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Vor 30 Jahren wurde die Alpeninitiative angenommen, die den Güterverkehr von der Strasse auf die Schiene zwingen wollte. Sie gilt bis heute als Sternstunde und Sündenfall der Schweizer Demokratie.
Nach geschlagener Schlacht kommt der Tanz. Der Urner Landammann Hansruedi Stadler, durch Berichte in der Weltpresse über Nacht zur Berühmtheit aufgestiegen, feiert mit seiner Frau mitten in Altdorf: zu den Klängen des Volkslieds «Zoge am Boge, de Landamme tanzed». So hat es Stadler versprochen, sollte die Initiative «zum Schutze des Alpengebietes vor dem Transitverkehr» vom Stimmvolk angenommen werden.
Das Resultat an diesem Sonntag, dem 20. Februar 1994, fällt knapp aus, 51,9 Prozent sagen Ja zu einer Vorlage, die von der bürgerlichen Dreifaltigkeit aus Bundesrat, Parlament und Wirtschaft erbittert bekämpft worden ist. Es ist eine der denkwürdigsten Abstimmungen der jüngeren Schweizer Geschichte, ein Symbol dafür, was einige Wenige erreichen können, aber auch: wie Eliten das Volk unterschätzen – und wie nationale Vorstellungen mit Europa kollidieren. Bis heute ist die Alpeninitiative nur halbbatzig umgesetzt. Ein Erfolg ist sie trotzdem geworden, wie selbst ihre ärgsten Gegner von einst einräumen.
Die Rache des Teufels
Alles beginnt Ende der achtziger Jahre mit ein paar Genossen und Grünen aus den Alpen, aus Uri, Graubünden, dem Wallis und Tessin. Sie haben genug von den Massen an Lastwagen, die seit der Eröffnung der Gotthardautobahn die Täler hinaufkriechen und Russwolken in die Bergluft pusten. Ihre Aushängeschilder sind die SP-Politiker Peter Bodenmann und Andrea Hämmerle, die meisten ihrer Mitstreiter sind nationale Nobodys. Mit einer Initiative wollen sie ein Zeichen setzen, auch weil die Europäische Union (EU, damals noch EG) eine baldige Verdoppelung des Lastwagenverkehrs zwischen Nord und Süd prognostiziert. Der Walliser Andreas Weissen sagt den Medien: «Wir haben Angst, beim Stichwort ‹Europafähigkeit› buchstäblich unter die Lastwagenräder zu kommen.»
Im Mai 1989 lancieren sie die Alpeninitiative als Happening in der Schöllenenschlucht. Es ist eine in der Schweiz bisher unbekannte Form des Politmarketings, als Pressekonferenz gibt es eine Neuinszenierung einer Sage. Ein Geissbock wird über die Teufelsbrücke getrieben, dahinter folgen ein Teufel und Transparente in LKW-Form. Die Botschaft: Der Teufel, der der Legende nach für seine Hilfe beim Bau der Brücke kein Menschenopfer bekam, sondern nur einen Geissbock, rächt sich an der Bevölkerung mit einer immer grösser werdenden Blechlawine. «Wir wussten, es braucht starke Geschichten und gute Bilder, um die Alpeninitiative bekannt zu machen», erinnert sich Andrea Hämmerle später.
Die Initianten wollen drei Forderungen in der Verfassung verankern: «Der Bund schützt das Alpengebiet vor den negativen Auswirkungen des Transitverkehrs.» Es dürfe keine zusätzlichen Transitstrassen geben. Und: «Der alpenquerende Gütertransitverkehr von Grenze zu Grenze erfolgt auf der Schiene.» Ausnahmen seien «nur zulässig, wenn sie unumgänglich sind». Die Umsetzung müsse innert zehn Jahren nach Annahme abgeschlossen sein.
Der Rechtsprofessor Alfred Kölz würdigt den Initiativtext als «juristisch gut, in der Formulierung knapp und präzis». Dennoch bleiben die grossen Umweltorganisationen zunächst auf Distanz, nachdem sie mit eigenen Initiativen gegen den Autobahnausbau gerade grandios gescheitert sind. Die nötigen 100 000 Unterschriften kommen auch so schnell zusammen. Der vom Transitverkehr besonders geplagte Kanton Uri packt zudem den exakt gleichen Wortlaut in eine Standesinitiative. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätten im Bundeshaus die Alarmglocken läuten sollen.
