Die Liste der Auszeichnungen, die er für sein literarisches Werk gewann, ist lang – ob Bremer Literaturpreis 1987, Peter-Huchel-Preis 1994 oder Georg-Büchner-Preis 2014. Nun ist der Lyriker gestorben.
Bewusstseins-Topograf, Chronist deutscher Verhältnisse und Befindlichkeiten, lyrische Stimme der «skeptischen Generation»: Der am 7. November in Köln verstorbene Schriftsteller Jürgen Becker gehörte zu den angesehensten Autoren der Bundesrepublik. Sein Werk, obwohl einem kleinen Themenkreis verpflichtet, ist immer aufregend geblieben, ein «Journal der Wiederholungen», das in allen Varianten poetisch zündete. Die Kritik verlor nicht das Staunen über einen Autor, der die sprachskeptische Bewegung selbst zu Klang werden liess, doch konnte sie nicht verhindern, dass ihn die breitere Öffentlichkeit im Bild eines Experimentators festhielt, der er im strengen Sinn nie gewesen ist.
Seine Suche nach «einer poetischen Sprache innerhalb einer öffentlichen Sprache» war bei aller Reflektiertheit immer mehr instinktgesteuert als einem Avantgarde-Begriff verpflichtet. Sie zielte auf eine Wirklichkeit hinter den Zurichtungen des Bewusstseins und den Irrtümern der Erinnerung, die sich den Wörtern entzieht und doch allein von ihnen ins Bild, zu sinnfälliger Evidenz gerufen wird.
Jürgen Becker, geboren am 10. Juli 1932, war sieben, als sich der Vater, ein Ingenieur, von Köln nach Erfurt versetzen liess. Bald sprach der kleine Rheinländer Thüringisch. Stärker als der Wechsel der Landschaften setzten ihm vorerst andere Trennungen zu: die Scheidung der Eltern mitten im Krieg, das Pendeln zwischen dem strengen Vater und der scheinbar so fröhlich-leichtlebigen Mutter, ihr Freitod, der gewaltsame Tod befreundeter Kinder, eines Onkels und der zuletzt wohl freundschaftlich akzeptierten Stiefmutter.
Als die Amerikaner einmarschierten, zerbrachen die Ideale des Hitlerjungen. 1947 ging er mit dem Vater zurück ins Bergische. Abitur 1953, abgebrochenes Germanistikstudium, Rundfunk- und Lektoratsarbeit, seit 1960 erste kleinere Publikationen, dann, 1963, der Reflex des angehenden Schriftstellers auf den frühen Verlust aller Gewissheiten: In einer programmatischen Rede «Gegen die Erhaltung des literarischen Status Quo» bekannte sich der 31-Jährige unter Berufung auf Peter Weiss, Uwe Johnson, Helmut Heissenbüttel und unter dem Eindruck seiner Joyce-Lektüre gegen die Autonomie des Erzählers, den herkömmlichen Realismus und zur Beweispflicht.
An den Rändern des Verstummens
Wenig später debütierte er mit «Felder», dem Versuch einer Sprachbewegung ins Voraussetzungslose, der ihn an die Spitze der bundesdeutschen Avantgarde brachte. Die Erzählerfigur dieses über drei Jahre geführten Wahrnehmungsprotokolls konstituiert sich als Medium einander durchkreuzender Realitätsfragmente. Das hier entwickelte Verfahren trieb ihn in seinem zweiten Buch – «Ränder», 1968 – über die Auflösung von Syntax, Grammatik und Semantik an den Rand des Verstummens.
In den Hörspielen «Bilder», «Häuser» und «Hausfreunde» (1969) und vor allem im letzten Stück seiner experimentellen Trias, der Prosa «Umgebungen» (1970), liess Becker bis heute bestehende Formen unauthentischen Sprechens Revue passieren, von den leeren Sprachritualen des Alltags über die Euphemismen der Gleichschaltung in Politik, Industrie und Werbung bis zu progressiver Gesinnungsrhetorik.
Eine Chronik des beschädigten Lebens und ein Buch des Übergangs: Unverkennbar meldet sich ein Subjekt zu Wort, das die Jargons durchmustert nach möglichen Sprechweisen für den eigenen Ort, die eigene Geschichte und den eigenen Schmerz. Diese subjektive Energie war auf Dauer durch keine Objektivierungsanstrengung zu bändigen, überdies fürchtete Becker, misstrauisch gegen Dogmen jeder Art, die Gefahr formalistischer Routine.
