Wolfgang Stephan / Historische Sammlung DB Archiv
Berlin feiert vier Tage lang seine S-Bahn mit einem Fest. Ein Blick zurück auf ein Verkehrsmittel, das Weltgeschichte geschrieben hat.
Im Sommer 1924 kündigen sich die Goldenen Zwanziger an. Die Alliierten waren von ihren hohen Reparationsforderungen an Deutschland abgerückt, Geldfluss und Handel erholten sich, die Wirtschaft zog an. Und Berlin wurde zur wohl schillerndsten Metropole der Welt: Vier Millionen Menschen lebten in der deutschen Hauptstadt und wollten sich nach dem verlorenen Krieg neu erfinden. Die Berliner Nächte wurden so lang, dass Filme, Serien und Bücher von ihnen handeln.
Die Nächte wären vielleicht kürzer und ruhiger geblieben, hätte es im Sommer 1924 nicht noch eine Neuerung in der Millionenmetropole gegeben: die Berliner S-Bahn. Seit dem 8. August 1924 bringt sie die vielen Menschen in die Stadt und aus ihr heraus. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Nun feiert die Bahn ihren 100. Geburtstag, und die Berliner würdigen sie als Kultobjekt.
«Berliner Ikone»
Die Berliner S-Bahn hat alles miterlebt: die Wilden Zwanziger, den Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg mit der Zerstörung Berlins und die Teilung der Stadt in Ost und West. Weltgeschichte passierte um sie herum, die S-Bahn fuhr weiter.
Peter Buchner, Geschäftsführer der S-Bahn Berlin GmbH, sagt: «Seit 100 Jahren begleitet und prägt die S-Bahn die Geschichte der Hauptstadt und ist selbst zu einer Berliner Ikone geworden.»
Am 8. August 1924 fuhr zum ersten Mal eine elektrisch betriebene Bahn durch Berlin. Sie fuhr vom damaligen Stettiner Bahnhof, der nun Nordbahnhof heisst, nach Bernau. Eine Strecke, für die die Bahn 22 Minuten benötigt.
Zwar hatte es schon früher Versuche gegeben, in Berlin eine S-Bahn zu betreiben, doch die Inbetriebnahme des Abschnitts nach Bernau mit einer Stromschiene und Gleichstrombetrieb gilt als wahre Geburtsstunde der heutigen S-Bahn.
Am Donnerstag beginnt deshalb das «100 Jahre S-Bahn»-Festival, mit Veranstaltungen, die sich über vier Tage strecken. Es gibt Sonderfahrten, historische Züge und Live-Auftritte von Berliner Künstlern. Einer davon, der Rapper Romano, schrieb eigens ein Lied für die Bahn.
Romano rappt: «Am Fenster stehen, die Wolken zählen, auf der Arbeit fehlen und dafür S-Bahn fahr’n.»
Berlinerinnen und Berliner, Alt und Jung, verbinden persönliche Erlebnisse mit der Bahn. Sie gehört zur Stadt wie der Fernsehturm und der Potsdamer Platz. Und jeder war schon in der Bahn unterwegs: betrunkene Partygänger, singende Strassenmusiker, elegant gekleidete Bankangestellte. Sie alle standen schon am Fenster und zählten Wolken.
Das «S» als Markenzeichen der modernen Mobilität
Die Berliner S-Bahn war die erste elektrische Bahn Deutschlands. Der jüdischstämmige Grafiker Fritz Rosen kreierte 1930 eigens ein Logo für sie. Heute ziert es S-Bahnhöfe und Züge im ganzen Land: ein weisses, bauchiges «S» auf einem runden, grünen Hintergrund. Das S-Bahn-Symbol sollte ein Markenzeichen sein, das die modernen Elektrozüge von der seit 1902 etablierten U-Bahn abhebt.
Doch obwohl jeder Nahverkehrsreisende in Deutschland das Zeichen schon gesehen hat, ist vielen unklar, was es bedeutet.
Die Bahn fuhr anfangs als «Stadtschnellbahn», die betreibende Stadtverwaltung aber wollte das Verkehrsmittel von der gebräuchlichen Bezeichnung «Schnellbahn» anderer Züge abgrenzen. Deswegen wurde festgelegt: Das «S» in S-Bahn steht seit 1930 für Stadtbahn.
1,5 Millionen Fahrgäste fahren heute laut der Deutschen Bahn pro Werktag mit der Berliner S-Bahn – auf einem laut den Angaben einzigartigen Netz: 340 Kilometer lang, mit Nord-Süd- und Ost-West-Linien und der Ringbahn, die um die Innenstadt fährt.
Doch Rainer Genilke, der Infrastrukturminister des Landes Brandenburg, sagte anlässlich des Jubiläums, die Berliner S-Bahn sei mehr als das, sie sei ein «emotional verbindendes Verkehrsmittel, das sich nicht nur in Zahlen und Fakten messen lässt».
Hört man sich nun unter Berlinern und Berlinerinnen um, löst die Bahn zwei Emotionen aus: Liebe und Hass. Die einen bezeichnen die S-Bahn als Katastrophe: Sie sei schmutzig, kaputt, zu spät oder unzuverlässig. Die anderen bezeichnen sie als ein sicheres, die ganze Stadt umfassendes Verkehrsmittel für die Menschen, die Berlin besuchen oder dort wohnen.
Doch die Bahn war nicht immer ein Netz, das die Berliner aus allen Stadtvierteln verband. Ihr Netz war, genau wie Deutschland und Berlin, keine Einheit.
Die Nationale Volksarmee der DDR besetzte in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 Stellwerke im Grenzgebiet und unterbrach die Gleise, die Ost- und Westberlin verbanden. Einige Bahnhöfe wurden sofort stillgelegt und zu «Geisterbahnhöfen».
Im November 1989 spielte sich auch in der S-Bahn Weltgeschichte ab. Die DDR lockerte ihr Reisegesetz, und die Ostberliner strömten in Richtung Westen. Die Züge der S-Bahn waren schnell überfüllt. Ab dem 2. Juli 1990, als die Grenzkontrollen zwischen den beiden Teilen Berlins endeten, fuhr die Berliner S-Bahn wieder durchgehend auf allen Strecken durch Berlin. Nach fast 30 Jahren Unterbruch.
Heute vereint sie alle Menschen der nun wieder schillernden Metropole. Bankangestellte und Punker, Nachtschwärmer und Frühschichtler – sie alle treffen sich in der S-Bahn. Die 100 Jahre nach ihrer Jungfernfahrt nichts von ihrer Bedeutung eingebüsst hat.
Peter Buchner, der Geschäftsführer der S-Bahn, sagt: «Gäbe es die S-Bahn nicht schon, wir müssten sie erfinden.» Kein anderes Verkehrsmittel könne so viele Menschen zwischen Stadt und Umland transportieren. Und dies auch noch umweltfreundlich.