Bundesrätliche Ausraster
Doch National- und Ständerat halten einen Gegenvorschlag für überflüssig. Der Bundesrat sowieso: Man kämpfe auch für die Verlagerung auf die Schiene, aber mit Anreizen. «Wo Zwang hinführt, sah man in der DDR», sagt Verkehrsminister Adolf Ogi. Er hat mit höchstem Einsatz ein Transitabkommen mit der EU ausgehandelt. Unter dem Motto «chum und lueg» flog er ausländische Minister zur Besichtigung vor Ort ein, schuf Goodwill für die Schweiz: «Die Enge der Alpen ist ein Sonderfall, dafür können wir nichts.»
Die Annahme der Initiative würde nun dieses Abkommen verletzen, da sie mit der Formulierung «von Grenze zu Grenze» ausländische Spediteure diskriminiere. Nach dem Nein der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 1992 will der Bundesrat weitere helvetische Alleingänge vermeiden. Sie brächten nur noch mehr Isolation und Arbeitslosigkeit, wird argumentiert. Die Regierung verkennt indes die Befindlichkeiten in der Bevölkerung.
Wie populär die Initiative ist, zeigt sich etwa in den Leserbriefspalten der Zeitungen. Vor einer «Begasung bis zum Kollaps» wird etwa gewarnt. Der Alpenmythos, den die linken Initianten für ihr Anliegen nutzen, verfängt auch im rechten Lager, bei den «Chauvinisten und geistigen Wurzelseppen» (so das Wirtschaftsblatt «Cash»). Dazu trägt die kämpferische Rhetorik gegenüber der EU bei, die nun sogar überzeugte Europäer wie der langjährige SP-Präsident Helmut Hubacher anschlagen: «Wir können uns nicht aus Brüssel diktieren lassen, wie das Schweizervolk seine Verkehrsprobleme lösen soll.» Es gehe um die nationale Würde. Die Initiative sei ein konstruktiver ökologischer Beitrag, auch für Europa.
Zum Showdown zwischen Verkehrsminister Ogi und den Initianten kommt es schliesslich in der «Arena» des Schweizer Fernsehens. Es ist das vielleicht erste und das bisher letzte Mal, dass eine Abstimmung in der Schweiz am Bildschirm entschieden wird. Über eine halbe Million Zuschauer sitzen vor ihren Fernsehern. Anfangs ist es die erwartete Ogi-Schau. Charmant und bestimmt erklärt er die Position des Bundesrats, zeigt Verständnis für das Volksbegehren: Als Kandersteger liege auch ihm «das Urgestein näher als der Asphalt». Doch dann folgt der Auftritt des Urner Landammanns Stadler, der zuvor noch nie ein TV-Studio von innen gesehen hat. Geschickt argumentiert er für den Alpenschutz, bis Ogi ihn genervt abkanzelt: «Ihr Urner müsst schon gar nichts sagen. Ihr, denen wir ja alles zahlen!» Das kommt gar nicht gut an. Für die meisten Kommentatoren ist später klar: Ogis Patzer hat die Abstimmung entschieden.
Geradezu harmlos ist Ogis Auftritt jedoch im Vergleich zu Aussagen von Volkswirtschaftsminister und EU-Turbo Jean-Pascal Delamuraz. Er schimpft nach der «katastrophalen» Annahme der Initiative über das «Verbot im Ayatollah-Stil»: «Die stolze Innerschweiz produziert einmal mehr ihre Heldentaten. In der Westschweiz hat man die Schnauze voll! Verstehen Sie das?»
Der Röstigraben ist aber nicht das primäre Problem des Bundesrats. Es sind die europapolitischen Verwerfungen, die der Volksentscheid auslöst.
Rien ne va plus
Mit grossen diplomatischen Anstrengungen ist es der Landesregierung im November 1993 gelungen, die EU nach dem EWR-Nein zu Verhandlungen über bilaterale Verträge zu bewegen – was Brüssel zuvor kategorisch ausgeschlossen hatte. Nach der Annahme der Alpeninitiative und damit dem Votum gegen das Transitabkommen heisst es nun: Rien ne va plus. Die EU legt demonstrativ eine «Denkpause» ein, bis der Bundesrat einen Weg aufzeigt, wie er die Initiative diskriminierungsfrei umsetzen kann. Erst im März 1995 wird sie die Verhandlungen über bilaterale Verträge wieder aufnehmen.
