Die Aufhebung des Urteils beweist, wie schwierig es ist, gerichtlich gegen Wirtschaftskriminalität vorzugehen. Der Abschreckungseffekt des harten erstinstanzlichen Verdikts im Fall Vincenz verpufft.
«Bitte nachbessern!», fordert das Obergericht Zürich im Fall Vincenz. Einer der bedeutendsten Wirtschaftskriminalfälle der Schweiz muss komplett neu aufgerollt werden – wegen Prozessfehlern. Ein Beschuldigter erhielt die Anklageschrift nicht auf Französisch, zudem ist diese gemäss den Oberrichtern viel zu ausschweifend formuliert worden und genügt den Anforderungen der Strafprozessordnung nicht.
Die Zurückweisung ist eine Blamage für die Zürcher Staatsanwaltschaft, die viel Zeit und Energie für diesen Paradefall aufgewendet hat. Aber auch das Bezirksgericht Zürich, das die Fehler in der Anklageschrift nicht erkannt hat, kommt schlecht weg.
Natürlich: Die Ermittlungen waren sehr anspruchsvoll. Die Hauptverhandlung selbst fand zudem während der Corona-Pandemie unter erschwerten Bedingungen statt. Die Zeit bis zum Start der Verhandlung drängte, weil sonst die ersten Fälle bald verjährt wären. Dennoch hätten die Ankläger und auch die Bezirksrichter es nicht so weit kommen lassen dürfen. Zu viel steht im Verfahren auf dem Spiel.
Es gilt festzuhalten, dass die Beschuldigten, allen voran der Ex-Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz und sein Geschäftspartner Beat Stocker, vom Obergericht keinen Freispruch erhalten haben. Ob sie schuldig sind, wird neu zu beurteilen sein.
Die zwei beteiligten sich privat an Firmen, die sie später ihren Arbeit- beziehungsweise Auftraggebern verkauft haben – ohne ihnen dies mitzuteilen. Für Topmanager ist das in jedem Fall ein sehr fragwürdiges Verhalten, ob es nun justiziabel ist oder nicht.
Pierin Vincenz war in erster Instanz zu drei Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt worden. Das harte Verdikt wurde als starkes, abschreckendes Zeichen an die Schweizer Wirtschaftselite interpretiert: Wenn ihr private Seiten-Deals aufgleist und euch dabei auf Kosten eures Arbeitgebers bereichern wollt – wir finden und bestrafen euch! Auch wenn es Jahre dauert und schwierig wird.
Dieser Abschreckungseffekt ist jetzt verpufft. Manche könnten gar das Fazit ziehen: Wer seine Spuren gut verwischt, darf darauf hoffen, mit unsauberen Geschäften davonzukommen, einfach, weil es derart schwierig ist, einem Beschuldigten tatsächlich kriminelles Handeln nachzuweisen.
Bei der Staatsanwaltschaft III des Kantons Zürich arbeiten schliesslich keine Anfänger. Es handelt sich, was den Kampf gegen Wirtschaftskriminalität anbelangt, um die wohl kompetenteste und am besten ausgerüstete Strafverfolgungsbehörde der Schweiz. Nur wenige andere Ankläger im Land hätten einen Vincenz-Prozess überhaupt stemmen können. Dass ausgerechnet dieser Behörde solche Verfahrensfehler unterlaufen, zeigt auch, wie wenig Spielraum für Fehler die Ankläger in solchen Fällen haben.
Das ist richtig so: Der Staat muss allen Beschuldigten ein faires Verfahren garantieren und darf keine Abkürzungen nehmen, egal, wie klein oder gross diese sind. Und doch stellt sich ganz grundsätzlich die Frage, wie man die Schweizer Staatsanwaltschaften besser befähigen kann, Wirtschaftskriminelle zu finden und zu überführen. Ob jemand seinen Arbeitgeber mit verdeckten Geschäften betrogen hat, ist nun einmal schwieriger zu beweisen, als der Fall, ob er einen Passanten mit einem Faustschlag niedergestreckt hat.
Man erinnere sich an den grossen «Sommermärchen»-Prozess rund um die Vergabe der Fussball-WM 2006 an Deutschland, der sang- und klanglos verjährte und den Schweizer Staat viel Geld kostete. Auch in anderen komplexen Fällen tat sich insbesondere die Bundesanwaltschaft sehr schwer.
Man darf nicht vergessen, dass solche Wirtschaftsprozesse nicht nur andere mögliche Täter abschrecken sollen. Erstens stärken oder schwächen sie das Ansehen der Schweiz international; sie ist Heimat zahlreicher Weltkonzerne und -verbände und braucht einen Justizapparat, der diesen Anforderungen gewachsen ist.
Zweitens zeigen Verfahren wie der Vincenz-Prozess der Schweizer Öffentlichkeit, dass der Staat den Kampf gegen Wirtschaftskriminelle ernst nimmt. Auch dann – oder gerade dann –, wenn es sich beim Beschuldigten um einen bekannten Wirtschaftsführer handelt.
Das ist eminent wichtig zu einer Zeit, da das liberale Schweizer Selbstverständnis bröckelt, die Beziehung zwischen Wirtschaft und Bevölkerung ohnehin angespannt ist und sich bei vielen ein dumpfes Gefühl breitgemacht hat, «die da oben» machten ohnehin, was sie wollten.
Man kann der Forderung des Obergerichts daher nur beipflichten: Bitte nachbessern!