Die eine ist blind, die andere gelähmt. Laila Grillo und Angela Fallegger zeigen, wie Klettern mit Behinderung geht. In Alpinistenkreisen lösen sie damit aber auch Missgunst aus.
Laila Grillo steht am Fuss einer zerklüfteten Felswand. Sie schnalzt mit der Zunge, wartet auf das Echo. Sie sagt: «Die Wand beginnt sanft, sie ist nicht senkrecht.» Dann beginnt sie zu klettern.
Grillo, 33 Jahre alt, ist blind: Sie hat das Augenlicht als Fünfjährige verloren. Ihr grösstes Hobby ist Klettern.
Unten an der Wand sitzt Angela Fallegger auf einem Felsbrocken und schaut ihrer Kollegin zu. Fallegger, 34 Jahre alt, trägt ebenfalls Klettergurt und Helm. Die Beine sind ausgestreckt, die Tessiner Frühlingssonne wärmt den Stein unter ihr. Doch das spürt Fallegger nicht; vor neun Jahren stürzte sie mit dem Gleitschirm ab, seitdem ist sie von der Hüfte abwärts gelähmt.
Grillo und Fallegger gehören zum Para-Climbing-Team des Schweizer Alpenclubs (SAC). Sie klettern gemeinsam mit anderen Sportlerinnen und Sportlern mit Beeinträchtigung. Einige sind wie sie blind oder gelähmt, andere leiden an multipler Sklerose, einer Athletin fehlt der linke Arm, einem anderen das rechte Bein.
Im Tessiner Dörfchen Arcegno nehmen Grillo und Fallegger an einem Kletterlager des Behindertensportverbands Plusport teil. Im Training und an den Wettkämpfen klettern die beiden Frauen in der Halle, im Lager draussen im Klettergarten. Für die meisten Hobbykletterer, die nach Arcegno kommen, beginnt die Herausforderung an der Wand.
Grillo und Fallegger haben schon viel früher zu kämpfen.
Auch Blinde haben «Höhenangst»
Der Weg zum Klettergarten schlängelt sich durch einen Kastanienwald, führt über Wurzeln und Felsen, überquert ein Bächlein. Es ist ein kurzer Weg, doch für Fallegger und Grillo ist er beschwerlich. Weil er nicht rollstuhlgängig ist, musste Fallegger ihren Rollstuhl auf einem Parkplatz zurücklassen. Von einem Lagerleiter wird sie huckepack getragen.
Grillo hält sich an einer Begleitperson fest, die ihr den Weg beschreibt, sie auf Hindernisse wie herunterhängende Äste, Stufen oder Steinbrocken hinweist. Doch meistens hat Grillo diese zuvor bereits mit dem Blindenstock ertastet. In einem Bachbett verliert sie kurz das Gleichgewicht, sie rutscht aus, fängt sich aber gerade noch rechtzeitig mit den Händen auf.
Beim Klettergarten angekommen, strahlt Grillo, und ihre Lachfalten vertiefen sich. Sie sagt: «Es riecht herrlich nach Wald.» Im Alter von fünf Jahren ist sie vollständig erblindet. Weil sie drei Monate zu früh auf die Welt gekommen war, bekam sie im Spital zusätzlichen Sauerstoff. Die Sauerstoffzufuhr war zu hoch dosiert, Grillos Netzhaut wuchs nie an – es war eine Frage der Zeit, bis sie sich ablöst.
Laila Grillo ist blind und klettert. Für sie ist ihre Beeinträchtigung ein Teil von ihr, sie hat gelernt, mit ihr umzugehen.
Grillo hat sich an das Leben ohne Augenlicht angepasst: Die übrigen Sinne sind geschärft, sie hört, riecht, schmeckt und fühlt, was vielen Sehenden entgeht. Im Wald hört sie den Wind rauschen, den Bach plätschern, die Vögel zwitschern, die Insekten surren, in der Ferne Kinder lachen. Eine Lagerteilnehmerin sagt: «Es ist verrückt, was Laila alles hört.»
Grillo steigt in den Klettergurt, knotet sich mit einem Achter an das Sicherungsseil, ein Lagerleiter kontrolliert den Knoten. Nun krabbelt sie zur Felswand; als die flache Passage vorbei ist, steht sie auf. Mit den Händen macht sie eine Bewegung, die der eines Scheibenwischers ähnelt. Sie ertastet an der Wand die Griffe für die Hände und Füsse.
