Karin Hofer / NZZ
Der Psychoanalytiker und der Medienpionier sind seit langem befreundet, beide arbeiten immer noch. Ein Gespräch über das Älterwerden, Loslassen und die Frage, wie sie dereinst gehen möchten.
Herr Schawinski, Sie werden in wenigen Tagen 80. Sie, Herr Acklin, sind im Februar 80 geworden. Was hat sich seither geändert, worauf muss sich Herr Schawinski vorbereiten?
Jürg Acklin: Es heisst immer, man sei so alt, wie man sich fühle. Doch zum ersten Mal habe ich gemerkt, dass die Zahl des Alters und die Selbstwahrnehmung etwas miteinander zu tun haben. Man steigt auf einen Berg, und ist man oben, ist man 80. Schaut man von dort in die Weite, gibt es keinen wirklichen Horizont mehr. Der Horizont verflüchtigt sich, und man läuft ab jetzt vorsichtig ins Alter hinein. Das ist das eine.
Was ist es noch?
Acklin: Philip Roth, der amerikanische Schriftsteller, hat gesagt, das Alter sei ein Massaker. Ich habe lange gedacht: von mir aus, schriftstellerische Freiheit. Aber ganz so falsch liegt er nicht. Geht man gegen 80, ist das Alter nicht mehr wie ein Manöver im Militärdienst, sondern es ist jetzt der Ernstfall. Es wird hin und wieder tatsächlich eine Kugel abgefeuert. So habe ich es erlebt, als ich vor zwei Jahren eine beidseitige Lungenembolie erlitten habe. Inzwischen geht es mir wieder gut, aber es war knapp.
Haben Sie Ihre Hinfälligkeit gespürt?
Acklin: Mein Körper, der immer ein guter Kamerad war, sogar ein Freund, hat mich plötzlich im Stich gelassen. Das hat mich beeindruckt. Man muss dann zu diesem Kameraden wieder ein gutes Verhältnis herstellen.
Wie schauen Sie Ihrem 80. Geburtstag entgegen, Herr Schawinski? Kennen Sie das, was Herr Acklin beschreibt?
Roger Schawinski: Alter ist ein unpräziser Begriff. Jeder wird älter, aber was sich verändert, ist individuell verschieden. Die meisten meiner bisherigen Fähigkeiten konnte ich noch bis zu einem gewissen Grad erhalten. Mich hat schockiert, als ich gehört habe, dass Kardinäle ab 80 den Papst nicht mehr wählen dürfen, weil sie offenbar nicht mehr urteilsfähig sind. Es wird dort von aussen eine Grenze festgesetzt, wann man als alt gilt. Diesem Ansatz verweigere ich mich. Unsere Generation hat schon bisher alles anders gemacht als die Generation vor ihr. Also wird das wohl auch im nächsten Jahrzehnt der Fall sein.
Welchen Unterschied macht es, ob man 60 oder 80 wird?
Acklin: Ich habe mit 60 gesagt, ich habe den Gong des Alters gehört. Jetzt ist es nicht mehr der Gong, jetzt bin ich mittendrin. Ich habe einen Grundoptimismus, ein grosses Vertrauen ins Leben. Das wird nun geprüft. Man ist auf dem Prüfstand mit seinem Vertrauen und muss aufpassen, dass man nicht resigniert. Viele in unserem Alter resignieren, werden bitter, empfinden das Leben als Zumutung. Man wird plötzlich auch als älter wahrgenommen. Das ist das Problem: Auch wenn man sich fit und lebendig fühlt, sieht man für andere nicht mehr so aus.
Schawinski: Wir 1945er sind die allererste Altersgruppe der Generation, die später als Baby-Boomer bezeichnet wurde. Wir haben unsere Welt selbst geschaffen. Da ich seit vielen Jahren in der Öffentlichkeit stehe, habe ich immer eine gewisse Verantwortung gefühlt, als «role model» für meine Generation zu dienen, indem ich mich auch mit zunehmendem Alter noch fit halte, geistig, körperlich, emotional, gesellschaftlich. So mache ich hoffentlich auch anderen Leuten Mut, die vielleicht nicht so viel Glück hatten mit ihren Genen oder den Lebensumständen. Man kann uns nicht einfach als alte weisse Männer in den Schrank stellen, wie es diese völlig vermaledeite Identitätsbewegung versucht hat.
