Die neue Schutzklausel eröffnet Chancen für einen Gegenvorschlag zur gefürchteten SVP-Initiative.
Die aussenpolitischen Verhandlungen sind vorbei, die innenpolitischen können nun endlich konkret geführt werden. Am Freitag hat der Bundesrat bekanntgegeben, wie die Verhandlungen über das künftige bilaterale Verhältnis mit der EU ausgegangen sind. Damit steht das Spielfeld fest, auf dem die interne Debatte zu den zwei entscheidenden Themen stattfinden wird: Zuwanderung und Lohnschutz.
Bei der Zuwanderung hat die Schweiz die EU dazu gebracht, im Abkommen über die Personenfreizügigkeit eine neue Schutzklausel einzufügen. Das Ziel ist klar: Als Ultima Ratio will die Schweiz die Möglichkeit haben, die Zuwanderung aus der EU vorübergehend einzuschränken, wenn sie problematische Dimensionen annimmt. Auffällig sind jedoch die rhetorischen Differenzen: In Brüssel heisst es, die Schutzklausel sei «nicht unilateral», in Bern hingegen freut sich der Bundesrat, die Schweiz könne die Klausel «eigenständig aktivieren».
Der Widerspruch lässt sich auflösen. Die neue Klausel bildet ein bilaterales Regelwerk, das eine juristische Streitbeilegung mit einem paritätischen Schiedsgericht umfasst. Innerhalb dieses Rahmens kann die Schweiz autonom handeln. Sie kann entscheiden, wann sie vor das Schiedsgericht geht, falls auf politischer Ebene mit der EU keine Einigung gelingt. Sie beschliesst auch eigenständig, welche konkreten Massnahmen sie ergreift – sei es nun ein scharfer Inländervorrang, eine Zuwanderungsabgabe oder eine andere Beschränkung.
Nervosität wegen SVP-Initiative
Die Schweiz kann sogar beschliessen, diese Massnahmen einzuführen, wenn sie vor dem Schiedsgericht unterliegt. Dann wäre die EU jedoch berechtigt, auch ausserhalb der Personenfreizügigkeit Massnahmen gegen die Schweiz zu ergreifen, etwa Nachteile für Exportfirmen. Je weiter die Schweiz geht, umso härter kann die EU zurückschlagen. Das ändert aber nichts daran, dass die Klausel den Spielraum erweitert: Neu wäre die Möglichkeit, dass die Schweiz den freien Personenverkehr gegen den Willen der EU temporär einschränkt, explizit vorgesehen und geregelt. Wenn heute keine politische Einigung gelingt, bleibt nur die ungeregelte Eskalation.
Innenpolitisch eröffnet die Schutzklausel neue Möglichkeiten in der Debatte um die Nachhaltigkeitsinitiative der SVP, die letztlich die Kündigung der Personenfreizügigkeit vorsieht. Wird sie angenommen, waren die Verhandlungen der vergangenen Jahre wohl für die Katz – dann ist der bilaterale Weg als Ganzes infrage gestellt. Umso grösser ist die Nervosität.
Der Bundesrat will die Initiative ohne Gegenvorschlag bekämpfen. Stattdessen plant er «Begleitmassnahmen» – wie diese aussehen sollen, ist aber noch immer unklar. Mehr Mieterschutz, mehr sozialer Wohnungsbau, höhere Kinderzulagen: Derlei Ideen hatte der federführende Justizminister Beat Jans in den Bundesrat gebracht. Und ist gescheitert. Nun wird langsam die Zeit knapp.
Schutzklausel als Basis für Gegenvorschlag
Angesichts der bundesrätlichen Orientierungslosigkeit laufen im Parlament bereits intensive Gespräche. Auch ein Gegenvorschlag ist ein Thema. Hier kommt nun die neue Schutzklausel ins Spiel. Klar ist, dass die Schweiz die Einzelheiten der Klausel autonom im Ausländergesetz definieren kann. Das Parlament wird primär zweierlei festlegen: Welches sind die konkreten Schwellenwerte, bei deren Überschreiten der Bund von einer problematischen Zuwanderung ausgeht? Und was sind die Schutzmassnahmen, die er in diesem Fall ergreift?
Denkbar ist, dass das Parlament das «Schutzklausel-Gesetz» explizit oder implizit als Gegenvorschlag zur SVP-Initiative nutzt. Angefragte Politiker wollen sich zurzeit nicht festlegen, da zu viele technische und taktische Fragen offen seien. Das Parlament könnte aber den Grundsatz der Schutzklausel in der Verfassung verankern, um daraus einen direkten Gegenvorschlag zu machen, wie dies unter anderem der Mitte-Präsident Gerhard Pfister und der FDP-Nationalrat Simon Michel vorgeschlagen haben.