Derweil sucht der Bundesrat nach einer europakompatiblen Lösung. «Phantasie ist gefordert, meine Herren!», so lautet Bundesrat Ogis Befehlsausgabe an seine Leute. Es ist die «Quadratur des Lastwagenrads» («Weltwoche»). Von Vorteil ist immerhin, dass Verfassungsartikel nicht wortgetreu, sondern sinngemäss umgesetzt werden müssen.
Der kreative Kompromiss mit Europa gelingt erst nach langwierigen Verhandlungen und einer ziemlich lockeren Interpretation des Volkswillens: Dank dem Bau der neuen Eisenbahnverbindung durch die Alpen (Neat), weiteren Bahnsubventionen und der Einführung einer leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe (LSVA) gelingt der Spagat zwischen Verlagerungsziel und freier Wahl des Verkehrsmittels, wie sie die EU verlangt. Eine Lösung ist auch möglich, weil die Initianten keine Obergrenzen für die Lastwagenfahrten auf den Transitachsen festgelegt haben. Erst 1999 wird der Zielwert von jährlich 650 000 Fahrten bestimmt, der spätestens 2018 erreicht werden soll.
Ende gut, alles gut? Trotz der Einigung mit der EU hat der Volksentscheid vom 20. Februar 1994 gravierende europapolitische Folgen bis heute. Das Ja des Schweizer Souveräns zur Alpeninitiative weckt bei den EU-Unterhändlern Misstrauen gegenüber der direkten Demokratie. Sie befürchten, dass die Eidgenossen nach Abschluss der bilateralen Abkommen missliebige Verträge per Volksentscheid wieder kündigen könnten, etwa die Personenfreizügigkeit. Die Folge dieses Unbehagens ist die Einführung der Guillotineklausel: Wird ein Abkommen der Bilateralen I gekündigt, bedeutet das automatisch die Kündigung aller sieben Abkommen. Es ist der Hauptgrund dafür, dass Jahre später die Masseneinwanderungsinitiative der SVP nicht umgesetzt wird – das andere berühmte Beispiel für eine vom Volk angenommene, nicht europakompatible Initiative.
Immer noch zu viele LKW
Beharrungswillen und Frustrationstoleranz haben die Alpenschützer in den vergangenen 30 Jahren benötigt. Die Verlagerungsziele beim alpenquerenden Güterverkehr werden immer wieder hinausgeschoben. Zeitweise geht nicht viel. 2013 fragt der heutige GLP-Präsident Jürg Grossen in einem parlamentarischen Vorstoss besorgt, ob der Bundesrat plane, dem Volk «eine Vorlage zur Streichung des Alpenschutzartikels aus der Bundesverfassung zu unterbreiten». Der Bundesrat verneint zwar, aber der Artikel 84 in der Bundesverfassung ist weiterhin nicht erfüllt.
Das im Ausführungsgesetz für das Jahr 2018 festgehaltene Ziel von 650 000 Lastwagenfahrten durch die Alpen ist laut dem letzten Verlagerungsbericht von 2023 einmal mehr überschritten worden: um 277 000. «Damit wird die eindrückliche Erfolgsgeschichte der Verlagerungspolitik in der Schweiz nicht weitergeschrieben», kritisiert der Verein Alpeninitiative anlässlich des Jubiläums. Er fordert, dass der Bundesrat in der Verkehrspolitik die Verlagerung auf die Schiene wieder ins Zentrum rückt.
Was bei der Beurteilung der hohen Zahlen schnell vergessengeht: Das Wachstum ist vor allem der absoluten Zunahme des Verkehrs im europäischen Binnenmarkt geschuldet. Ohne die pionierhafte Verlagerungspolitik würden jährlich rund 800 000 Lastwagen mehr als heute die Schweizer Alpenstrassen belasten, schätzt das Bundesamt für Verkehr. Sie hat zudem die Finanzierung des Jahrhundertbauwerks Neat erleichtert. Und: Es werden hierzulande drei Viertel der Güter auf der Nord-Süd-Route mit der Schiene transportiert. In Österreich ist es ein Viertel, in Frankreich nicht einmal zehn Prozent.
Die Alpeninitiative im Jahr 2024 – nicht wirklich umgesetzt, aber doch Realität.