Diese Etikettierung scheint Sie zu beschäftigen, nicht zum ersten Mal regen Sie sich darüber auf. Hat diese Betitelung nicht an Kraft eingebüsst?
Schawinski: Das ist noch nicht vorbei. Man schaut nicht mehr das Individuum an, sondern Menschen werden aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Herkunft oder Hautfarbe einsortiert, wie man es aus totalitären Staaten kennt. Bei den Nazis waren es die Juden, bei den Bolschewiki die Kulaken. Man hatte das Gefühl, das hätten wir hinter uns, jetzt ist das aber plötzlich unter dem Titel Cancel-Culture, Postkolonialismus, Diversität und #MeToo wieder aufgekommen. Das nervt mich.
Wie ist das für Sie, Herr Acklin?
Acklin: Mir ist das gleichgültig. Ich fühle mich nicht betroffen. Aber es ist natürlich eine absolut diskriminierende Bezeichnung. Die Männer, die ich in meiner Praxis als Psychoanalytiker sehe, sind selten grusige, sich heldenhaft gebende Männer, sondern ich sehe verzweifelte Alte, die irgendwie überleben wollen und die grosse Angst haben, dass sie dement werden könnten oder ihnen sonst etwas Schlimmes widerfährt.
Sie kennen sich schon lange. Wie haben Sie sich angefreundet?
Schawinski: Jürg ist mir aufgefallen als interessanter Mann, der Psychoanalytiker und gleichzeitig Schriftsteller ist. Als ein Roman von ihm erschienen ist, habe ich ihn in meine Talk-Sendung «Doppelpunkt» eingeladen.
Acklin: Anlass war mein Roman «Tangopaar». Ich war sehr aufgeregt. Ich habe vor der Sendung den Autor und Journalisten Dieter Bachmann getroffen und ihm gesagt, dass ich zu Schawinski ginge. Und er: «Da musst du aufpassen, so hart wie der fragt.» Man werde an die Wand gedrückt. Es ging dann aber alles gut. Roger und ich fanden heraus, dass uns beiden die Schauspielerin Jean Moreau gefällt und wir das gleiche Auto fahren, einen Lancia. Da war der Bann gebrochen.
Wann war das?
Acklin: Das war 1994, vor über dreissig Jahren. Mein nächster Roman «Froschgesang» hat dir dann aber nicht mehr gefallen. Da ging es um zwei alte Leute, die am Sterben sind und sich wie wahnsinnig dagegen wehren.
Schawinski: Ich fand es ein bisschen larmoyant und negativ behaftet. In jener Zeit habe ich mich ganz anders ausgerichtet. Ich habe mit 55 ein Buch geschrieben, «Lebenslust bis 100». Damals habe ich mich zum ersten Mal mit dem Thema Alter beschäftigt, bevor es unter dem Begriff Longevity trendy wurde. Jetzt, 25 Jahre später, sind wir beide noch immer relativ munter.
Acklin: Meine Protagonisten sind aber nicht einfach untergegangen, sondern haben sich gegen die Zumutungen des Alters gewehrt. Gewissermassen wie wir. Jetzt sind wir selber betroffen.
Was unterscheidet Sie von der Generation Ihrer Väter, als diese in dem Alter waren, in dem Sie nun sind?
Schawinski: Das Bild von meinem Vater mit 80 ist das von einem alten Mann. In dem Alter machte man damals keine grossen Reisen mehr, bewegte sich nicht in einem lebendigen sozialen Umfeld. Die Türen gingen laufend zu. Wir aber haben noch immer die Möglichkeit, neue Türen zu öffnen, und tun das auch, ohne das Gefühl zu haben, dem Ende entgegenzutaumeln.
Acklin: Du hast vor zehn, fünfzehn Jahren gesagt, als wir über das Älterwerden gesprochen haben: Es gehe jetzt nur noch ums Ausröllelen. Wenn man schaut, was du seither alles gemacht hast, kann von Ausrollen keine Rede sein.
Und bei Ihnen?
Acklin: Bei mir hat es zwei Seiten. Ich habe eine wesentlich jüngere Frau und einen Sohn, der 21 ist. Wenn ich mit ihm diskutiere, und wir diskutieren hitzig, dann bin ich noch auf der Autobahn. Aber wenn ich für mich allein bin und lese, was ich täglich ausgiebig tue, merke ich schon, dass ich empfindlicher geworden bin, reizbarer. Statt auf der Autobahn bin ich jetzt öfters auf dem Feldweg unterwegs.
