Sie können zuschlagen, aber weinen können sie nicht. Junge Männer eifern Machos nach, die Schulen können nur zuschauen. Ein Kurs soll das ändern. Besuch im Klassenzimmer.
Die sechs Jugendlichen hocken breitbeinig auf Holzstühlen, ihre Stimmen sind tief, bei einigen wächst der erste Bartflaum. Sie sind Schüler der Sekundarschule Wetzikon, sitzen in einem Halbkreis in einem leeren Schulzimmer, einzig eine Plakatwand steht im Raum, das Papier ist unbeschrieben. Die Jugendlichen sprechen kaum miteinander, starren auf ihre Sneakers. Sie sind 15 Jahre alt, ihre Gesichtszüge haben etwas Weiches, Kindliches. Doch an diesem Vormittag müssen sie sich damit beschäftigen, wie man ein Mann wird.
Die Jugendlichen nehmen an einem Kurs über Männlichkeit teil. Kambez Nuri und Tomas Vollenweider, 31 und 30 Jahre alt, leiten den Kurs. Nuri ist Sozialarbeiter beim Kanton Zürich und unterstützt verurteilte Straftäter dabei, nicht rückfällig zu werden. Und: Er arbeitet wie Vollenweider als Gewaltberater beim Verein Mannebüro Zürich. Das Mannebüro betreut Männer, die Schwierigkeiten mit ihrer Rolle als Mann haben. Männer, die ein Gewaltproblem haben oder befürchten, eines zu entwickeln. Nuri und Vollenweider begleiten Männer, von denen die Behörden annehmen, dass sie ihre Partnerinnen und Familien gefährden.
Für Nuri und Vollenweider ist der Workshop an der Sekundarschule Wetzikon eine Präventionsmassnahme. Die Jugendlichen reflektieren den Zusammenhang zwischen Männlichkeit und Gewalt. Der Mythos des starken Mannes soll zerlegt werden. Nuri und Vollenweider haben vier Stunden Zeit.
Die Schüler verehren Machos wie Andrew Tate
Die Schulleitung hat Nuri und Vollenweider eingeladen. Sie beobachtete bei den Schülern Anzeichen für Gewaltbereitschaft. Einige hätten sich auf dem Pausenhof in Gruppen zusammengetan, sich aufgeplustert und mit dominanter Körpersprache andere Schüler eingeschüchtert. Manche hätten im Unterricht «Grenzen überschritten». Und viele würden Machos verehren; dominante, aggressive Männer, die Frauen herablassend behandeln. Zum Beispiel den amerikanischen Influencer Andrew Tate, der im Internet von Millionen gefeiert wird. Für seinen Frauenhass.
Nuri und Vollenweider kennen diese Probleme von anderen Schulen. 16 Kurse haben sie im Kanton Zürich schon durchgeführt. Sie haben den Workshop im Herbst 2022 in ihrer Bachelorarbeit in sozialer Arbeit an der ZHAW entwickelt. Er ist schweizweit einmalig.
In Wetzikon nehmen Schüler von drei Klassen der zweiten Oberstufe teil, es ist der dritte Kurs an der Schule. Der Kursleiter Nuri fragt, was die anderen Schüler über den Kurs erzählt hätten. Der Schüler Manuel sagt: «Dass es um Männlichkeit geht. In Jugendsprache.» Und dass es geil gewesen sei, besser als Schule.
Manuel heisst wie alle anderen Teilnehmer eigentlich anders. Es sind heikle Themen, die heute angesprochen werden: Gewalt, psychische Probleme, Sexualität. Das erste Gesprächsthema: Fussball.
Die Jugendlichen diskutieren darüber, ob der FC Zürich oder GC der bessere Klub sei, sie sprechen über Fankurven, interessieren sich für eine Tätowierung auf Tomas Vollenweiders Oberarm. Angeblich ein FCZ-Tattoo. Vollenweider wirkt peinlich berührt. Das sei ein Relikt aus seiner Jugend.
Dann stellen sich die Kursleiter vor. Kambez Nuri war sieben, als er 1999 mit seiner Mutter und den fünf Geschwistern aus Afghanistan in die Schweiz floh. Tomas Vollenweider erzählt von einer herausfordernden Schulzeit. Mit 21 Jahren wurde er Vater. Heute hat er zwei Kinder und ist verheiratet. Die Jugendlichen nicken anerkennend.
Nuri und Vollenweider sprechen über ihre Arbeit und erklären, weshalb sie wichtig ist. Im Januar 2023 waren in Schweizer Gefängnissen 94 Prozent der Inhaftierten Männer. Die Gewalt richtet sich häufig gegen Frauen. Diese werden siebenmal öfter Opfer eines Tötungsdelikts als Männer. Jede Woche überlebt eine Frau einen versuchten Mord, alle zwei Wochen bringt ein Mann eine Frau um. Der Grossteil dieser Frauen werden von einem Mann getötet, den sie kennen. Die Täter: der Ehemann, der Ex-Freund, der Vater.
