Aus der Verbannung zum Volkshelden: Vor 100 Jahren wurde der griechische Komponist, Freiheitskämpfer und Aktivist Mikis Theodorakis geboren.
Eigentlich müsste sein beispielloser Aufstieg vom internierten Widerstandskämpfer zum Weltstar längst verfilmt sein. Denn in seinem Leben spiegeln sich Leid und Grösse des 20. Jahrhunderts – vom Wahn des Faschismus bis zur Utopie einer gerechten Gesellschaft. Und auch seine Musik, international bekannt und gefeiert, weiss vom tiefsten menschlichen Abgrund wie von der Hoffnung auf Versöhnung.
Schon als Kind liebte Mikis Theodorakis die Volkslieder der griechischen Inseln, interessierte sich für Sternbilder, frühgriechische Philosophie und träumte davon, Musik für die antiken Dramen zu komponieren. Doch 1941 beendet der Überfall der Wehrmacht jäh seine unbeschwerte Jugend. Theodorakis schliesst sich dem Widerstand an. Tagsüber studiert er Harmonielehre und komponiert, nachts kämpft er gegen SS-Schergen. Er wird Mitglied der Nationalen Befreiungsfront, gerät 1943 in Gefangenschaft und wird von der Gestapo brutal gefoltert. In dieser Zeit entsteht sein erstes sinfonisches Werk, das er «Ode an Beethoven» nennt.
Volkstümliche Hymnen
Kaum ist das Kriegsende da, schlittert Griechenland in einen Bürgerkrieg, der das Land auf Jahre spaltet. Theodorakis studiert in Athen und leistet im Untergrund Widerstand. Erneut droht sein Lebensfaden zu reissen: 1949 wird er verhaftet und auf der Verbannungsinsel Makronisos abermals gefoltert. Inmitten des Grauens konzipiert er seine 1. Sinfonie. «Das Komponieren gab mir das Gefühl, nicht nur eine Nummer zu sein», sagt er später.
Nach der Befreiung ist Theodorakis klar, dass ihm ein Leben ohne politisches Engagement unmöglich ist und das Musikstudium keinesfalls eine Flucht ins Ästhetische sein darf. Seine Stücke werden bald auch im Ausland gespielt. 1954 erhält er ein Stipendium, um in Paris bei Olivier Messiaen zu studieren. Seinen Weg will er abseits der vorherrschenden Zwölftonmusik finden.
1957 beauftragt ihn das Royal Opera House London mit einem Antigone-Ballett, das Rudolf Nurejew und Margot Fonteyn an Covent Garden uraufführen. 1958 nennt «Le Figaro» ihn den «neuen Strawinsky». Nun stehen ihm alle Türen offen, doch wie von einem unsichtbaren Faden gezogen, geht er zurück nach Griechenland. «Ich sehe meine einzige Bestimmung darin, die Wunde, die der Bürgerkrieg in den Körper meiner Heimat geschlagen hat, zu schliessen», schreibt er in seiner Autobiografie.
In Athen entwickelt er ein musikalisches Idiom, das Elemente verknüpft, die bis dahin als unvereinbar galten: Er verschafft dem Instrument des einfachen Volkes, der Bouzouki, und den kretischen Volksmelodien Einzug in die Kunstmusik. Ausserdem vertont er Verse von Iannis Ritsos und den beiden Literatur-Nobelpreisträgern Giorgos Seferis und Odysseas Elytis und erschliesst sie so für die breite Bevölkerung.
Es entstehen Chorwerke, Theatermusiken und zahlreiche Filmmusiken. Vor allem stürzt eine Flut von Liedern aus seinem Inneren: Sie erzählen vom Widerstand und von der Sehnsucht nach Freiheit, die Griechen singen sie bald als ihre neuen Nationalhymnen. Theodorakis ist Komponist, Musiker – und Aktivist. Nach der Ermordung des Politikers Grigoris Lambrakis 1963 gründet er die Lambrakis-Jugendbewegung und übernimmt dessen Sitz im Parlament. Unzählige Male marschiert der hünenhafte Mann mit den wilden Locken an der Spitze von Protestzügen.