Wie sieht dieser Feldweg aus?
Acklin: Da ist eine stärkere Nachdenklichkeit. Ich bin mehr nach innen gekehrt, mehr auch in der Vergangenheit. Zum Glück sagt mein Sohn jeweils: «Du bist bald wie ein alter Mann im Tram.» Das holt mich wieder in die Gegenwart. Ich finde das Bild sehr schön, Roger, mit den sich langsam schliessenden Türen deiner Eltern. Das ist bei dir und mir auch so. Aber wir können noch etwas besser gegenhalten. Die Türen knarzen manchmal ein bisschen, aber man kann sie doch noch öffnen.
Dennoch hört man bei Ihnen eine Melancholie heraus.
Acklin: Was ich sagen will: Es ist angenehm, noch mit so viel Energie und Wasserverdrängung unterwegs zu sein, etwa, wenn man am Bahnhof durch die Menschenmenge gehen muss. Es geht aber auch darum, nicht bitter zu werden durch die Verluste, die man erleidet. Die sind da. Aber unsere Generation ist nicht daran gewöhnt. Wir haben gestaltet, vorwärtsgemacht, studiert und sofort eine Stelle bekommen, es war wurst, was wir studiert haben. Wir sind es nicht gewohnt, abzubauen, also eben auszuröllelen. Wir müssen abbauen, oder nennen wir es von mir aus Rückbau. Wie machen wir das, ohne zu resignieren?
Haben Sie eine Antwort?
Acklin: Ich bin, je älter ich geworden bin, ein Stück weit desillusionierter geworden, aber nicht resigniert. Mir sind einige Illusionen genommen worden, übrigens auch politisch. Ich bin realistischer, als ich es als junger Mann war, und dies in einem guten Sinn.
Schawinski: Ich hatte immer das Gefühl, der glücklichsten Generation der Menschheitsgeschichte im besten Land der Welt anzugehören. Wir haben gedacht, das würde immer so weitergehen. Seit einigen Jahren wissen wir, dass das nicht so ist, dass die Welt seit dem 24. Februar 2022 und dem 7. Oktober 2023, aber auch durch die Wiederwahl von Donald Trump eine andere ist. Die Frage ist, welche Rolle wir in dieser Welt noch spielen können.
Haben Sie Angst, keine Rolle mehr zugewiesen zu bekommen, nicht mehr gebraucht zu werden?
Schawinski: Philipp Roth hat nicht nur gesagt, dass das Alter ein Massaker sei. Er hat auch beschrieben, wie er, oder einer seiner Romanhelden, unsichtbar geworden sei. Wenn er dem Strand von Venice Beach in Los Angeles entlanggehe, würden ihn die Leute nicht mehr sehen. Das, was Frauen in viel früherem Alter erleben, erleben auch ältere Männer, selbst so berühmte wie Philip Roth. Ich bin mir bewusst, dass es auch mir so ergehen wird. Das sage ich ohne Bitterkeit.
Acklin: Wir haben immer noch eine wichtige Aufgabe. Auch ich fing an, zu zweifeln, ob die Aufklärung noch weitergeht bei dem, was auf der Welt geschieht. So hat es Max Frisch einmal formuliert. Aber ich brauche für mich selber die Hoffnung, dass es weitergeht, auch für meine Kinder und Enkel. Ihnen eine Zuversicht mitzugeben, das sehe ich als unsere Aufgabe an. Den Jungen soll die Zukunft nicht verbaut werden, indem man sagt, die Welt sei dem Untergang geweiht.
Schawinski: Dennoch könnte es für meine Kinder und Enkelkinder schwieriger werden, als es das für uns Glückskinder war.
Im Rückblick verklärt man vieles. Auch Sie beide wurden in einer schwierigen Zeit geboren. In Ihrem Geburtsjahr 1945 wurde der Zweite Weltkrieg beendet. Wie hat Sie das geprägt?
