Auch nach dem Brexit explodierten die Migrationszahlen, denn die britische Wirtschaft lebt vom Import billiger Arbeitskräfte. Jetzt verschärft die Regierung die Regeln – doch kehren auch mehr Briten in die Arbeitswelt zurück?
Neun Jahre sind in der britischen Politik eine halbe Ewigkeit: Als Oppositionspolitiker hatte Keir Starmer beim Referendum von 2016 noch erbittert gegen den EU-Austritt und das Ende der Personenfreizügigkeit gekämpft. Heute ist Starmer Premierminister und macht sich den Slogan «Take back control» zu eigen, mit dem EU-Skeptiker rund um Boris Johnson damals das Brexit-Referendum gewannen.
Hintergrund der Kehrtwende: Starmers Labour-Regierung kämpft mit miserablen Umfragewerten, und die Rechtspartei Reform UK des Brexit-Vorkämpfers Nigel Farage hat jüngst in den englischen Lokalwahlen enorme Stimmengewinne verbucht. Ein Grund für den Erfolg von Reform UK ist die reguläre Zuwanderung, die trotz dem Brexit stark angestiegen ist und die Starmer nun mit einem Massnahmenpaket reduzieren will.
Explosion nach dem Brexit
Starmer ist nicht der erste Premierminister, der eine Reduktion der Migration verspricht. David Cameron beispielsweise kündigte 2010 an, er werde die Nettozuwanderung auf unter 100 000 Personen pro Jahr drücken. Wegen der EU-Personenfreizügigkeit hatte er aber nur wenige Hebel zur Steuerung in der Hand. 2015, im Jahr vor dem Brexit-Referendum, belief sich die Nettomigration auf 330 000 Personen, was damals als ausserordentlicher Spitzenwert galt.
Das Versprechen, die Kontrolle über die Grenzen zurückzuerlangen, war einer der Hauptgründe für den Brexit gewesen. Mit der Umsetzung des EU-Austritts per 2021 erlangte der Staat die Steuerungsmöglichkeiten zurück. Das von Johnson entworfene Punktesystem baute zwar neue Hürden für Europäer auf, sah aber gleichzeitig eine Liberalisierung für Migranten aus dem Rest der Welt vor. Die Folge: Die Nettozuwanderung ging nicht zurück, sondern schoss nach der Pandemie in die Höhe, bis im Rekordjahr 2023 fast eine Million mehr Menschen nach Grossbritannien ein- als auswanderten.
Die irreguläre Migration über den Ärmelkanal fällt zahlenmässig kaum ins Gewicht. Der Politologe Peter Walsh vom Migration Observatory der Universität Oxford nennt im Gespräch drei andere Gründe für den Anstieg seit dem Brexit. Erstens nahm nach der Pandemie die Zahl der internationalen Studenten zu, die sich an britischen Universitäten einschrieben. Zweitens kamen seit 2021 etwa eine halbe Million Flüchtlinge aus Hongkong und der Ukraine mit speziellen Visa ins Land.
Am wichtigsten ist laut Walsh aber der dritte Faktor: Britische Firmen, aber auch staatliche Arbeitgeber wie Spitäler stillten ihren Bedarf nach Arbeitskräften im Ausland. Zwar führte die Regierung für Rekrutierungen in Übersee eine minimale Lohnschwelle ein, verwässerte diese aber mit Ausnahmen für Mangelberufe wie im Pflegebereich.
Die Folge: An die Stelle von Polen, Rumänen oder Spaniern zur Zeit der EU-Personenfreizügigkeit traten nun Nigerianer, Inder oder Filipinos, die dank Arbeitsvisa massenhaft ins Land gelangten. Die Brexiteers hatten unter dem Schlagwort «Global Britain» eine geopolitische Neuausrichtung des Landes weg von Europa angekündigt. Nun galt «Global Britain» auch für die Zuwanderungspolitik.
