Eine hat bereits eine Olympiamedaille gewonnen, die andere bildet mit ihrer Partnerin das Team der Stunde. Anouk und Zoé Vergé-Dépré haben eine enge Beziehung – und sind nun Konkurrentinnen.
Das Lieblingsspiel der Familie Vergé-Dépré ist Carambole, eine Art Finger-Billard. Dabei muss man auf einem Holzbrett die Spielsteine in Löcher versenken und kann auch Steine des Gegenübers aus dem Weg schnippen. Die derzeitige Situation von Anouk, 32, und Zoé Vergé-Dépré, 26, ähnelt jener auf dem Spielbrett durchaus.
Beide Schwestern haben mit ihren Beachvolleyball-Partnerinnen die Chance, sich für die Olympischen Spiele zu qualifizieren. Allerdings wird nur eine der beiden nach Paris fahren. Es ist wie auf dem Spielbrett beim Carambole: Gewinnt die eine an einem Turnier Punkte, schadet sie der anderen. Sich freuen, wenn die Schwester schlecht spielt? «Ein unangenehmes Gefühl», sagt Anouk.
Verantwortlich für die «unangenehme» Situation ist auch das dritte Schweizer Spitzenteam. Nina Brunner und Tanja Hüberli spielen seit vergangenem Sommer so stark, dass sie wohl einen der beiden Schweizer Plätze gesichert haben. Doch wie sehr sich der Kampf um das zweite Olympia-Ticket zuspitzen würde, war nicht abzusehen.
Lange waren die Stärkeverhältnisse in der Familie Vergé-Dépré klar verteilt. Die sechs Jahre ältere Anouk machte den Erfolgsweg vor, stand schon als 24-Jährige im Achtelfinal der Olympischen Spiele in Rio, Zoé hatte damals gerade erst von der Halle zum Beachvolleyball gewechselt.
In den vergangenen Monaten hat die Jüngere mit ihrer Partnerin Esmée Böbner aber den Durchbruch an die Weltspitze geschafft. Die grosse Schwester und ihre Partnerin Joana Mäder hingegen kämpfen nach Mäders schwerer Verletzung um konstante Spitzenleistungen. Vielleicht wird das einst so erfolgreiche Duo Anouk Vergé-Dépré / Mäder nie mehr an Olympischen Spielen teilnehmen.
Konkurrenzdenken kannten die Schwestern bis anhin nicht
Drei Turniere sind noch zu spielen, Stichtag ist der 9. Juni. Zoé Vergé-Dépré und Böbner liegen im Qualifikations-Ranking 460 Punkte vor Anouk und Mäder, nachdem sie am vergangenen Turnier als Dritte 1000 Punkte gewonnen haben.
Dass sich die Schwestern nur noch bedingt für den Erfolg der anderen freuen können, ist für sie eine neue Erfahrung. «Wir haben keine grosse Vorgeschichte von Konkurrenzdenken», sagt Anouk. Durch die Altersdifferenz beschäftigten sie lange unterschiedliche Themen im Leben. Sie sei «die typische ältere Schwester» gewesen und habe auf die Kleine aufgepasst. Heute sind die Bernerinnen füreinander enge Bezugspersonen.
Sie teilen die meisten Interessen, verbringen viel Zeit zusammen, zelebrieren vor allem alles, was mit der karibischen Kultur zu tun hat, vom Kochen bis zum Tanzen. Auch gehen sie zusammen in die Ferien. Der Vater ist mehrheitlich in Frankreich aufgewachsen, hat aber Wurzeln in Guadeloupe und kam wegen des Volleyballs in die Schweiz. Er arbeitet heute als Trainer und Sportlehrer. Die Töchter waren von klein auf dabei in den Turnhallen und am Beachvolleyball-Court.
Das Duell ist bei Anouk und Zoé Vergé-Dépré auch ausserhalb der Wettkämpfe präsent. Die drei stärksten Schweizer Beachvolleyball-Teams bilden in Bern eine Trainingsgemeinschaft. Der Austausch ist auch im Beruf eng. Beim Aufstieg profitierte die Jüngere von den Erfahrungen der Älteren, zum Beispiel bei Sponsoring- , Management- oder Kommunikationsfragen.