Acklin: Wir haben noch den Zweiten Weltkrieg im Hintergrund. Ich bin mit meinen Eltern 1949 nach Deutschland und Holland gefahren, und ich sehe die Krüppel noch vor mir. Das hat mich geprägt fürs Leben. Ich erkenne die jetzigen Schwierigkeiten, mit denen müssen wir umgehen, aber es nützt nichts, wenn wir dem dystopischen Denken verfallen. Das ist wohlfeil. Wenn wir die Dystopie aufblähen, besteht die Gefahr, dass Leute davon profitieren, von denen wir nicht regiert werden wollen.
Schawinski: In der Generation vor uns steckt noch der Zweite Weltkrieg, selbst wenn sie während des Krieges Kleinkinder waren. Das ist bei uns anders. Ich sage es auf eine lockere Weise: Jene, die vor uns kamen, konnten später nie Rock’n’Roll tanzen. Wir schon.
Acklin: Wie meinst du das?
Schawinski: Die Generation vor uns hat immer noch die Schwere des Krieges in sich. Wir hingegen hatten das Gefühl, wir könnten alles erleben. Ich habe neulich den Film «Like A Complete Unknown» über Bob Dylan gesehen. Beim Song «The Times They Are A-Changin’» kamen mir die Tränen. Als wir damals diese Musik gehört haben, dachten wir: Jetzt wird alles besser. Endlich kann man den Mief der letzten tausend Jahre hinter sich lassen. Und es wurde auch vieles besser.
Acklin: Was mich betrifft, so steckt mir der Zweite Weltkrieg noch in den Knochen. Denn auch wenn man es nicht wirklich gehört hat, hat man den Jubel der Befreiung im Ohr.
Schawinski: Diese Zeit hat insofern einen grossen Einfluss auf mein Leben, als dieses einem Zufall geschuldet ist. Meine Grosseltern kamen glücklicherweise kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in die Schweiz, sie entflohen in Polen dem Antisemitismus und der Armut. Mein Vater wurde 1916 in Chur geboren. Meine engere Familie hat die Nazi-Zeit in der Schweiz überlebt. Wäre die Familie in ein anderes Land weitergereist, wäre mein Vater wohl Opfer des Holocausts geworden und ich nie geboren worden.
Sie arbeiten beide noch mit 80. Man könnte Ihnen vorhalten, dass Sie den Weg für die Jüngeren nicht freigeben wollen. Können Sie nicht loslassen?
Schawinski: Ich kenne solche Kommentare, da steckt oft Neid dahinter. Dabei gibt man als älterer Mensch doch auch seine Erfahrungen weiter und kann ein Mentor sein. Viele meiner ehemaligen Mitarbeiter erinnern mich immer wieder an einzelne Sätze, die ich ihnen mitgegeben habe, was ich längst vergessen habe. Abgesehen davon arbeitet man auch für sich selbst weiter – weil es einem guttut. Mein Vater hat immer gesagt: Höre nie zu arbeiten auf.
Acklin: Ich arbeite als Psychoanalytiker viel weniger als früher, daneben schreibe ich an meinem wahrscheinlich letzten Roman. Es geht mir so wie dir, Roger: Ich brauche das. Das Alter, also die Reife und die Erfahrung, können von Vorteil sein. Wenn meine älteren Patienten sich fertigmachen und in eine Ecke drängen lassen, weil sie es angeblich gesellschaftlich nicht mehr bringen, helfe ich ihnen, mit dieser Situation besser umzugehen. Weil ich selber älter bin, verstehe ich sie.
Schawinski: Deshalb stört mich die Regelung, dass man heute mit 65 Jahren automatisch und überall in Rente geschickt wird, obwohl die Lebenserwartung laufend steigt. Bereits in den 1880er Jahren hatte Bismarck als Erster eine Altersvorsorge installiert – und dies erst ab 70 Jahren. Damals lag die Lebenserwartung bei 44, heute liegt sie bei weit über 80. Da muss sich etwas ändern, auch aufgrund der demografischen Entwicklung. Über 65-Jährige können an vielen Orten noch einen Beitrag für sich und die Gesellschaft leisten. Die Sturheit, das 65-Jahre-Regiment durchzuziehen, ist völlig falsch.
Acklin: Wenn ich Dachdecker wäre, möchte ich aber nicht bis 70 arbeiten.
Schawinski: Die meine ich auch nicht. Aber 70 Prozent der Leute arbeiten heute in einem Büro oder im Dienstleistungssektor und nicht mehr in der Landwirtschaft oder in der Fabrik. Für sie sollte die Altersgrenze heraufgesetzt werden.
