moment der Aufführung in ein freieres, weniger rational beherrschtes Musizieren vordringt.
Järvi treibt diesen Gedanken mit seinen Zürcher Musikern inzwischen noch weiter als in Frankfurt. Denn das Tonhalle-Orchester bewahrt eben auch eine bedeutende romantische Klang- und Spieltradition, nicht zuletzt durch seine historische Heimstatt; sie beruht auf Sinnlichkeit, Emotion und Spontaneität, mit einem Zuviel an analytischer Genauigkeit verträgt sich das schlecht. Und so hält Järvi die Zügel in Mahlers Erster nicht annähernd so straff, wie es Joana Mallwitz bei ihrer überkontrollierten Aufführung am Ende der vergangenen Saison in der Tonhalle getan hat.
Järvi gibt sich und seinen Musikern viel mehr Zeit und Raum, um einzelne Passagen auszukosten, etwa die epische Naturtraum-Episode im Kopfsatz der Ersten oder die lustvoll in schrägen Jahrmarkt-Frohsinn umkippenden satirischen Momente im Trauermarsch. Hier spürt man zugleich die Vertrautheit, die in der Zusammenarbeit zwischen dem Chefdirigenten und seinen Musikerinnen und Musikern gewachsen ist: In den besten Momenten wie der brillant gesteigerten, doch nie übersteuerten Paradies-Vision des Schlusses scheint die Aufführung getragen von einem gemeinsamen Hochgefühl.
Bei Igor Strawinskys «Feuervogel»-Suite von 1919, dem Hauptwerk der Zürcher Saisoneröffnung, will sich solch ein Hochgefühl noch nicht mit vergleichbarer Wucht einstellen. Järvi verzettelt sich ein wenig in den vielen schönen Stellen der noch hörbar an Rimski-Korsakow, Strawinskys Lehrer, geschulten Einleitungsnummern. Der wilden «Danse infernale», in der Strawinskys eigener Stil zum Durchbruch kommt, fehlt es dagegen genau daran: an Wildheit und jener überwältigenden Brillanz, die Riccardo Chailly vor einigen Jahren mit dem Lucerne Festival Orchestra in dem Stück erreichte. Allerdings erst – und das passt ins Bild – nach einer Tournee durch ein halbes Dutzend Konzerthäuser in Asien.
Werden und Vergehen
In Zürich wie in Luzern dirigiert Paavo Järvi jeweils auch ein Solokonzert, und wieder kommen hier die Eigenheiten der Säle zum Tragen. Während Sheku Kanneh-Mason in Schostakowitschs 1. Cellokonzert im KKL schnell in ein intensives, immer transparentes Dialogisieren mit dem Orchester findet, hat Víkingur Ólafsson beim 1. Klavierkonzert von Brahms mächtig zu kämpfen. Das liegt an der grösseren Besetzung, aber auch an der viel dichteren Klangkulisse, mit der die Tonhalle das Soloinstrument umhüllt – und manchmal überdeckt. Ólafsson, der isländische Fokus-Künstler dieser Saison, reagiert darauf in den Ecksätzen leider mit einem stellenweise harten, farbarmen Anschlag – nur im religiös getönten Mittelsatz findet man zu einem Miteinander, das aus Verinnerlichung entsteht.
Aus Island stammt auch die Komponistin Anna Thorvaldsdottir, die in der neuen Saison den «Creative Chair» der Tonhalle bekleidet. Ihre suggestive Klangstudie «Archora», hier als Schweizer Erstaufführung zu erleben, beschwört Urgewalten des Werdens und Vergehens, entwickelt aber auch noch einen anderen Reiz: Durch die Betonung der tiefen und tiefsten Frequenzen scheint sie die Stärken der Tonhalle-Akustik geradezu demonstrativ ins Licht setzen zu wollen.