Normalerweise fiebern sie mit der andern Schwester mit, schauen deren Spiele, reden darüber, was sie im Sport und im Leben bewegt. «Es fehlt uns im Moment, dass wir das nicht in derselben Tiefe machen können», sagt Anouk, doch das sei in der momentanen Konkurrenzsituation nicht anders möglich. Zoé sagt: «Wir sind während der Turniere ziemlich distanziert, als wäre Anouk einfach eine Spielerin wie jede andere auf der Tour. Aber natürlich lösen gute oder schlechte Ergebnisse bei der anderen etwas aus.»
Sie treffen sich nach wie vor zum Essen, bloss das Thema Sport ist tabu
Über den Umgang mit der Ausgangslage haben sie nicht gesprochen. Beide taten dies automatisch auf dieselbe Art und Weise. Sie treffen sich privat nach wie vor, am letzten Turnier in Brasilien gingen sie zusammen essen. In den Gesprächen ist der Sport tabu.
Während Anouk eher die Aktive und Emotionale ist, die viele Projekte anreisst und sogleich umsetzt, ist Zoé die Gelassenere. Und für die grosse Schwester oft auch ein Ruhepol. «Es ist speziell, dass wir das momentan im Beruflichen nicht haben und das zwischen uns steht», sagen beide.
Sie sind aber überzeugt, eine so gute Basis zu haben, dass sie nach diesem Sommer wieder in allen Lebensbereichen zur alten Innigkeit zurückfinden werden.
Sosehr die Schwestern auf dasselbe Ziel hinarbeiten – für die beiden Teams ist die Ausgangslage völlig unterschiedlich. Zoé und ihre Partnerin Böbner bilden seit sieben Jahren ein Duo, also fast seit Zoés Wechsel vom Hallen- zum Beachvolleyball. Ernstzunehmende Konkurrenz für die Spitzenteams sind sie aber noch nicht lange. «Ich hatte im letzten Jahr das Gefühl, dass sie mental einen Schritt gemacht hat, das Team einen Killerinstinkt entwickelt hat», sagt Anouk über ihre Schwester. Die schwierige Comeback-Saison des gestandenen Teams Vergé-Dépré / Mäder gab den Jüngeren auch Raum für den Aufstieg.
Der Sieg am Challenge-Turnier in Mexiko und der dritte Rang auf höchster Stufe (Elite 16) in Brasilien war endgültig der Durchbruch für Zoé Vergé-Dépré. Dennoch wäre die Teilnahme in Paris bereits ein Erfolg.
Nur dabei sein ist für Mäder / Vergé-Dépré keine Option
Anders ist die Lage bei Anouk und Mäder, die seit Jahren an der Weltspitze spielen, Europameisterinnen waren und an den letzten Spielen Bronze gewannen. Mäder, damals noch unter ihrem Mädchennamen Heidrich unterwegs, hatte sich im Juni 2022 eine schwere Schulterverletzung zugezogen. 2023 gab das Team das Comeback, welches bisher durchzogen verlaufen ist. Einmal gewinnen sie Turniere, einmal scheitern sie in der Qualifikation.
Anouk Vergé-Dépré und Mäder haben beide schon zwei Mal an Olympia teilgenommen. Das verändert die Ausgangslage. «Wenn wir an die Olympischen Spiele gehen, wollen wir etwas reissen können», sagt Anouk Vergé-Dépré. Schafften sie und ihre Partnerin Mäder nun die Qualifikation, verleihe das Selbstvertrauen.
Auf der Beachvolleyball-Tour ist die Situation der Geschwister ein vieldiskutiertes Thema, weil es sie davor so noch nie gegeben hatte. Lange galt Zoé Vergé-Dépré als die kleine Schwester von Anouk. Was sie aber nicht gestört hat. «Ich habe das nie als einschränkend empfunden», sagt sie. «Die Erfolge meiner Schwester haben mir gezeigt, was möglich ist, mich gepusht und inspiriert. Dabei kam das Gefühl von Eifersucht nie auf.»
Noch ist nicht klar, welche der sechs Schweizer Spitzenspielerinnen nach Paris weitermachen. Für die nächste Olympiade bis Los Angeles 2028 könnte es neue Konstellationen geben, auch wenn die jetzigen drei Teams alle seit vielen Jahren erfolgreich sind. Vielleicht ein Schwestern-Duo? Ohne zu wissen, wie gut sie diese Saison beenden, sei es noch viel zu früh für Gedankenspiele, sagt Anouk Vergé-Dépré: «Aber es ist eine Option wie jede andere auch.»