2019 versprach Boris Johnson der englischen Peripherie den grossen Brexit-Aufschwung. Fünf Jahre später herrscht Verbitterung vor, von der die Labour-Partei, aber auch die rechtsnationale Reform UK profitieren wollen.
Die letzte Kohlemine Grossbritanniens mag vor knapp einem Jahrzehnt geschlossen worden sein. Doch im Geiste wird Eric Eaton für immer ein Bergmann bleiben. Der 77-Jährige steht in einem kleinen Museum zur Geschichte der Kohleminen in Nottinghamshire in Mittelengland, das er mit ehemaligen Kumpeln gegründet hat. Die Ausstellung zeigt alte Werkzeuge, dokumentiert den Stolz und den Kampf der Arbeiterbewegung – und erzählt auch Eatons eigene Lebensgeschichte.
Für den Sohn eines Minenarbeiters war der Weg von Anfang an vorgezeichnet. Als 15-Jähriger nahm er die Arbeit in seiner ersten Kohlemine auf, ein ganzes Berufsleben lang wollte er Kumpel bleiben. Als junger Mann kaufte er sich mit seiner Frau ein kleines Reihenhäuschen in Kirkby-in-Ashfield – einer Siedlung mit einer mittelalterlichen Kirche, die nach dem Boom der Kohleminen im späten 19. Jahrhundert zu einer Kleinstadt angewachsen war.
Enttäuschte Hoffnungen
Der Niedergang begann in den 1980er Jahren: Die konservative Premierministerin Margaret Thatcher brach den Widerstand der Gewerkschaften und setzte die Schliessung unzähliger Kohleminen durch. 35 Minen habe es damals in Nottinghamshire noch gegeben, so erinnert sich Eaton. 35 000 Männer hätten im Bergbau ein Auskommen gefunden. Die Frauen arbeiteten in Textilfabriken, die Arbeitskleider für die Kumpel herstellten. «Die Schliessung der Bergwerke kam einer Verwüstung gleich», sagt Eaton. «Unsere Siedlungen waren auf dem Land rund um die Minen entstanden. Ohne sie standen wir vor dem Nichts.»
Die Folgen der Deindustrialisierung waren hohe Arbeitslosenzahlen sowie eine soziale Verwahrlosung und Perspektivenlosigkeit, deren Auswirkungen im Wahlkreis Ashfield noch vierzig Jahre später spürbar sind. Lange pflegte die postindustrielle Arbeiterschicht das Feindbild Thatchers und stimmte reflexartig für die Labour-Partei. «Man hätte einem Esel eine rote Rosette anstecken können, und er wäre gewählt worden», sagt Eaton.
Die Unterstützung für Labour schlug sich aber nie in einer Verbesserung der Lebensumstände nieder. Der Wunsch nach einem radikalen Wandel wurde grösser und grösser – und kochte beim Brexit-Referendum von 2016 über, als 70 Prozent der Wählerinnen und Wähler von Ashfield für den EU-Austritt stimmten. 2019 wandte sich die Bevölkerung des Wahlkreises in Scharen von Labour ab und stimmte mehrheitlich für die Konservative Partei von Boris Johnson.
Etwa die Hälfte der rund 60 postindustriellen Bezirke in den ehemaligen Labour-Stammlanden in Mittel- und Nordengland ging damals an die Tories. Johnson gewann dank den neuen Wählern aus der sogenannten «Red Wall» eine Mehrheit von gut 80 Sitzen im Unterhaus. Das lag an Johnsons unvergleichlichem Charisma. Aber auch an seinem Versprechen, den Brexit umzusetzen und unter dem Schlagwort «levelling up» das Wohlstandsgefälle zwischen dem wohlhabenden Süden und dem strukturschwachen Norden des Landes auszugleichen.
Fünf Jahre später stehen erneut Unterhauswahlen an – und Peter Simpson ist um eine Enttäuschung reicher. «Ich habe den Glauben an das System verloren», sagt der 55-jährige Elektriker, der auf einem Platz im Zentrum der Provinzstadt Sutton-in-Ashfield ein Feierabendbier trinkt. Die Pandemie und die Inflation haben Spuren hinterlassen. Simpson musste in den letzten Jahren mehrmals eine Abgabestelle für gespendete Nahrungsmittel aufsuchen, da der wöchentliche Einkauf im Supermarkt für ihn und seinen 15-jährigen Sohn zu teuer geworden war.