Was ist, wenn Sie merken, dass Sie geistig abbauen und so wie Joe Biden plötzlich Namen verwechseln oder ein bekanntes Gesicht, in seinem Fall George Clooney, nicht mehr erkennen?
Schawinski: Ich habe für mich eine Grenze gesetzt. Sollte ich in Interviews Namen oder Daten nicht mehr abrufen können, höre ich auf. Biden hat das ganz klar nicht gemacht. Dabei hatte er auch noch eine viel grössere Verantwortung. Nach 18 Uhr am Abend war er nicht mehr aktiv. Ich arbeite oft noch bis 1 Uhr morgens.
Acklin: Biden ist eine absolut tragische Figur, wenn ich ihn sehe, tut er mir nur noch leid. Du, Roger, bist ein Formel-1-Rennfahrer, und du fährst ein Formel-1-Auto. Solange du das noch hast, musst du es nicht im Keller aufbocken und die ganze Zeit im Leerlauf Vollgas geben. Sonst wird deine Frau wahnsinnig, und du kommst nicht weiter. Du fährst am besten weiter deine Rennen.
Das dürfte Ihnen wohltun, Herr Schawinski.
Schawinski: Das ist nett von dir, ändert aber nichts an meinem Punkt. Wenn immer weniger Leute arbeiten und für die Pension von immer mehr Leuten verantwortlich sind, geht das längerfristig nicht auf. Alle sehen das, aber es wird nichts gemacht. Dänemark setzt jetzt das Rentenalter auf 70 an. Das ist in der Schweiz offenbar nicht möglich.
Gerade stellt ein Mann die Welt auf den Kopf, oder er stösst die Welt vor den Kopf. Er ist nur ein Jahr jünger als Sie beide: Donald Trump. Auch Trump hat eine unglaubliche Vitalität und Energie. Würden Sie ihm das zugestehen?
Schawinski: Trump hat sicher gute Gene. Er trinkt keinen Alkohol, weil sein Bruder an seiner Alkoholsucht gestorben ist. Aber auch Trump hat Ausfälle. Seine Reden fallen immer weiter ab, sein Vokabular wird laufend kleiner. Nur deckt er eine Kalamität blitzschnell mit der nächsten zu. In Kaskaden von schockierenden Aussagen macht er alles nieder. So kommt er davon. Man kann gar nicht mit all dem mithalten, mit all dem Unsinn und den Lügen. Ich befürchte, dass auch sein Umfeld ihn so lange als möglich decken wird, wenn sich seine Ausfälle weiter verschlimmern.
Acklin: Im Verleugnen ist Trump grandios. Er ist permanent unter einem Adrenalinstoss, noch mehr als du.
Schawinski: Ich?
Acklin: Ich meine bezüglich seines öffentlichen Auftretens. Wenn man ihn aber genau anschaut, sieht er plötzlich älter aus. Dabei ist er ein junger Mann von 78 Jahren.
Schawinski: Nächste Woche 79!
Acklin: Joe Biden hat am Anfang auch noch lebendig ausgesehen, und plötzlich kommt der Zerfall. Auch Trump wird irgendwann mehr Mühe haben, körperlich und kognitiv. Noch ist seine Technik, alles niederzuwalzen. Dabei sind seine Reden tatsächlich weniger stringent und oft unlogisch.
Jill Biden hat ihren Mann aus politischen Motiven geschützt und zur Tabuisierung seines Gesundheitszustands beigetragen. Würden Ihre Frauen Ihnen sagen, wann genug ist und Sie sich zurückziehen sollten?
Schawinski: Ja. Gabriella ist meine härteste Kritikerin.
Acklin: Das würde sogar mein Sohn tun. Er ist knallhart und würde mich nicht ins Messer laufen lassen. Genauso wenig wie meine Töchter, meine Frau oder mein Bruder, so hoffe ich. Ich sage aber oft: Ich werde so lange schummeln, wie es möglich ist, und bis ich wirklich dement bin. Das geht ziemlich lange gut. Doch wie ich gesagt habe: Irgendwann ist es kein Manöver mehr, sondern der Ernstfall. Die Leute sterben nicht nur, sondern werden dement. Sie müssen zusehen, wie ihr eigenes Ich zerfällt.