Politisch wird entscheidend sein, wie scharf die Klausel definiert werden kann, wie glaubwürdig der Schutz ist, den sie verspricht. Dass die SVP bereits vor einem zahnlosen Tiger warnt, versteht sich von selbst. Bei FDP und Mitte indes scheint man ein gewisses Potenzial zu erkennen.
Das Prinzip steht fest: Mit der EU ist abgemacht, dass die Schweiz die Freizügigkeit einschränken darf, wenn diese zu ernsthaften wirtschaftlichen Schwierigkeiten führt («serious economic difficulties»). Weil das EU-Recht diesen Begriff nicht kennt, zeigen sich die Unterhändler und der Bundesrat überzeugt, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) zur Anwendung der Klausel nichts zu sagen hat. Das dürfte für die innenpolitische Akzeptanz entscheidend sein.
Ein möglicher Nachteil liegt jedoch in der inhaltlichen Definition: Dass die EU nur wirtschaftliche und nicht auch soziale Probleme als Grund für Einschränkungen der Zuwanderung akzeptiert, könnte den Spielraum der Schweiz einengen.
Sozialhilfe kann ein Kriterium sein
Beim Bund sieht man hier kein Problem. Unter «wirtschaftlichen Schwierigkeiten» lässt sich demnach mehr subsumieren, als man auf Anhieb meinen könnte. Das Departement Jans nennt diese Kriterien als mögliche Beispiele: akuter Lohnzerfall oder starker Anstieg der Mietzinse. Dies seien indes nur Gedankenspiele.
Laut Involvierten könnte auch die Sozialhilfe ein Kriterium sein: Sollten plötzlich viel mehr EU-Bürger Unterstützung beantragen, könnte dies eine Einschränkung der Freizügigkeit ermöglichen. Denkbar sind auch spezifische Kriterien nach Regionen oder Branchen.
Beim zweiten Teil – den konkreten Massnahmen – ist laut dem Justizdepartement der Spielraum ebenfalls gross. Zwar dürfen die Einschränkungen nicht wahllos erfolgen: Sie sollen sich möglichst klar auf konkrete Probleme beziehen, müssen befristet sein und verhältnismässig. Innerhalb dieses Rahmens aber ist aus Berner Sicht vieles denkbar: von Gebühren bei der Anstellung von EU-Bürgern bis hin zu regionalen oder landesweiten Kontingenten.
Hingegen kaum kompatibel ist ein Ansatz, der in der Schweiz viele Sympathien geniesst. Der ehemalige Staatssekretär Michael Ambühl hat ein Modell entworfen, bei dem die Mathematik das Schiedsgericht zumindest teilweise ersetzt: Sobald die Migration in der Schweiz gegenüber der Zuwanderung innerhalb der EU ein bestimmtes Mass übersteigt, wären Einschränkungen möglich.
Weil aber die Schutzklausel wirtschaftliche Probleme voraussetzt, dürfte dies allein nicht genügen. Allerdings scheint Bundesrat Jans auch hier Potenzial zu sehen. Zumindest nennt sein Departement explizit auch «hohe Zuwanderung» als mögliches Kriterium. Man darf gespannt sein, welche Vorschläge Jans seinen Kollegen vorlegt. Bis Ende Februar hat er Zeit.
Wie weit gehen die Gewerkschaften?
fab. Neben der Zuwanderung ist der Lohnschutz der grösste Streitpunkt. Hier gibt es zwei Baustellen. Zum einen wird der Lohnschutz durch das Verhandlungspaket tatsächlich erschwert, etwa wegen der Spesen und der Kautionen, die Firmen aus der EU hierzulande bezahlen. Zum anderen verlangen die Gewerkschaften darüber hinaus zusätzliche Konzessionen. Themen sind die leichtere Ausweitung von Gesamtarbeitsverträgen, der Kündigungsschutz oder Mindestlöhne. Beim zweiten Teil sind die Fronten gegen aussen bis jetzt absolut verhärtet. Eingeweihte mutmassen aber, dies sei nicht für bare Münze zu nehmen. Die Verhandlungen würden erst jetzt anfangen. Finden die Sozialpartner keine Einigung, dürfte das Staatssekretariat für Wirtschaft Vorschläge machen. Am Ende entscheidet das Parlament, ob und wie weit es den Gewerkschaften entgegenkommt, um das Verhandlungspaket mehrheitsfähig zu machen.