Eloquent, schlagfertig, sympathisch – Christoph Kramer widerlegt das Klischee des denkfaulen Kickers. Er erklärt, wodurch sich Büchermenschen von Fussballfans unterscheiden.
Herr Kramer, bis vor kurzem kickten Sie im Stadion. Jetzt sind Sie auf Tour mit Ihrem literarischen Debüt «Das Leben fing im Sommer an», und Ihre Lesungen sind alle ausverkauft.
Die Lesungen sind tatsächlich jeweils innert kürzester Zeit ausverkauft, aber sie finden natürlich nicht im Stadion vor vielen tausend Menschen statt. Ich freue mich einfach, dass das Buch so gut aufgenommen wurde, viele begeistert und die Literaturhäuser voll sind.
Sie hatten recherchiert, dass Sie 8472 Exemplare verkaufen müssen, um zum Bestseller zu werden. Das schafften Sie locker, das Buch landete direkt auf Platz 1 der «Spiegel»-Bestsellerliste. Sportlicher Ehrgeiz auch beim Schreiben?
Ich kriege es einfach nicht aus meinem Kopf, mich immer in Tabellen messen zu lassen. Das ist mein innerer Antrieb, wie ich sozialisiert wurde. Ich war schon als Kind so, die ganze Karriere als Fussballer funktionierte auf diese Weise. Die vielen positiven Rückmeldungen nach der Veröffentlichung zeigten mir aber, dass die Bestsellerliste nicht das Wichtigste ist. Ich habe sogar mehr Nachrichten erhalten als nach dem Abschied von Mönchengladbach im vergangenen Sommer. Manche schrieben mir, schwierige Tage fühlten sich dank meinem Buch für sie ein bisschen leichter an. Das beglückt mich gerade sehr.
Literatur und Fussball zielen beide auf Emotionen. Glauben Sie, die Menschen als Autor nochmals anders zu berühren?
Die Literaturszene ist schon eine ganz andere Bubble. Menschen, die Bücher lesen, sind wertschätzender, unterstützender auch. Im Fussball ist der Umgangston rauer. Ich habe erst spät zum Lesen gefunden. Was mich allerdings nicht wundert; die Schullektüre in Deutschland jagt Fünfzehn-, Sechzehnjährige ja eher fort vom Lesen. In diesem Alter will niemand Goethes «Faust» oder «Dantons Tod» von Georg Büchner lesen.
Was wäre besser geeignet?
«Tschick» von Wolfgang Herrndorf zum Beispiel. Der heutigen Generation von Jugendlichen würde Lesen guttun. Aber wir sollten in der Schule Bücher besprechen, die die Kinder gerne lesen, mit denen sie sich identifizieren können. Goethe ist super, aber halt nicht für Fünfzehnjährige. Ich hoffe, mein Buch wird irgendwann Schullektüre.
Was könnten die Schüler aus Ihrem Roman lernen?
Ich wollte nie ein Buch schreiben, das belehrt. Aber ich glaube, die Kinder würden zwischen den Zeilen verstehen, dass jede Zeit etwas Schweres hat, das im Rückblick zu etwas Leichtem werden kann. Im Sommer 2006 fühlte sich das Leben für mich voller Sorgen an. Als ich diese Erinnerungen nun, fast zwanzig Jahre später, sortierte, musste ich über viele Episoden schmunzeln. Beim Schreiben des Buchs habe ich gelernt, dass Probleme zum Leben gehören, man diese aber nicht zu ernst nehmen sollte, weil man darauf vertrauen kann, dass sie mit der Zeit verschwinden. Und das gibt auch den Problemen in der Gegenwart eine Leichtigkeit.
Sie haben bereits als Jugendlicher mit Schreiben begonnen, ein Trainer riet Ihnen dazu, Ihre Gefühle aufzuschreiben. Wie wurde daraus ein Roman?
Zuerst schrieb ich Tagebuch und Kurzgeschichten. Lange Zeit plante ich nicht, das Geschriebene je zu veröffentlichen. In meinem letzten Jahr bei Gladbach, 2024, als es sportlich nicht mehr gut lief und ich spürte, dass das Karriereende naht, wurde das Vorhaben dann konkreter. Ich wollte etwas Neues haben, das mich vor dem berühmt-berüchtigten Loch nach der Karriere bewahrt.
In Ihrem Buch findet weder eine Distanzierung noch eine Glorifizierung des Fussballs statt. Es geht unheroisch zu. Weshalb haben Sie grosse Teile dessen, wofür Sie bekannt und berühmt sind, weggelassen?
Weil mich Erwartbares langweilt. Noch einmal über den Black-out im WM-Final 2014 zu schreiben, wäre doch einfach nur peinlich gewesen, darüber habe ich schon tausendmal gesprochen. Eine klassische Autobiografie reizte mich auch nicht.
Weil alle erfolgreichen Biografien von Fussballern sich irgendwie ähneln?