Dass einem Namen nicht sofort einfallen, beginnt ja schon ab 40. Das muss doch auch Ihnen häufiger passieren als früher.
Schawinski: Bei meinen Live-Sendungen weiss ich, dass ich im Moment abliefern muss und nicht erst am nächsten Morgen. Es ist eine Art Gehirn-Jogging. Sobald die Fernsehkamera läuft oder das Mikrofon angestellt ist, gehe ich in eine höhere Konzentrationsebene. Ich darf nicht in eine Situation schlittern, in der ich ins Stottern gerate. Irgendwann wird das passieren. Das ist dann für mich das definitive Zeichen, mich auszuklinken.
Acklin: Mir fällt manchmal schon ein Wort nicht ein, das kommt dann aber meistens wieder. Bei mir spielt dies eine geringere Rolle, weil ich nicht am Radio funktionieren muss. Wird man vergesslicher, muss man irgendwie damit fertigwerden.
Schawinski: Ich wurde vor kurzem zum «Samschtig-Jass» des Schweizer Fernsehens eingeladen. Ich jasse seit 60 Jahren nicht mehr, das letzte Mal in der Rekrutenschule. Ich hatte Angst, mich beim mir unbekannten Differenzler unter den Profi-Jassern am Tisch zu blamieren. Und dann wurde ich Jass-König! Das hat mich gefreut wie lange nichts mehr. In der Bandbreite meiner Ehrungen eine ganz besondere – genial. Auch in unserem Alter kann man mit etwas Glück weiterhin mentale Höchstleistungen erbringen.
Acklin: Gut zu hören, trotzdem habe ich einen Einwand. Man sollte dann schon merken, wann man ins Stöckli gehört – sich mehr Zeit zum Nachdenken nehmen und häufiger auch nach innen schauen.
Sie sind öffentliche Personen, die immer noch gefragt sind. Hören Sie nicht auf, weil Sie Angst vor dem Verschwinden haben?
Acklin: Da ist schon etwas dran. Nicht aufhören zu können, kann auch eine Angstabwehr sein. Man will nicht loslassen, um nicht zu hören, wie sich die Türen plötzlich schliessen. Solange man mit Vollgas reingeht, knallen die Türen noch auf. Die Angst, bedeutungslos zu werden, zu verschwinden und letztlich zu verlöschen, spielt also durchaus eine Rolle, wenn man nicht loslassen kann.
Wenn Sie kürzertreten würden, hiesse dies, dass tägliche Anrufe und Anfragen versiegten. Sicher keine so einfache Vorstellung?
Schawinski: Ich habe das schon einmal erlebt. Als ich Sat1-Chef war in Berlin, hatte ich pro Abend drei Einladungen zu Partys und Veranstaltungen, und als ich den Job nicht mehr hatte, kam keine einzige mehr. Das hat mir nicht geschadet, ich wusste ja, wie das läuft. Es war eine hilfreiche Vorbereitung auf die spätere Bedeutungslosigkeit. Nur für Radio Grischa kämpfe ich wieder.
Mit Ihrem neuen Radiosender wollen Sie das Radiomonopol im Kanton Graubünden brechen. Weil Sie angeblich gewisse Bedingungen nicht erfüllten, wurde Ihnen die Konzession entzogen.
Schawinski: Für dieses Projekt gebe ich noch einmal alles, so wie damals, als ich das Radio- und danach das Fernsehmonopol gebrochen habe. Nun will ich dieses hässliche Bündner-Medienmonopol brechen in der früheren Heimat meines Vaters und meiner Familie. Die Leute sagen zu mir: «Du brauchst das, zu kämpfen.»
Es belebt Sie.
Schawinski: Ich brauche es nicht, aber wenn es nötig ist, dann verkrümle ich mich nicht, sondern kämpfe eben. Auch wenn du nur 1 Prozent Chancen siehst, dass es gut kommt, musst du dieses 1 Prozent finden, und vielleicht klappt es: Das ist meine Haltung, und das hoffe ich auch in diesem Fall, bei dem ich mich ungerecht behandelt fühle von Mächten, die ich nicht einordnen kann.
Haben Sie je eine Psychoanalyse gemacht?