Von der wirtschaftlichen Erholung, auf die der konservative Premierminister Rishi Sunak im Wahlkampf verweist, spürt Simpson nichts. «Hier fühlt es sich noch immer an, als wären wir in der Rezession», sagt er. Enttäuscht ist Simpson auch vom Brexit. Trotz dem Versprechen der Brexiteers, man werde die eingesparten EU-Zahlungen in den Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) investieren, sind die NHS-Wartelisten lang wie nie zuvor. Die Migration ist trotz dem Ende der EU-Personenfreizügigkeit auf neue Rekordwerte gestiegen. Und bisher sind bloss 10 Prozent der versprochenen «Levelling up»-Investitionen in benachteiligte Regionen ausbezahlt worden.
Die politische Odyssee des Lee Anderson
Noch weiss Simpson nicht, wem er am 4. Juli seine Stimme geben wird. Fest steht für ihn aber, dass die Zuwanderung das grösste Problem des Landes ist. «Die Politiker müssen die irreguläre Migration über den Ärmelkanal stoppen», erklärt er. «Wir müssen kontrollieren, wer in unser Land kommt.» Wahrscheinlich wird Simpson daher für Lee Anderson stimmen, den Kandidaten von Reform UK, der die Migration radikal begrenzen will.
Die Biografie des 57-jährigen Anderson spiegelt die politischen Umbrüche, die Ashfield in den vergangenen Jahrzehnten erlebt hat. Zu Beginn seiner Karriere war er Minenarbeiter und Labour-Lokalpolitiker gewesen – bis ihn die Genossen wegen Chauvinismus aus der Partei warfen, weil er einen Standplatz für Fahrende mit Gesteinsbrocken verbarrikadiert hatte.
Dann lief der kernige Haudegen zu den Konservativen über. 2019 gelang ihm die Wahl ins Unterhaus. Dort erkoren ihn die Tories bald zum Aushängeschild für ihre Bemühungen, vermehrt Wähler aus der postindustriellen Arbeiterschicht anzusprechen. Anfang Jahr aber überwarf er sich auch mit den Konservativen, nachdem er den muslimischen Londoner Labour-Bürgermeister Sadiq Khan als Marionette von Islamisten bezeichnete hatte.
Nun ist Anderson auf seiner politischen Odyssee bei der Rechtspartei Reform UK gelandet. Die Formation des Brexit-Vorkämpfers Nigel Farage sagt den Tories den Kampf an und spaltet die rechte Wählerschaft, wovon im britischen Mehrheitswahlrecht die Labour-Partei profitieren dürfte. Farage hat hochfliegende Pläne: Nach dem wahrscheinlichen Labour-Wahlsieg will er die zerstrittene Konservative Partei spalten – und bei der übernächsten Unterhauswahl 2029 an die Macht kommen.
In Ashfield rechnet sich Reform UK mit Anderson als Zugpferd bereits am 4. Juli gute Chancen auf einen Sitzgewinn aus. Die Konservativen hingegen scheinen auf verlorenem Posten zu stehen. Ohne Boris Johnson als Aushängeschild, ohne den altlinken Labour-Chef Jeremy Corbyn als Feindbild und ohne den Brexit als Heilsversprechen fehlen ihnen die Trümpfe, die im Wahlkampf vor fünf Jahren in der «Red Wall» stachen.
Politikverdrossenheit nimmt zu
In einem «Pakt mit den Wählern» verspricht Reform UK Steuersenkungen, Investitionen in die Infrastruktur und ein Ende der Massenmigration zum «Schutz der britischen Kultur, Identität und Werte». «Ich will mein Land zurückhaben», erklärt Anderson im Wahlkampf immer wieder.
Ein Blick auf die Statistiken zeigt freilich, dass Ashfield kaum von Migration betroffen ist. Anders als in den multikulturellen Grossstädten sind rund 95 Prozent der Einwohner weiss und in England geboren. Die Arbeitslosigkeit ist relativ tief, doch ist die Zahl der Einwohner mit Tieflohnjobs hoch. In der Rangliste der ärmsten Gemeinden liegt der Wahlkreis im rückständigsten Fünftel.
Da die meisten Siedlungen in Ashfield rund um die Kohleminen entstanden, wirkt der Wahlkreis bis heute stark zersiedelt. Als regionale Zentren dienen die Provinzstädte Kirkby und Sutton. In den Einkaufsstrassen warten etliche Geschäftslokale auf neue Mieter. Die Aussenquartiere sind kaum belebt und wirken trostlos, doch offene Armut sticht nicht ins Auge. Dennoch ist immer wieder zu hören, die Gegend werde von London links liegen gelassen. Als Symbol dafür gelten die unzähligen Schlaglöcher, die jede Autofahrt durch die Gegend zu einem holprigen Unterfangen machen.