Der Kursleiter Nuri konfrontiert die jungen Männer mit den Zahlen. Und fragt, weshalb Männer öfters die Täter bei häuslicher Gewalt sind. Der Schüler Manuel sagt: «Weil einige Frauen die Polizei rufen, sobald ein Mann die Hand erhebt.»
Sie sagen uns: «Wir können nicht weinen»
Die jungen Männer stellen Thesen auf, weshalb Männer gewalttätig werden. Weil sie öfters Alkohol oder Drogen konsumierten, weil sie aggressiver und stärker seien, weil der Vater die Mutter geschlagen habe. Weil sie irrtümlicherweise glaubten, sie seien mächtiger. Und weil sie nicht redeten.
Männer suchen seltener psychotherapeutische Hilfe auf als Frauen. Und sie begehen öfters Suizid: 2020 waren in der Schweiz zwei Drittel der Selbstmörder männlich. Das erzählen Nuri und Vollenweider den Jugendlichen. Die Schüler reagieren überrascht, einige wirken schockiert. Sie nahmen an, Frauen brächten sich öfters um. Weil sie emotionaler seien. Dann fragt ein Jugendlicher in die Runde, wer schon einmal einem Freund anvertraut habe, dass es ihm schlechtgehe. Alle verneinen. Sie sagen: Sie hätten Angst, ausgelacht zu werden.
Junge Männer, das wird klar, haben Mühe, über ihre Gefühle zu sprechen. Laut einer Studie weinen Frauen bis zu 64 Mal im Jahr, Männer höchstens 17 Mal. Dabei tun es Jungen und Mädchen bis zum 13. Lebensjahr noch ungefähr gleich häufig. Manche Experten sagen gar, Buben seien weinerlicher.
Ein Schüler in der Runde erzählt, dass vor kurzem sein Grossvater gestorben sei. Zwei Wochen konnte er nicht essen, nicht sprechen. Aber die Tränen blieben aus. Der Kursleiter Vollenweider spricht von einer inneren Blockade; die Jungs sagten, dass sie es nicht schafften, Trauer zu zeigen. «Sie sagen: ‹«Wir können nicht mehr weinen.›»
Ihr Repertoire an Gefühlen: Wut oder Freude.
Nun schreiben die Jugendlichen ihre Erwartungen an einen Mann auf das Plakat: «Beschützer», «kein Mitläufer», «wenig Haushalt», «Geld», «Erfolg», «Respekt erfahren», «keine Schwäche», «immer Lust auf Sex».
Ein Schüler kennt den Begriff Sozialisierung: Männer werden von der Gesellschaft zu Männern gemacht. Viele werden dazu erzogen, ihre Emotionen zu unterdrücken, vermeintliche Schwäche zu verstecken – «sei kein Mädchen».
Der Mythos des starken Mannes lässt wenig Spielraum. Nuri und Vollenweider versuchen, ihn zu hinterfragen. Sie sprechen über ihre Gefühle, zeigen sich verletzlich. Es sei ein Prozess, manchmal ein schwieriger. Aber er lohne sich. Ihre Beziehungen seien besser geworden: zu ihrer Familie, ihrer Partnerin, ihren Freunden. Und sie fühlten sich weniger allein.
«Wir können die Welt nicht perfekt machen»
Die letzten Minuten des Workshops. Die Diskussion ist hitzig geworden und laut. Es geht darum, grenzüberschreitendes Verhalten zu erkennen. Darf die Freundin einen kurzen Rock tragen? Mit einem anderen Mann sprechen?
Kurz gesagt: Soll man Frauen vor Männern beschützen – oder sind es die Männer, die sich verändern müssen? Die Gruppe ist gespalten.
Der Schüler Niam sagt, sein Handeln sei egal. Auch wenn er sich verändere – der Grossteil der Männer werde Frauen weiter belästigen. Manuel, der zu Beginn Frauen der Falschaussage beschuldigt hatte, widerspricht: Man könne die Welt zwar nicht perfekt machen. Aber man könne andere überzeugen. Zum Beispiel, wenn man eingreife, wenn eine Frau belästigt werde. Luca pflichtet Manuel bei. Die übrigen Schüler schweigen.
Es ist 11 Uhr 30, die Kursleiter müssen die Diskussion abbrechen. Manuel, Luca und Niam hätten gerne weiterdiskutiert. Für die Kursleiter Nuri und Vollenweider ein gutes Zeichen. Der Redebedarf sei da. Im Alltag fehle es den Jugendlichen an Räumen.
Luca will «weniger Scheiss machen», mehr über sein Handeln nachdenken. Niam will für seine Freunde da sein und sie ernst nehmen. Manuel sagt, er habe gelernt, dass er auch dann ein Mann sei, wenn er über Gefühle spreche.
Kambez Nuri und Tomas Vollenweider sind zufrieden mit dem Kurs. Die Jugendlichen seien reflektiert gewesen. In ihren eigenen Schulklassen habe damals niemand so argumentiert wie die Jugendlichen an diesem Morgen. Auch sie selber nicht.
Tomas Vollenweider sagt ganz am Schluss zu den jungen Männern: «In 15 Jahren könnt ihr den Kurs geben.»