Verschärfte Rhetorik
Starmer verschärfte am Montag seine migrationspolitische Rhetorik deutlich. «Die Tories haben an unserem Land bewusst ein Experiment mit offenen Grenzen durchgeführt, und der Schaden ist unkalkulierbar», erklärte er. «Staatliche Dienstleistungen und der Wohnungsmarkt sind riesigem Druck ausgesetzt, und unsere Wirtschaft importierte billige Arbeitskräfte.»
Der Politologe Walsh bezweifelt, dass die Konservativen die Zuwanderung bewusst in die Höhe schnellen liessen: «Migrationsströme sind schwer vorherzusagen, und ich denke, die Regierung wurde vor allem vom Ausmass der Zuwanderung im Pflegesektor überrascht.» Fest steht, dass die Zunahme unter dem von Johnson eingeführten Brexit-System erfolgte. Farage spricht daher süffisant von der «Boris-Welle» der internationalen Migration.
Starmer präsentierte in einem Weissbuch ein Massnahmenpaket, das die Zulassungskriterien in Johnsons Punktesystem verschärft. So dürfen britische Firmen künftig nur noch ausländische Fachkräfte rekrutieren, die über einen Hochschulabschluss verfügen. Für die Pflege von Senioren und Behinderten dürfen gar keine Ausländer mehr ins Land geholt werden. Für den Nachzug von Familienmitgliedern gelten viel höhere Anforderungen an die Englischkenntnisse. Studenten dürfen nach dem Studienabschluss weniger lang im Land bleiben, um zu arbeiten. Und um eine permanente Niederlassungsbewilligung zu erhalten, müssen alle Migranten künftig zehn statt fünf Jahre im Land gewohnt haben.
Droht Altersheimen der Kollaps?
Starmer verzichtete darauf, eine genaue Zahl als Zielvorgabe für die Nettomigration zu nennen. Das Innenministerium geht davon aus, dass die Massnahmen die Zuwanderung um jährlich 100 000 Personen reduzieren werden. Dazu kommen weitere Verschärfungen zur Begrenzung des Familiennachzugs, welche die Konservativen noch in ihren letzten Monaten im Amt erliessen und die nun bereits eine dämpfende Wirkung entfalten.
In den vergangenen zwanzig Jahren scheiterten die Pläne zur Senkung der Migration aber letztlich stets daran, dass die Wirtschaft und namentlich auch der Gesundheits- und Pflegesektor schlicht angewiesen waren auf ausländische Arbeitskräfte. Vertreter von Altersheimen mahnten daher bereits, in ihrem Sektor gebe es 130 000 unbesetzte Stellen, ohne Migration drohe der Kollaps.
Der Erfolg von Starmers Massnahmenpaket wird auch davon abhängen, ob es der Regierung gelingt, mehr Einheimische zum Eintritt in den Arbeitsmarkt zu bewegen. Etwa ein Viertel aller Briten im erwerbsfähigen Alter gilt als wirtschaftlich inaktiv. Diese Menschen gehen keiner Erwerbstätigkeit nach und sind auch nicht als Arbeitslose auf Jobsuche.
Laut dem Politologen Walsh müsste Grossbritannien eine Aus- und Weiterbildungsoffensive lancieren und die Arbeitsbedingungen in Niedriglohnsektoren wie dem Pflegebereich verbessern. Das ist kurzfristig viel teurer als der Import von Arbeitskräften aus dem Ausland. Angesichts der prekären Haushaltslage fehlt der Regierung das Geld an allen Ecken.
Zudem müsste die Regierung Starmer den Druck und die Anreize für Sozialhilfebezüger erhöhen, wieder ins Erwerbsleben einzusteigen. Die Regierung kündigte jüngst erste Massnahmen zur Reintegration von Behinderten an. Doch fordert die Parteilinke nach den schlechten Ergebnissen bei den Lokalwahlen bereits deren Abschwächung.