Vor einem Einkaufszentrum in Kirkby reagieren die meisten Passanten ungehalten, wenn man sie auf die bevorstehenden Unterhauswahlen anspricht. «Die Politiker lügen doch alle nur», sagt eine übergewichtige Frau stellvertretend für viele andere. «Am Ende schauen sie nur für sich selbst.» Diese Haltung spiegelt sich in der British Social Attitudes Survey, welche die Zufriedenheit der Britinnen und Briten mit ihrem politischen System seit fünf Jahrzehnten erforscht.
Gemäss dieser sagt heute eine neue Rekordzahl von 45 Prozent der Bevölkerung, sie hätte grundsätzlich kein Vertrauen in britische Regierungen mehr – egal von welcher Partei. 2019 hatten noch 34 Prozent diese Ansicht geäussert. Die Zahlen zeigen, dass die steigende Unzufriedenheit in den letzten fünf Jahren vor allem auf das Konto von enttäuschten Brexit-Befürwortern geht.
Viele Experten glauben, dass Reform UK von der steigenden Politikverdrossenheit profitieren könnte. Doch spielen in jedem Wahlkreis auch lokale Faktoren eine Rolle. In Ashfield buhlt neben Lee Anderson auch Jason Zadrozny um Proteststimmen, was die Ausgangslage unberechenbar macht. Der unabhängige Kandidat ist Präsident des lokalen Gemeinderats, in dem die politisch schwer fassbaren und nur lose organisierten Independents eine deutliche Mehrheit stellen. «Wir profitieren derzeit von der massiven Zurückweisung aller etablierten Parteien und Mainstream-Politiker», sagt Zadrozny bei einem kurzen Treffen in Sutton.
Labour hofft auf Revanche
Glaubt man den Umfragen, dürfte der Unterhaussitz von Ashfield aber entweder an Anderson von Reform UK oder aber an die Labour-Kandidatin Rhea Keehn gehen. Cathy Mason jedenfalls ist hoffnungsvoll, dass Labour viele der vor fünf Jahren an die Konservativen verlorenen Parlamentssitze in Nord- und Mittelengland zurückerobern kann. «Die Stimmung von 2019 ist ins Gegenteil gekippt», sagt die einzige Labour-Gemeinderätin von Ashfield. «Damals wollten die Wähler Labour bestrafen, heute richtet sich die Wut gegen die Konservativen, die ihre Versprechen gebrochen haben.»
Mason sitzt in einem Café in einem Park in Sutton, wo sie soeben Labour-Flugblätter in Sozialsiedlungen verteilt hat. Sie versucht die unzufriedenen Wähler zu überzeugen, ihre Stimme nicht Reform UK oder den Unabhängigen zu geben, sondern Labour. «Alles deutet darauf hin, dass der Labour-Chef Keir Starmer neuer Premierminister wird», sagt sie. «Darum ist es für Ashfield besser, mit einem Unterhausmitglied auf den Regierungsbänken vertreten zu sein.»
Mason, die neben ihrem Job als Lokalpolitikerin als Tankstellenangestellte arbeitet, hofft, dass Starmer als Regierungschef die regionalen Ungleichheiten endlich ernsthaft angehen würde. Grösseren nördlichen Städten wie Derby, Liverpool oder Sheffield gehe es heute besser, doch blieben Provinzstädte wie Sutton oder Kirkby auf der Strecke. Mason wünscht sich Investitionen in die Infrastruktur, aber auch ins Bildungssystem und in besser bezahlte Jobs. «Die Jungen, die Ashfield zum Studium verlassen, kehren nie mehr zurück», sagt Mason. «Wir haben ein Durchschnittsalter von über 50 Jahren und fallen kulturell zurück.»
Labour wählen wird am 4. Juli der ehemalige Minenarbeiter Eric Eaton – wenn auch nur zähneknirschend. Zwar habe Eaton sein Leben lang für die Sozialdemokraten gestimmt, wie ihm das einst noch vom Vater eingetrichtert worden sei. Doch vom Parteichef Keir Starmer ist er alles andere als begeistert. Starmer sei ein verkappter Tory, der nicht die Kraft für den radikalen Neuanfang aufbringe, den Grossbritannien brauche. «Aber wenn ich mir die Alternativen anschaue, ist er das kleinste Übel.»