Schawinski: Ich habe zwei-, dreimal einen Anlauf genommen, aber es hat nicht richtig geklappt, mit keinem Therapeuten. Wahrscheinlich war ich das Problem. Im Ernst: Ich habe es versucht, weil meine Frau gesagt hat, sie könne unterscheiden zwischen Leuten, die therapiert sind, und nicht Therapierten. Ich bin jetzt halt ein nicht Therapierter, aber ich habe das Gefühl, ich brauche das auch nicht. Ich war ein geliebtes Kind. Das ist mein Glück. Ich musste all diese furchtbaren Verletzungen, die in einer Psychotherapie rauf- und runtergewälzt werden, nicht durchnehmen.
Was würde der Psychoanalytiker dazu sagen?
Acklin: Ich würde sagen, er braucht keine Psychoanalyse, er soll seine Sendungen machen. Das ist für ihn die beste Therapie.
Sie, Herr Schawinski, wurden mit über 50 noch einmal Vater, Sie, Herr Acklin, mit 60. Die Kinder werden ihre Väter als junge Erwachsene verlieren. Reden Sie zu Hause darüber?
Schawinski: Unsere Tochter Lea findet es schlimm, dass sie einen so alten Vater hat. Sie ist 27. Für mich ist es also eine doppelte Verpflichtung, noch möglichst lange fit und wach zu bleiben, damit sie den drohenden Verlust nicht so früh erleben muss.
Acklin: Meinem Sohn hat es früher Eindruck gemacht, wenn jemand in meinem Alter gestorben ist. Jetzt haben wir einen so guten Dialog, dass wir auch augenzwinkernd darüber reden können. Oder er sagt, dann eher als Ermutigung: «Schau mal, Eric Clapton, der ist so alt wie du und hat es noch voll drauf.»
Lesen Sie die Todesanzeigen in der Zeitung?
Schawinski: Vor allem die Jahreszahlen, wann jemand geboren wurde. Gerade heute waren von vier oder fünf etwa drei in unserer Altersklasse. Das gab mir zu denken.
Acklin: Das geht mir gleich. Ich sehe das Geburtsjahr 1928 und denke: nicht schlecht. Dann aber 1947, das gefällt mir gar nicht. Man ist ernst, wenn man das liest, und gleichzeitig reagiert man humorvoll darauf wie wir jetzt.
Schawinski: Aber es gibt ja viele Leute, die heute sehr alt sterben, und wenn man denkt, dass diese noch einer früheren Generation angehörten, sie sich vielleicht nicht so gut ernährt haben wie wir, nicht so viel Sport gemacht haben . . .
Acklin: . . . und trotzdem 100 geworden sind . . .!
Schawinski: . . . erzeugt das eine Erwartungshaltung. Aber ich will nicht unbedingt so lange leben wie möglich, sondern nur, wenn es mit Lebenslust verbunden ist.
Wie wollen Sie einmal gehen?
Schawinski: Wir haben über das Loslassen geredet. Irgendwann wird man ganz loslassen müssen. Ich hoffe, dass ich das mit einer Gelassenheit hinnehmen kann. Das Entscheidende ist die Stunde des Todes. Wie verhält man sich da? Kann man seinen Liebsten den Segen geben? Oder geht man verbittert? Das kann man nicht üben. Die grosse Schweizer Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross hat Tausende Menschen in den Tod begleitet, aber selber konnte sie nicht loslassen.
Manche Leute sagen, sie möchten nicht ums Sterben betrogen werden, also bewusst gehen, statt an einem Herzschlag oder in einem Verkehrsunfall zu sterben. Wie ist das bei Ihnen?
Acklin: Ich hoffe, dass ich das natürliche Sterben erlebe. Ausser, ich hätte extreme Schmerzen. Ich möchte, auf Deutsch gesagt, nicht verrecken. Man kann in Würde sterben. Manchmal liege ich morgens wach im Bett, auf dem Rücken, mit gefalteten Händen auf der Brust, und denke: So hat mein Vater ausgesehen, als er tot war. Sowohl mein Vater wie auch meine Mutter sind gut gestorben. Sie sind verlöscht am Schluss. Für mich sind sie darin Vorbilder.
