Bundesrat Jans sagte jüngst, die Schweiz könne die Zuwanderung aus der EU gleichsam steuern. Doch diese Aussage widerspricht allem, was wir bis jetzt über den neuen bilateralen Vertrag mit der EU wissen.
Bei keinem Thema scheinen die EU und die Schweiz so aneinander vorbeizureden wie bei der Zuwanderung. Die Schweiz würde sie gerne begrenzen, falls sich etwa die Wohnungsknappheit weiter verschärft. Die EU-Kommission dagegen verteidigt die Personenfreizügigkeit mit Zähnen und Klauen als grosse Errungenschaft – gegenüber der Schweiz, aber auch im Verhältnis zu den Mitgliedsländern.
Verwirrend scheint daher eine Aussage von Bundesrat Beat Jans vom vergangenen Freitag. Es ging um die Nachhaltigkeitsinitiative der SVP: also die Idee, die Bevölkerung der Schweiz bei 10 Millionen Personen zu begrenzen. Der Bundesrat sieht davon ab, die Initiative mit einem Gegenvorschlag zu bekämpfen, obwohl die EU den neu mit der Schweiz ausgehandelten Vertrag («Bilaterale III») möglicherweise nicht unterschreibt, falls sie angenommen wird. Ein eigens formulierter Gegenvorschlag sei gar nicht nötig, meinte Jans. Schliesslich könne man die Schutzklausel zur Zuwanderung im Vertrag mit der EU als solchen ansehen. Dessen Details kennt die Öffentlichkeit allerdings noch nicht.
Bei manchen Beobachtern in Brüssel hat diese Aussage Erstaunen ausgelöst, und sie scheint auch Kommentaren von Berner Beamten zu widersprechen. Denn es gilt: Die Hürde, um die mit der EU ausgehandelte Schutzklausel gegen eine hohe Zuwanderung zu aktivieren, ist aus jetziger Sicht hoch.
- Ökonomischer Zustand der Schweiz: Es braucht zwei Voraussetzungen, damit die Schweiz auch nur darüber nachdenken kann, die Schutzklausel anzurufen. Erstens muss das Land in ernsthaften wirtschaftlichen Schwierigkeiten stecken, und zweitens müssen diese eine direkte Folge der Zuwanderung aus der EU sein. Von beidem muss der Bundesrat ein noch zu schaffendes Schiedsgericht überzeugen. Viele Schweizer finden zwar, dass die Mieten bereits jetzt viel zu stark gestiegen seien und auf der Strasse ein Gedränge herrsche. Trotzdem könnte der Bundesrat die Schutzklausel zum jetzigen Zeitpunkt kaum anrufen. Dafür ist die wirtschaftliche Lage der Schweiz zu gut. Die Schutzklausel ist nicht dazu gedacht, die Einwanderung bei gleichzeitig boomender Wirtschaft zu bremsen.
- Verhältnismässigkeit: Allfällige Massnahmen gegen eine hohe Zuwanderung sind auf das absolut Notwendige zu beschränken. Nach einer weitverbreiteten Auffassung wird die Schweiz beispielsweise die Zuwanderung kaum mit einem jährlichen Höchstwert begrenzen dürfen. Möglich sind allenfalls geografische Obergrenzen oder zeitlich beschränkte. Die Frage ist allerdings, wie sinnvoll solche Massnahmen sind. Eine zeitlich beschränkte Obergrenze nützt wahrscheinlich nicht viel. Ein geografischer «Cap» würde Firmen in den betroffenen Regionen gegenüber Konkurrenten benachteiligen.
- Schiedsgericht: Der Bundesrat vermittelt den Eindruck, als könne er notfalls Abhilfemassnahmen gegen eine hohe Zuwanderung selbst beschliessen. Darüber entscheidet aber das geplante Schiedsgericht. Die Schweiz scheint mit diesem Gremium Mühe zu haben – im Sinne: Im Notfall kann man sich immer noch darüber hinwegsetzen. Aber eigentlich verpflichtet sich das Land mit dem neuen bilateralen Vertrag, sich an die Beschlüsse des Schiedsgerichts zu halten. Sonst wäre es nicht sinnvoll, es überhaupt zu schaffen.
Bundesrat Jans wollte am Freitag auf den Widerspruch, dass die EU die Schutzklausel nicht als unilaterales Instrument der Schweiz ansieht, nicht näher eingehen. Die Öffentlichkeit werde im Juni dazu mehr erfahren, wenn der Bundesrat die Vorlage präsentiere, meinte er auf eine entsprechende Frage. Dann wird der Bundesrat auch definieren, was passieren muss, damit sich die Schweiz aus seiner Sicht in einer wirtschaftlich schwierigen Lage befindet.
Die EU ist «anlehnungsbedürftig»
Wie hart die EU die Personenfreizügigkeit gegenüber der Schweiz im Streitfall verteidigen wird, weiss niemand. Der für das Land zuständige EU-Kommissar Maros Sefcovic hat stets betont, dass die Schweiz den freien Personenverkehr mit der EU nicht einseitig einschränken dürfe. Doch letztlich handelt es sich dabei auch um eine politische Frage, und die Kommission wird immer abwägen, wie wichtig ihr ein ungetrübtes Verhältnis zur Schweiz ist.
Das Land hat in Brüssel jüngst an Bedeutung gewonnen. Seit die EU und die USA ein beinahe feindliches Verhältnis pflegen und die Wirtschaftsbeziehungen zu China angespannt sind, bemüht sich der Staatenbund mehr denn je um Verbündete, die ihm kulturell nahestehen.
Die Schweiz als natürlicher Partner
Auffallend häufig hat die Kommission jüngst betont, dass es ihr gelungen sei, mit der Schweiz eine neue bilaterale Übereinkunft zu treffen. Sie hält das für einen grossen diplomatischen Erfolg. Die Schweiz ist aus ihrer Sicht in dieser geopolitisch angespannten Zeit ein natürlicher Partner: Das Land ist eine lupenreine Demokratie und besitzt eine grosse wirtschaftliche Bedeutung. Darf die Schweiz bei Meinungsverschiedenheiten deshalb in Brüssel vermehrt auf Milde hoffen, etwa bei der Personenfreizügigkeit?
Die Kommission ist allerdings auch offiziell die Hüterin der vier Grundfreiheiten. Zu diesen zählt neben dem freien Austausch von Kapital, Waren und Dienstleistungen der unbeschränkte Personenverkehr. Viele Erfolge konnte die Kommission jüngst nicht feiern. Die Mitgliedsländer haben einige ihrer Vorhaben zerredet oder verwässert. Deshalb kann es auch sein, dass die Kommission bei der Personenfreizügigkeit nicht mit sich spassen lässt – zu symbolgeladen ist diese Errungenschaft, als dass sie hier auch noch die Kontrolle verlieren möchte.