Nach dem Unfall folgt ein siebenjähriges juristisches Hickhack.
Der Unfall ist über sieben Jahre her: Am 16. Dezember 2017 hatte eine fünfköpfige Familiengruppe aus dem Kanton Aargau in der Stadt Zürich den Geburtstag einer Frau gefeiert und wollte gegen 23 Uhr 30 beim Zürcher Bürkliplatz die Tramgleise vom Bauschänzli her in Richtung See überqueren.
Gemäss Angaben eines Familienmitglieds gegenüber dem NZZ-Journalisten war die Gruppe Tramverkehr überhaupt nicht gewohnt.
Die Gruppe überquerte die Strasse auf dem Fussgängerstreifen. Auf dem Tramtrassee stand links von ihnen ein Tram der Linie 8, das wartete, um in die Haltestelle Bürkliplatz einzufahren. Daran ging die Gruppe vorbei – dann wurden zwei Frauen von einem Cobra-Tram der Linie 2 angefahren, das von rechts kommend aus der Haltestelle ausgefahren war. Zwei Männer konnten sich noch vor dem Tram auf die andere Seite retten, eine weitere Frau konnte rechtzeitig anhalten.
Eine damals 86-jährige Frau und ihre Tochter wurden vom Tram erfasst und zu Boden geschleudert. Die 86-Jährige erlitt unter anderem einen Bruch der Schädeldecke und Brüche einer Rippe und des hinteren Beckenrings. Sie musste zwölf Tage im Spital behandelt werden. Ihre Tochter erlitt einen Schenkelhalsbruch und lag vier Tage im Spital; ihr musste später ein künstliches Hüftgelenk eingesetzt werden.
Versicherung der VBZ lehnte Haftung ab
Der fallführende Staatsanwalt wollte die Strafuntersuchung zweimal mit Einstellungsverfügungen beenden. Zweimal wurde er vom Obergericht auf Beschwerde der beiden Frauen hin zurückgepfiffen. Schliesslich erhob er im Dezember 2024 doch noch Anklage. Er verlangt einen Schuldspruch für den 49-jährigen Trampiloten wegen fahrlässiger einfacher Körperverletzung und eine bedingte Geldstrafe von 70 Tagessätzen à 140 Franken (9800 Franken).
Der 49-jährige Trampilot arbeitet heute noch als solcher bei den VBZ. Bei der Befragung vor Gericht macht er nach über sieben Jahren keine Aussagen mehr und verweist auf seine Angaben in der Untersuchung. In seinem Schlusswort hält er fest: «Ich sehe auch nach sieben Jahren nicht, dass ich irgendetwas falsch gemacht hätte.»
Der Rechtsanwalt der beiden Frauen betont vor Gericht, dass es nicht um einen Rachefeldzug gehe, sondern um die zivilrechtliche Haftung. Diese sei damals von der Versicherung der VBZ nicht anerkannt worden. Neben Schadenersatz beantragt er Genugtuungssummen von 40 000 Franken für die Tochter und mindestens 10 000 Franken für die Mutter. Er kritisiert die Arbeit des Staatsanwalts als «unprofessionelles Fallmanagement».
Entscheidend für den Fall sei das Verhalten des Trampiloten, nachdem er aus der Haltestelle losgefahren sei. Es sei unbestritten, dass er die Fussgängergruppe wahrgenommen habe. Er habe die Rassel betätigt. Trotzdem habe er das Tram von 14 km/h auf 20 km/h beschleunigt. Um diese Beschleunigung, die bei der Datenauswertung einwandfrei festgestellt worden sei, gehe es. Sie sei absolut unverständlich.
Für den Trampiloten sei die Gruppe klar erkennbar gewesen. Er habe nicht davon ausgehen können, dass sie ihn gesehen habe und sich richtig verhalten würde. Deshalb sei von einem pflichtwidrigen Verhalten auszugehen.
Die Verteidigerin beantragt einen Freispruch. Auch sie kritisiert die Untersuchung, die von prozessualen Versäumnissen begleitet gewesen sei. Nach dem zweiten Obergerichtsentscheid seien Zeugen erst im November 2023, also knapp sechs Jahre nach dem Unfall, befragt worden. Die überlange Verfahrensdauer bestrafe auch den Beschuldigten, ihm sei dafür eine Genugtuung von 1500 Franken zuzusprechen.
Sie beschreibt, wie die Trampilotin des wartenden 8er-Trams nach dem Unfall Angst gehabt habe, auszusteigen, weil die zwei Männer der Gruppe völlig «ausgeflippt» seien und aggressiv gegen das 2er-Tram geschlagen hätten. Dem Beschuldigten könne aber strafbares Verhalten nicht nachgewiesen werden. Der Fehler liege klar bei den Fussgängern, die nach der Geburtstagsfeier wohl alkoholisiert gewesen seien. Der Tramwarnblinker habe für sie gelb geblinkt.
Der Trampilot habe die Gruppe zwar gesehen. Entscheidend sei aber gewesen, dass diese auf dem Trassee zunächst wieder umgedreht habe. Deshalb sei er davon ausgegangen, dass sie das Gleis nicht überqueren würden, und habe beschleunigt. Auch die Tramwagenführerin des 8er-Trams habe zweimal gerasselt, um die Gruppe auf das entgegenkommende 2er-Tram aufmerksam zu machen.
Die Gruppe habe dann aber trotzdem wieder die Richtung gewechselt und habe die Gleise weiter überquert. Sie habe sich völlig «irrational» verhalten. Alles sei in Millisekunden abgelaufen. Dass der Trampilot das widersprüchliche Verhalten der Fussgängergruppe nicht habe einschätzen können, sei ihm nicht vorzuwerfen. Er sei ja kein Hellseher.
Keine Sorgfaltspflichtverletzung
Die Einzelrichterin kommt zu einem vollumfänglichen Freispruch. Der Staatsanwalt habe wohl nur «in dubio pro duriore» angeklagt, um nicht noch eine dritte Rückweisung durch das Obergericht zu riskieren. Vor Gericht gelte hingegen der Grundsatz «in dubio pro reo». Die Tramwagenführerin des 8er-Trams habe die Angaben des Beschuldigten bestätigt, wonach die Fussgängergruppe zweimal plötzlich die Richtung gewechselt habe. Sie seien «direkt ins Tram gerannt», habe sie ausgesagt.
Es müsse davon ausgegangen werden, dass sich die Gruppe beim Losfahren aus der Tramhaltestelle noch nicht auf den Gleisen befunden habe. Die Fussgänger, die «in guter Stimmung gewesen» seien, hätten offensichtlich dem 2er-Tram wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Der Trampilot habe aber davon ausgehen müssen, dass ihn die Gruppe gesehen habe, weil sie zunächst wieder zurückgetreten sei.
Aus seiner Sicht hatte die Gruppe die Überquerung abgebrochen. Für einen Trampiloten sei dies eine alltägliche Situation. Er habe zu diesem Zeitpunkt keinen Anlass gehabt, die Notbremse zu betätigen, sonst müsste er ständig die Notbremse betätigen.
Zwischen dem Betätigen der Rassel und dem Stillstand des Trams seien nur vier Sekunden vergangen. Das sei eine kurze Zeit. Das Verhalten der Gruppe sei für den Trampiloten nicht im Voraus erkennbar gewesen. Er habe keine Sorgfaltspflichtverletzung begangen. Eine Genugtuung erhält der Freigesprochene aber nicht.
Urteil GG240284 vom 15. 4. 2025, noch nicht rechtskräftig.