Schawinski: Meine Mutter hat irgendwann gesagt: «Ich habe alles gehabt, ich kann sterben.» In ihrer letzten Stunde war ich bei ihr, und sie hat gesagt: «Du warst immer mein Sonnyboy.» Ich habe diesen Ausdruck zuvor nie gehört von ihr. Und zu meiner Frau Gabriella hat sie gesagt: «Du bist mein Schätzeli.» Dann hat sie uns den Segen gegeben und ist gestorben. Ich fand das grossartig. Wenn mir das auch gelingt, dann habe ich das Wichtigste im Leben geschafft.
Acklin: Meine Mutter war ein ebenso grosszügiger Mensch, sie gab mir das Grundvertrauen und die Stabilität, von denen ich gesprochen habe. Gerade denke ich: Ich komme von meiner Mutter her, vielleicht gehe ich wieder dorthin zurück.
Schawinski: Man muss mit sich im Reinen sein. Das ist man, wenn man weiss: Ich habe ein ehrliches Leben geführt. Da glaube ich an Karma.
Was bereuen Sie?
Acklin: Ich habe nichts verpasst, was mir wahnsinnig wichtig gewesen wäre.
Schawinski: Im Gegenteil. Ich habe viel mehr erreicht, als ich mir je erhoffen konnte, und staune selbst, wenn ich zurückschaue, was da alles passiert ist.
Alles andere würde von Ihnen überraschen.
Schawinski: Es ist so. Einen Grund zur Wehmut, dass ich die falschen Abzweigungen genommen hätte, habe ich nicht.
Wie haben Sie Ihren 80. Geburtstag gefeiert, Herr Acklin?
Acklin: Bei meinem Siebzigsten habe ich ein grosses Fest gemacht. Diesmal habe ich nur meine Frau, meine Kinder, deren Partner und meine Enkel zum Nachtessen eingeladen. Es hatte etwas Versöhnliches.
Und Sie, Herr Schawinski, wie werden Sie feiern?
Schawinski: Ich wusste nicht, ob ich meinen Geburtstag ignorieren oder zelebrieren soll. Ich habe mich entschieden, es wie immer zu machen: mit vielen geladenen Gästen, so vielen, wie im Lokal Platz haben, das ich gemietet habe. Ich werde das in zehn Jahren hoffentlich wiederholen können und werde alle Gäste schon jetzt zum 90. Geburtstag einladen.
Sie geniessen es einfach, in der Sonne zu stehen.
Schawinski: Falsch, darum geht es mir überhaupt nicht. Sondern es ist einfach noch nicht Zeit, abzudanken und zu sagen: «Es ist vorbei.» Ich sage nie: «Ich bin alt.» Ich bin älter. Das Greisenalter steht noch nicht vor der Tür.
Wann beginnt das?
Schawinski: Ich weiss es nicht. Aber solange ich nicht das Gefühl habe, ich sei ein Greis oder dass die Leute mich als Greis sehen, verwende ich das Wort «alt» nicht.
Und dann, erwartet Sie ein Leben nach dem Tod? Sind Sie gläubig?
Schawinski: Es ist eher eine Spiritualität, mit der ich mich einige Jahre befasst habe. In Esalen, im Mekka der damaligen New-Age-Bewegung in Kalifornien, habe ich erlebt, dass es noch mehr gibt als das, was wir Tag um Tag erfahren, andere Dimensionen von Wirklichkeit. Ich muss nicht jeden Tag meditieren. Aber es ist gut, zu wissen, dass das Meer von Informationen, in dem wir Tag für Tag treiben, nicht die ganze Welt ist. Es gibt noch andere Dinge, und das beruhigt mich.
Acklin: Ich bin nicht religiös. Aber ich glaube ans Leben. Insofern spielt der Tod eine grosse Rolle, weil er das Ende des Lebens bedeutet. Aber ich weiss nicht, wie es danach ist. Ich hoffe, es erwartet mich dort nichts.
Es könnte Sie ja auch etwas Schönes erwarten wie das Paradies?
Acklin: Nichts wäre schon gut genug.
Jürg Acklin ist Schriftsteller und Psychoanalytiker mit eigener Praxis in Zürich. Er hat zahlreiche Romane geschrieben, u. a. «Das Tangopaar», «Der Vater» oder «Vertrauen ist gut». Roger Schawinski gründete das erste Privatradio und den ersten privaten Lokalfernsehsender der Schweiz. Er ist Geschäftsführer von Radio 1 und Autor diverser Sachbücher. Beide Männer sind in dritter Ehe verheiratet und haben je drei Kinder.