Unter Ausschluss der Öffentlichkeit stand in Russland der Korrespondent des «Wall Street Journal» wegen angeblicher Spionage vor Gericht. Das Urteil hat wenig mit Justiz, aber viel mit Politik zu tun.
Am Ende ist alles verblüffend schnell gegangen. Fünfzehn Monate sass der amerikanische Journalist Evan Gershkovich, Korrespondent des «Wall Street Journal» in Moskau, unter dem Vorwurf der Spionage in Untersuchungshaft. Nun hat ihn das Regionalgericht in Jekaterinburg am Ural nach nur drei Prozesstagen hinter verschlossenen Türen am Freitag zu 16 Jahren strenger Lagerhaft verurteilt. Die Anklage hatte 18 Jahre gefordert, Gershkovich und seine Verteidiger wiesen jede Schuld zurück. Das «Wall Street Journal» und die amerikanische Regierung sprachen von einem Schauprozess, der mit einem rechtsstaatlichen Verfahren nichts zu tun habe.
Unter Ausschluss der Öffentlichkeit
Bilder von der für die Presse offenen Urteilsverkündung zeigten Gershkovich mit ernstem Gesicht, aber äusserlich gelassen. Überhaupt hatte der 32-jährige Reporter mit bewundernswerter Standhaftigkeit den guten Mut nach aussen hin bewahrt. In Briefwechseln mit seinen Freunden und Bekannten blieb er seinem Humor und seiner Zugewandtheit anderen Menschen gegenüber treu. Aber was er in den Monaten der Untersuchungshaft erst im Moskauer Lefortowo-Gefängnis, seit Juni in Jekaterinburg durchgemacht hat und mit welchen Ängsten er auf die zu erwartende Verschickung ins Straflager blickt, lässt sich daraus nicht ableiten.
Gershkovich war Ende März 2023 während einer Recherchereise in Jekaterinburg vom Inlandgeheimdienst FSB unter dem Vorwurf der Spionage festgenommen und nach Moskau gebracht worden. Sofort behaupteten der Kremlsprecher Dmitri Peskow und die Sprecherin des Aussenministeriums, Maria Sacharowa, der ordnungsgemäss als ausländische Korrespondent akkreditierte Journalist sei «in flagranti» ertappt worden. Er sei ein Spion, und den Ermittlern lägen die Beweise dafür vor.
Später präzisierte die Anklage die Vorwürfe nur geringfügig. Gershkovich habe nachweislich im Auftrag des amerikanischen Geheimdienstes CIA Informationen über den Rüstungsbetrieb Uralwagonsawod, Russlands Panzerschmiede in der Stadt Nischni Tagil nördlich von Jekaterinburg, gesammelt und sei dabei konspirativ vorgegangen. Das wiederholten seither auch weitere hochrangige Funktionäre, jüngst Aussenminister Sergei Lawrow.
Journalist in Zeiten des Krieges
Weil der Prozess – wie alle Verfahren wegen Spionage oder Hochverrats (des vergleichbaren Vorwurfs bei russischen Staatsbürgern) – hinter verschlossenen Türen stattfand und die Anwälte Gershkovichs äusserst medienscheu waren, bleibt im Dunkeln, worin genau das Vergehen des Journalisten bestanden haben soll und womit dieses angeblich belegt werden konnte. Am Donnerstag wurde von anwesenden Medien nur ein einziger Zeuge im Gerichtsgebäude gesichtet: der regionale Parlamentsabgeordnete Wjatscheslaw Wegner, den Gershkovich kurz vor der Festnahme zum Gespräch getroffen hatte.
Am wahrscheinlichsten ist die Annahme, Gershkovich sei eine Falle gestellt worden. Dass Journalisten mitunter auch als geheim eingestufte Informationen beschaffen, gehört zu ihrem Beruf. Gershkovich, als Sohn sowjetischer Einwanderer in Amerika geboren, war seit 2017 in Moskau als Reporter tätig gewesen, zunächst für die englischsprachige Zeitung «Moscow Times», später für die französische Nachrichtenagentur AFP. Er hatte sich insbesondere während der Pandemie einen Ruf als hervorragender Journalist erworben.
Auch als Korrespondent des «Wall Street Journal» war er nur seiner Aufgabe nachgekommen, über die Verhältnisse in Russland während des Ukraine-Krieges zu berichten. Jekaterinburg und die gesamte Region am Ural sind Standorte der russischen Rüstungsindustrie, die so wichtig wie nie zuvor seit 1945 geworden ist. Die amerikanischen Behörden, sein Arbeitgeber «Wall Street Journal», seine Berufskollegen und Freunde sehen in ihm einen unbescholtenen, ehrgeizigen Journalisten, der tragischerweise für die Russen zum Pfand in einem politischen Schacher wurde.
Vorbereitung eines Gefangenenaustauschs?
Seine Festnahme und der schwerwiegende Vorwurf der Spionage hatten wohl zwei Ziele. Zum einen erschütterte das Ereignis die noch im Land verbliebenen westlichen Journalisten und war diesen eine Warnung; einige entschieden sich daraufhin, ihren Sitz ins Ausland zu verlegen. Die noch in Russland tätigen Korrespondenten westlicher Länder sind stärker um ihre Sicherheit besorgt. Mit dem Vorwurf, sie seien in Wirklichkeit Spione, werden sie schnell konfrontiert.
Zum andern war von Anfang an naheliegend, dass der Kreml mit Gershkovich Russen freipressen wollte, die im Westen wegen schwerer Vergehen einsitzen. In seinem Interview mit dem amerikanischen Propagandisten Tucker Carlson hatte Präsident Wladimir Putin unverblümt eine Verbindung zum sogenannten Tiergartenmörder Wadim Krasikow hergestellt, der im Sommer 2019 in Berlin auf offener Strasse den georgischen Tschetschenien-Kämpfer Selimchan Changoschwili erschossen hatte.
Putin bezeichnete die Tat des FSB-Agenten, ohne dessen Namen zu nennen, als patriotisch. Krasikow war in Berlin zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Putin scheint viel daran zu liegen, den von seinen Diensten gedungenen Mörder zurückzuholen. Selbst über einen Austausch gegen den mittlerweile umgekommenen Oppositionspolitiker Alexei Nawalny hatte es Spekulationen gegeben. Aber bis anhin gaben die deutschen Behörden zu verstehen, dass sie gegen einen Austausch Krasikows sind.
Das Urteil gegen Gershkovich ist die Voraussetzung dafür, dass er überhaupt für einen Austausch gegen einen Russen infrage kommt. In jüngster Zeit hatten sich die Hinweise darauf verdichtet, Gespräche zwischen russischen und amerikanischen Geheimdiensten über einen Gefangenenaustausch seien im Gang.
Die unerwartete Beschleunigung des Gershkovich-Prozesses könnte bedeuten, dass dieser Austausch schon bald bevorsteht. Wer darin eingeschlossen würde, ist offen – der ebenfalls wegen Spionage verurteilte ehemalige amerikanische Marinesoldat Paul Whelan wartet schon seit seiner Verurteilung vor vier Jahren im Straflager darauf, wieder freizukommen.