Wenn sie am Felsen nicht mehr weiterkommt, ruft ihr der Lagerleiter, der sie sichert, Uhrzeiten zu. So weiss Grillo, in welche Richtung sie greifen muss. Tönt das Echo ihrer Stimmen hohl, ist das ein Zeichen, dass die Wand steil ist. Grillo wird mulmig zumute – auch Blinde haben Höhenangst.
Grillos Hände graben sich in eine Felsspalte, sie versucht sich hochzuziehen. Doch sie verliert den Griff, klammert sich ans Seil; der Sicherungspartner zieht es straff und verhindert so, dass sie auf den harten Untergrund stürzt. Noch einmal gutgegangen.
Hobbybergsteiger werteten ihre Leistung ab
Grillo ist im Kanton St. Gallen aufgewachsen, heute arbeitet sie auf einem Gemüsehof im Kanton Basel-Landschaft in der Administration. So verdient sie sich auch das Geld für ihre grosse Leidenschaft, das Bergsteigen. Sie klettert, fährt Ski, macht Hochtouren, nimmt an Bergläufen teil. Sie erklimmt Gipfel, deren Zustiege über Gletscher und Felsen führen. Grillo will hoch hinaus, eine Alpinistin wie alle anderen sein. Damit eckt sie an.
Bis vor kurzem fehlten im Schweizer Leistungssport Kletterangebote für Personen mit körperlicher Behinderung. 2022 gründete der SAC gemeinsam mit Plusport das Paraclimbing-Team – Inklusion soll auch in der Kletterwand stattfinden. Im vergangenen Jahr fanden in Bern die Kletter-Weltmeisterschaften statt; zum ersten Mal kletterten dort auch Personen mit Behinderung. Fallegger wurde in ihrer Kategorie Sechste, Grillo qualifizierte sich nicht für die WM.
Grillo will den Behindertensport zwar sichtbarer machen. Doch wahre Inklusion bedeutet für sie, mit Nichtbehinderten in die Berge zu gehen. Und dabei ist sie in der Vergangenheit oft auf Hürden gestossen. Sie erzählt, dass manche Organisatoren von Hochtouren sie nicht mitnehmen wollten: «Es hiess, ich sei zu langsam, es sei zu gefährlich für mich.»
Aber Grillo ist umtriebig, so schnell gibt sie nicht auf. Sie organisierte ihre eigene Tour und bestieg im vergangenen Herbst das Allalinhorn im Wallis. In den Bergen muss sich Grillo auf Sehende verlassen, deshalb begleiteten sie der Bergführer Ralf Weber und eine Freundin. Mit Steigeisen, Seil und Wanderstöcken überwanden sie Schneefelder, Gratpassagen, Felswände. Gemeinsam schafften sie es bis auf den Gipfel, 4027 Meter hoch.
Das Schweizer Fernsehen dokumentierte Grillos Besteigung des Allalinhorns. Weber, der Grillo damals geführt hatte, erzählt, nach der Ausstrahlung der Doku hätten viele Bergführer seine Arbeit in den Vordergrund gestellt. Er findet das befremdlich: «Ich profitiere ja auch davon. Durch Touren wie jene mit Laila lerne ich, das Gelände neu zu lesen», sagt er. Seit Jahrzehnten begleitet Weber Personen mit geistiger oder körperlicher Beeinträchtigung in die Berge. Für ihn sind der Mensch, das Erlebnis und die Freude wichtiger als die Geschwindigkeit oder Schwierigkeit einer Tour.
Erschreckend seien die Reaktionen einiger Hobbybergsteiger gewesen, sagt Weber: «Viele fragten: ‹Wieso müssen Blinde auch das noch machen?›» Diese Ignoranz schmerzt ihn – er versteht sie nicht. Weber sagt: «Vielleicht denken diese Leute, dass ihre Leistung am Berg nun plötzlich weniger Wert hat.» Er spricht von Ableismus – also jener Diskriminierung, bei der Personen mit einer Behinderung ihre geistigen oder körperlichen Fähigkeiten abgesprochen werden.
Lieber verliert sie ihre Beine als ihr Leben
Grillo hat sich mittlerweile mit staksigen Schritten am Felsen abgeseilt. Nun ist Angela Fallegger an der Reihe. Zuerst aber muss sie sich zur Kletterwand hieven. Ohne Rollstuhl sind die flachen Passagen für sie die schwierigsten. Sie sitzt auf dem Felsen, schiebt sich mit den Armen nach vorne. Die ersten Meter der Kletterwand beginnen flach, Fallegger stützt sich auf ihren Knien und Händen ab. Grillo ruft: «Allez Angi.»