Ja, genau. Kaum etwas daran ist spannend. Ich hätte keine fünfzig Seiten so über mich schreiben können. Stattdessen wollte ich einen Roman verfassen.
Christoph Kramer, der Mann der vielen Rollen
bko. Christoph Kramer, 34, wuchs in Solingen auf und spielte als Fussballer für Bayer Leverkusen, Fortuna Düsseldorf, den VfL Bochum sowie Borussia Mönchengladbach. Er absolvierte 12 Länderspiele für Deutschland, 2014 gewann er mit dem DFB-Team in Brasilien den Weltmeistertitel. Seit 2018 begleitet er die Länderspiele zusammen mit dem früheren Mitspieler Per Mertesacker als TV-Experte. Im vergangenen Sommer beendete er die Profi-Karriere, seither podcastet er mit Tommi Schmitt und spielt in der Baller League. Im Frühling erschien Kramers Debütroman «Das Leben fing im Sommer an» über seine Zeit als Jugendlicher während des «Sommermärchens» 2006, als die Fussball-Weltmeisterschaft in Deutschland stattfand.
Eine Stärke Ihres Buches ist, dass Sie offen über Selbstzweifel schreiben oder über die Angst, im Mittelpunkt zu stehen. Schüchtern sind Sie aber auch nicht. Wie passt das zusammen?
Der Sommer 2006, von dem das Buch handelt, hat meine Persönlichkeit stark beeinflusst. Heute würde ich mich als starken, selbstbewussten Charakter bezeichnen. Doch das war nicht immer so. Damals hatte ich viele Sorgen, wenig Mut. Oft lag ich allein im Bett und bereute, gewisse Dinge nicht getan zu haben. Ich wollte unbedingt über diese Zeit schreiben, weil sie für die Ausprägung meines Charakters am wichtigsten war. Zudem hatte ich noch nie ein Problem, über meine Gefühle zu sprechen. Viele denken immer noch, das sei eine Schwäche. Ich glaube vielmehr, nur starke Charaktere können über ihre Schwächen reden.
Kürzlich sagten Sie: «Hätte ich nicht so viel Glück gehabt und hätte es sich nicht ausgezahlt, würde ich meiner Jugend nachtrauern.» Was haben Sie verpasst?
Wer schon früh alles dem Fussball unterordnet, verpasst viele soziale Ereignisse und erlebt einige erste Male verspätet. Die erste Party oder den ersten Kuss. Auch das Abkapseln vom Elternhaus nimmt man gar nicht richtig wahr, weil man so sehr mit Fussball beschäftigt ist. Heute kann ich sagen: Alles perfekt gelaufen! Aber hätte es nicht geklappt, würde ich einiges von dem bereuen, worauf ich in meiner Jugend verzichtet habe, um Fussballprofi zu werden.
In Ihrem Roman beschreiben Sie Gruppendynamiken, die in der Jugend zentral sind. Was ist mit den Gruppendynamiken im Fussball?
Mich fasziniert schon lange, wie sensibel Teamgefüge im Sport sind. Wie Spieler miteinander umgehen, Hierarchien entstehen, Mannschaften funktionieren. Allein schon die Frage, wie sich jemand verändert, wenn er Captain wird. Oder wie unterschiedlich sich der Einzelne in einer Gruppe verhält, je nachdem, ob er gut oder schlecht gespielt hat.
Weshalb wird in der Öffentlichkeit so wenig über Gruppendynamik im Fussball gesprochen?
Weil dafür keine Zeit bleibt. Das ist jedenfalls meine Erfahrung als TV-Experte. Und es brauchte dazu einen tieferen Blick in die Teamgefüge, den kaum einer hat. Was mich allerdings ärgert: In Deutschland werden seit fünfzig Jahren die gleichen Erklärungen bemüht. Gewinnt eine Mannschaft, haben die Spieler alles gegeben. Verliert sie, war ihr Einsatz mangelhaft. Das ist unser Fazit von Fussballspielen? Das ist doch Wahnsinn. Andererseits greifen rein taktische Erklärungen für Niederlagen meist ebenfalls zu kurz.
2014 wurden Sie mit Deutschland Fussball-Weltmeister. Weil das Team so gut harmonierte?
Damals hatten wir jedenfalls ein besonderes Team. Es gab 12, 13 Stammspieler, die restlichen Kicker meldeten keine Ansprüche an, wir freuten uns einfach, wenn wir zu Einsätzen kamen. So lässt sich rückblickend sagen, Jogi Löw habe in puncto Hierarchie alles richtig gemacht, weil alle mitzogen. Nur: Im Achtelfinal gegen Algerien hätten wir durchaus rausfliegen können, dann hätte niemand über den Teamspirit gesprochen.
Sie podcasten mit Tommi Schmitt, kommentieren im ZDF mit Ihrem ehemaligen Mitspieler Per Mertesacker, kicken in der Baller League. Was kommt da noch?