Lebensrettender Erfolg
1964 gelingt ihm ein kompositorischer Coup, der alles verändert. Eine kurze Phrase aus zwei Tönen und einem Fingerschnipsen: Die Filmmusik zu «Alexis Zorbas» wird auf der ganzen Welt zum Ausdruck griechischer Lebensfreude und macht Theodorakis zum popkulturellen Phänomen. Die Beatles interpretieren seine Musik ebenso wie Edith Piaf, seine Platten verkaufen sich millionenfach.
Diese Popularität rettet sein Leben, als sich 1967 die Militärjunta an die Macht putscht. Theodorakis veröffentlicht sofort ein Protestschreiben und muss untertauchen. Daraufhin verbieten die Obristen seine Musik. Zum dritten Mal wird er verhaftet, man verurteilt ihn später samt Familie zu Hausarrest und interniert ihn schliesslich im Lager Oropos. Doch diesmal bleibt sein Schicksal nicht unbemerkt. Intellektuelle und Fans solidarisieren sich mit ihm, auf internationalen Druck kommt er 1970 frei, doch lebensbedrohlich an Tuberkulose erkrankt.
Mit Waffen kann er nicht mehr kämpfen, aber er verfügt über ein schärferes Schwert: Innerhalb von vier Jahren gibt er über 500 gefeierte Konzerte rund um den Globus. Er wird zur Ikone der internationalen Friedensbewegung. Für die Griechen ist Theodorakis Nationalheld und Identifikationsfigur: Er trägt die Narben des Terrors am Körper, aber seine Lieder beschwören Brüderlichkeit und Freiheit. In seinem Oratorium «Canto General» von 1974 nach Texten von Pablo Neruda verbindet er erstmals den politischen Appell und folkloristische Melodien mit der souveränen Beherrschung der grossen Form.
Die Zustimmung motiviert Theodorakis, sich zunächst als Abgeordneter, später als Teil einer neokonservativen Regierung zu engagieren, um Demokratie und Frieden zu stabilisieren. Das trägt ihm die Verachtung der radikalen Linken ein, die ihn als Verräter desavouieren. Überhaupt macht er sich mit eigenwilligen Positionen immer wieder Feinde in allen politischen Lagern. Aber Theodorakis denkt nicht in Parteien, sondern in Idealen. Noch bis kurz vor seinem Tod 2021 mischt sich der Hochbetagte in Diskussionen ein, als könne er unter Aufbietung letzter Kräfte die Verhältnisse doch noch zum Besseren ändern.
Ein neuer Herakles
Theodorakis hatte den persönlichen Traum von der Karriere als Komponist sinfonischer Musik lange zurückgestellt, um seinem geschundenen Land Selbstbewusstsein vorzusingen. Aufgegeben hatte er ihn nie. Ab 1980 schreibt er weitere vier Sinfonien und zahlreiche Opern zu antiken Dramen, die um seine Lebensthemen staatliche Willkür und gesellschaftlicher Widerstand kreisen. Das Idiom der Volksmusik, die Lieder der Kindheit, der Schmerz über das Schicksal seines Landes, all das fliesst in diese Musik ein.
Inzwischen, vier Jahre nach seinem Tod, erobert sich sein Œuvre einen Platz im Musikleben. Im Jubiläumsjahr werden die Oratorien «Axion Esti» und «Canto General» international aufgeführt, das Zorbas-Ballett ist im Opernhaus Kairo und in der Arena von Verona zu sehen. Seine Sinfonien werden von Düsseldorf bis Montreal gespielt, Wien stellt Theodorakis unter dem Motto «Legenden im Konzert» neben Verdi.
Von allen Göttern und Helden der Antike, für die sich Theodorakis begeisterte, ist ihm der unerschrockene, aber grausam leidende Herakles vielleicht am nächsten gewesen. Dieser durfte nach seinem Tod in den Olymp aufsteigen. Je mehr Theodorakis zu einer geschichtlichen Figur wird, desto mehr erscheint er selbst wie ein antiker Held, den die Götter Griechenlands zwischen tödlicher Gefahr und olympischen Höhen hin und her geschleudert haben.