Der Gattungswechsel, den er zu Beginn der siebziger Jahre vollzog, gab ihm die Möglichkeit, sprachskeptische Reflektiertheit und poetischen Ausdruckswillen in beweglichen Kontexten zusammenzuführen. In einem runden Vierteljahrhundert entstanden nun seine lyrischen Zyklen: von «Das Ende der Landschaftsmalerei» (1974) bis zum «Journal der Wiederholungen» (1999). Ein vielstimmiges Parlando, schweifend assoziativ oder epigrammatisch verknappt, das die Suchbewegung nach dem gültigen Ausdruck in «Bilderrissen» präsent hält, zugleich der drohenden Auflösung des Subjekts die präzise Erfassung des Sichtbaren entgegensetzt.
Dabei entsteht eine Phänomenologie des Alltags, die den Wechsel der Jahreszeiten, Natur- und Tierbeobachtung, Wetterlagen, Ehe- und Dorfthemen ebenso umfasst wie den gesellschaftlichen Wandel, die Menetekel der Umweltzerstörung und die Verstädterung des ländlichen Raums. Zugleich sind die protokollierten Momente Einfallstore der Erinnerung, Schlüsselreize, die Krieg und Bombenterror und die unzugänglich gewordenen Landschaften Mitteldeutschlands ins Bewusstsein holen.
Die Überblendung und Verkeilung mehrerer Zeitschichten und Topografien zieht den Augenblick in den Schatten historischer Verläufe und der Verstörungen, Ängste und Verluste eines Deutschen mit Jahrgang 1932. «Worauf es ankommt, ist nicht / die Spur des privaten Rätsels, sondern der langsame Weg / in die Luft, die Biografie einer Zeit, die / wir kennen, die mit jedem Jahr meine und / eine vollkommen anonyme ist.» Beckers lyrisches Werk gehört zu den grossen Gedächtnisleistungen der deutschen Literatur.
Die Wende von 1989 war Becker eine poetische Befreiung
Dass erst nach seiner Pensionierung als Leiter der Hörspielabteilung des Deutschlandfunks (1974–1993) die Prosa wieder in den Mittelpunkt rückte, führte er selbst auf die starke berufliche Beanspruchung zurück. Doch wäre er ohne eine erhebliche Verschiebung seiner inneren Koordinaten kaum zum Erzähler geworden: Erst die «Wende» von 1989 machte ihn frei, die Zeitschichten und Erinnerungssplitter seiner Lebenslandschaft zur Synthese zu führen.
1997 erschien die Erzählung «Der fehlende Rest», gleichsam als Vorspiel zum Roman «Aus der Geschichte der Trennungen». Beide Bücher sind Selbsterkundungen eines Deutschen in seiner wiedergefundenen Landschaft. Ist es in der Erzählung noch ein einzelnes Déjà-vu-Erlebnis, das analoge Erinnerungen weckt, so erscheinen im Roman die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Zeiten und Räumen durchwegs gelockert.
Auf dem Gebiet der früheren DDR, konfrontiert mit der «angehaltenen Zeit» eines älteren, authentischeren Deutschland, findet das Alter Ego des Autors in eine entsprechende Schicht von sich. Plötzlich wird alles benennbar: das Daseinsgefühl der Kindheit, der Grund seiner Sehnsüchte, Verstörungen und Ängste.
Beckers «Wenderoman» ist von allen Annäherungen an die Deutschen und ihre Wiedervereinigung die vielleicht nachdenklichste und menschenfreundlichste. Ein bewegendes, wunderbar zu lesendes Buch, dessen Sprache die herbe Schönheit der brandenburgischen Landschaft heraufspiegelt, in der es spielt. Leicht, klar, mit Prägnanz bei den Dingen, in schmiegsamen Perioden dem Strom des Bewusstseins folgend.
Eine zweite Naivität, souveräner Ertrag der sprachkritischen Reflexionen eines ganzen Schriftstellerlebens, alles fassend wie die komplexe Einfachheit mancher Spätwerke Mozarts. Ihr Zauber entfaltete sich noch einmal in den Wahrnehmungsminiaturen des Bandes «Schnee in den Ardennen» (2003). Wir werden auch diese letzte Klanggestalt seines Werks im Ohr behalten, mit Wehmut nun.