Ich schreibe bereits an meinem nächsten Werk. Aber gerade macht mir diese Lesereise viel Spass. Und ich mache meine Trainerscheine.
Wann werden wir den Trainer Kramer sehen?
Das weiss ich noch nicht. Gerade nutze ich die Zeit, um eine gesunde Sicht auf den Fussball zu bekommen. Aber das wird passieren.
Es ist schon interessant, dass Sie weiterhin so viel Aufmerksamkeit erhalten. Sie haben den Abschied angekündigt, nun spielen Sie nicht mehr. Aber im Umgang mit der Öffentlichkeit hat sich wenig verändert.
Es ist anders – aber das Bestätigungslevel ähnlich. Ich denke, dass die Sache mit der Bestätigung immer wieder unterschätzt wird. Und es ist auch nicht sonderlich cool, darüber zu reden. Aber von 100 auf 0, wenn man auf einmal nicht mehr Fussball spielt, das ist auch schwierig, da muss man vorsichtig sein. Und deswegen versuche ich, die Aufmerksamkeit langsam und gesund abzubauen, damit ich nicht in dieses «Ich interessiere keinen mehr»-Loch falle.
Sie haben trotzdem den Ehrgeiz, Literaturpreise zu gewinnen. Erfreulich, wenn das passiert, und egal, wenn es ausbleibt – solange Sie Spass dabei haben?
Ja, perfekt zusammengefasst. So ist gerade mein Leben. Ich mache nur Dinge, die mir Spass machen. Und wenn ich damit erfolgreich bin, umso besser. Das ist ein Riesenprivileg.
Ein Grossteil des Buches ist entstanden, als es fussballerisch nicht mehr so gut lief. Hatte diese Entwicklung etwas mit Ihrem Trainer Gerardo Seoane zu tun?
Nein. Aber wenn du nicht mehr so oft spielst, verlierst du an Geltung. Und wenn du dein ganzes Leben lang in der Nahrungskette weit oben warst, dann ist es schon ungewohnt, wenn es plötzlich anders ist. Und dass es dann weniger Spass macht, ist ja auch klar.
Seoane war nach Lucien Favre Ihr zweiter Schweizer Trainer. Und mit Granit Xhaka hatten Sie einen prominenten Mitspieler aus der Schweiz in Mönchengladbach. Wie war Ihr Verhältnis zu ihnen?
Mit Granit habe ich zwei Jahre im Mittelfeld auf der Doppelsechs gespielt. Das war eine richtig tolle Zeit, vor allem, weil wir sehr erfolgreich waren. Es war der Startschuss in ein grosses Jahrzehnt von Borussia Mönchengladbach. Lucien Favre war mein erster Trainer in Gladbach während der ersten beiden Jahre. Ich habe so viel von ihm gelernt, weil er stark auf mich gesetzt hat. Er war eine sehr prägende Figur in meiner Karriere.
Favre gilt als brillanter Taktiker und Tüftler. Und Granit Xhaka, ebenfalls ein Mann mit Fussballsachverstand?
Auf jeden Fall. Der Herr Granit ist Weltklasse! Er will ja auch Trainer werden, das passt. Mittlerweile hat er eine sehr ruhige, abgeklärte Spielweise. Sicher ist er immer noch impulsiv gegenüber seinen Gegenspielern und auch gegenüber den Schiedsrichtern, aber es ist längst nicht mehr so, dass er öfter mal mit Gelb-Rot vom Platz fliegt, wie es früher der Fall war.
Sehen Sie sich eher als impulsiven Coach oder als einen ruhigen, der sachlich analysiert?
Als ganz, ganz ruhigen. Ausser ich muss halt schreien, damit mich jemand hört. Aber sonst bin ich ruhig, ohne dabei unemotional zu sein. Von mir wird man niemals hören: «So konzentriert euch jetzt mal, oder gebt mal mehr Gas.»
Heute sind Sie nicht mehr tagtäglich von Resultaten abhängig. Sind Sie gelassener, seit Sie nicht mehr alle drei Tage ein Spiel haben?
Ich war nie der Typ, den das gross beschäftigt hat. Ich gehe jetzt nicht mehr oder weniger entspannt durch mein Leben. Ich habe meinen Frieden mit der Zeit als Fussballer geschlossen. Das war sehr wichtig für mein Leben: dass ich mit dem grössten Kapitel meines Lebens Frieden schliesse.
Früher begannen Ihre Einträge ins Tagebuch jeweils mit der Wendung: «Du sollst nie vergessen, dass . . .» Was werden Sie nie vergessen?
Ich schreibe das Buch immer noch, es liegt auf meinem Schreibtisch. Und ich habe schon viele Bücher in Bankschliessfächern. Erinnerungen sind alles, was wir haben. Deswegen werde ich diese Bücher bis zu meinem Lebensende weiterschreiben. Und immer wieder umarbeiten, damit weitere Romane daraus werden.