Am 10. April 2015 stürzte Fallegger in ihrem Heimatkanton Obwalden mit dem Gleitschirm ab. Sie donnerte mit 80 Kilometern pro Stunde 20 Meter in die Tiefe. Der Aufprall war grauenhaft. Sie hatte höllische Schmerzen; der linke Fuss war abgetrennt, der Rücken gebrochen. Fallegger, gelernte Pflegefachfrau, wusste sofort: Wenn sie das überlebt, wird sie nie mehr laufen können. Damals war sie 25 Jahre alt.
In der Felswand ist Fallegger ein lila Punkt, alles ist farblich aufeinander abgestimmt; die Leggins, die Knieschoner, das Top, die Haare. Schmetterlings-Sticker und der Schriftzug «Be Positive» zieren ihren Kletterhelm. Es sind dieser Kämpfergeist, diese positive Grundhaltung, die Fallegger helfen: Sie macht das Beste aus ihrer Situation. Dank Aufbautraining kann Fallegger die Oberschenkelmuskulatur aus der Hüfte ansteuern.
Für Angela Fallegger war das Klettern nach dem Unfall eine Therapieform, heute ist es ihre Leidenschaft.
Heute ist der 10. April für sie wie ein zweiter Geburtstag, einer, den sie mit gemischten Gefühlen feiert. Vor neun Jahren begann für sie ein neues Leben. Einiges ist gleich geblieben, der Partner entschied sich, bei ihr zu bleiben, sie behielt ihre Anstellung als Pflegefachfrau. Aber im Alltag bekommt sie zu spüren: Sie ist nicht mehr «normal». Manchmal wird sie schief angeschaut, manchmal mitleidig. Vermeintlich Selbstverständliches wird zur täglichen Herausforderung. Etwa der Gang zur Toilette: Fallegger spürt auch heute ihre Blase nicht, doch wenn sie ihren Unterbauch abtastet, weiss sie, ob die Blase voll ist.
Fallegger hätte mit ihrem Schicksal hadern können, doch sie ist dankbar, dass sie lebt. Sie weiss, wie das Umfeld leidet, wenn jemand plötzlich nicht mehr da ist; ihre Mutter erlag einer Krebserkrankung. Sie sagt: «Lieber verliere ich die Beine als mein Leben.»
Fallegger klettert mit den Armen, die Beine hält sie angewinkelt, die Knie zeigen gegen aussen, so erreicht sie etwas mehr Stabilität. Sie weiss nie, ob sie stabil im Felsen steht, denn sie spürt ihre Füsse nicht. Sie könnte jederzeit fallen. Sie kompensiert die fehlende Kraft in den Beinen mit ihrem starken Oberkörper.
Die Lagerteilnehmerin Sarah Longhi, ebenfalls im Rollstuhl, erklärt der blinden Grillo, wie Fallegger klettert. Sie nimmt dafür Grillos Hände und Beine, bringt sie in die gleiche Position wie bei Fallegger. Grillo sagt: «Das ist unglaublich. Als würde Angi die ganze Zeit Klimmzüge machen!» Ihr ergehe es gleich, sagt Longhi: «Für mich war es lange unvorstellbar, dass eine blinde Person klettert. Wir bewundern uns gegenseitig.»
Die Frauen haben Verständnis für die Situation der jeweils anderen, warten geduldig, fragen neugierig, wie es der anderen mit ihrer Behinderung ergeht. Im Paraclimbing-Team erleben sie Hilfsbereitschaft und Offenheit – im Alltag vermissen sie diese Dinge manchmal.
Dann wagt sich Laila Grillo an den Vorstieg, sie klettert die Route als Erste, muss das Seil durch die Haken an der Wand führen. Seit Jahren ist sie nicht mehr im Vorstieg geklettert. Wenn sie fällt, dann sind es mehrere Meter.
Ein Lagerleiter sagt die Haken an, Grillo ertastet sie mit den Händen, hängt das Seil ein. Sie klettert elegant und bedacht; der Körper ist nahe am Felsen, die Zehenspitzen sind gestreckt wie bei einer Ballerina-Tänzerin. Grillo kommt unversehrt oben an. Sie jubelt.