Bisher finanzierte die internationale Gemeinschaft nach jedem Krieg den Wiederaufbau im Gazastreifen. Dieses Mal scheint vieles anders. Eine Übersicht.
15 Milliarden Dollar für die zerstörten Häuser, 50 Milliarden insgesamt. So viel werde der Wiederaufbau des Gazastreifens nach dem Ende des Krieges gegen die Terrororganisation Hamas mindestens kosten, sagen Vertreter der Palästinenser. Wie realistisch sind solche Schätzungen von palästinensischer Seite?
Nach mehr als vier Monaten Bombardierung durch Israel ist die Hälfte der Gebäude im Gazastreifen zerstört oder beschädigt. Die Einwohner sind aus ihren Häusern geflohen, 22 von 36 Spitälern haben laut der Uno den Betrieb eingestellt, Strom gibt es kaum mehr. Noch nie war die Lage im Gazastreifen so katastrophal.
Bereits 2014 bombardierte Israel während seiner Operation «Protective Edge» einen Monat lang Ziele der Hamas im Gazastreifen. Danach waren 18 Prozent aller Gebäude beschädigt oder zerstört. Für den Wiederaufbau versprach die Staatengemeinschaft damals insgesamt 3,5 Milliarden Dollar. Die Palästinenser hätten sich 6 Milliarden gewünscht.
Vergleicht man die Schäden von damals und heute, ist klar, dass die Kosten deutlich höher liegen. Stand heute würde der Wiederaufbau nach Berechnungen der NZZ zwischen 13 und 32 Milliarden Dollar kosten. Nicht eingerechnet sind dabei Gelder für humanitäre Hilfe. Im Durchschnitt verursachte die Bombardierung im Dezember jede Woche Schäden in der Höhe von einer Milliarde Dollar.
Wie solche Zahlen zustande kommen und wie genau sie sind, zeigen Uno-Berichte aus den Jahren 2014 und 2021. Laut diesen Berichten kommen auf jedes komplett zerstörte Haus vier Häuser mit reparierbaren Schäden. Reparierbar heisst, dass Fenster zerstört wurden oder Teile der Wände fehlen. Schätzungen deuten darauf hin, dass die Situation dieses Mal ähnlich ist.
Allerdings haben auch Strassen, Spitäler, Schulen, Maschinen und Felder im Krieg Schaden genommen. Sie machten in der Vergangenheit rund zwei Drittel der geschätzten Wiederaufbaukosten aus. Rechnet man die Zahlen auf die gegenwärtige Situation hoch, kommt man auf die obigen 13 bis 32 Milliarden. Doch die Zusagen für Aufbauhilfe halten sich in Grenzen, solange der Krieg andauert.
Wer zahlt für den Wiederaufbau?
Nach 2014 sagten viele Länder im Nahen Osten grössere Summen für den Wiederaufbau zu. So versprach Katar eine Milliarde Dollar, Saudiarabien sicherte 500 Millionen zu. Die Herrscher der reichen Golfstaaten signalisierten mit den zugesagten Geldern ihrer Bevölkerung und der Welt, dass sie die Palästinenser nicht aufgegeben haben. Die Golfmonarchien betonen immer wieder ihren Einsatz für die Sache der Palästinenser. Der Grossteil der zugesagten Gelder jedoch wurde nie ausbezahlt.
Auch die Türkei versprach Geld und machte damit ihren Einfluss geltend. Zugleich profitierten türkische Bauunternehmen selbst vom Wiederaufbau. Im Gazastreifen gab es nicht annähernd genug Bauunternehmen für diese Aufgabe. Daher waren es vor allem türkische sowie ägyptische und israelische Firmen, welche die Häuser wieder aufbauten. Ende November versprach die Türkei, dass türkische Baufirmen auch diesmal neue Spitäler und Schulen bauen würden.
Auch die USA, die EU und einzelne europäische Länder versprachen nach dem Krieg 2014 zusammen eine Milliarde Dollar für den Wiederaufbau. Speziell Europa ist oft direkt von den Krisen im Nahen Osten betroffen, wie die Flüchtlingskrise in der Folge des Krieges in Syrien gezeigt hat. Die westlichen Länder wünschen sich vor allem Stabilität in der Region. So auch der amerikanische Präsident Joe Biden, der in der «Washington Post» Hilfe beim Wiederaufbau zugesagt hat.
Sowohl der Westen als auch die Golfstaaten haben aber auch deutlich gemacht, dass sie ohne die realistische Aussicht auf eine Zweistaatenlösung nicht bereit sind, im Gazastreifen zu investieren. Sie wollen nicht erneut für den Wiederaufbau von Infrastruktur zahlen, wenn diese in ein paar Jahren wieder zerbombt wird.
Was heisst «Wiederaufbau»?
Die israelische Regierung von Benjamin Netanyahu stellt sich jedoch entschieden gegen die Gründung eines palästinensischen Staates. Es ist unklar, welche Art von Wiederaufbau die Regierung unterstützt oder was ihre Pläne für den Gazastreifen sind. Israels Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, rief jüdische Siedler Ende Januar dazu auf, in den Gazastreifen zurückzukehren.
Netanyahu lehnt eine Wiederbesiedlung des Gebiets zwar ab, doch schüren solche Pläne die Ängste der Palästinenser vor einer Vertreibung. Die israelische Regierung plant zudem eine Pufferzone entlang der Grenze zu Israel und reisst dort die Häuser ab. Dadurch verkleinert sich das Gebiet für die Palästinenser, was es noch komplizierter machen wird, genug Infrastruktur für die 2,3 Millionen Bewohner zu bauen.
Auch vor dem Krieg fehlten laut einer Schätzung rund 200 000 Wohnungen im Gazastreifen. Dies lag zum einen daran, dass Häuser, die in vergangenen Kriegen zerstört worden waren, noch nicht wieder aufgebaut worden sind. Zum anderen wächst die Bevölkerung im Gazastreifen rapid. Die Wohnungen sind notorisch überbelegt. Idealerweise müssten also nach dem Krieg nicht nur zerstörte Häuser ersetzt, sondern auch zusätzliche gebaut werden.
Der Grund für die Wohnungsknappheit ist nicht nur das mangelnde Geld, sondern es sind auch die Einfuhrkontrollen Israels. Sie haben den Aufbau enorm verlangsamt und könnten ihn diesmal ganz unmöglich machen.
Die israelische Blockade
Im Januar revidierte das israelische Militär seine bisherige Schätzung zum Ausmass des Tunnelnetzwerks der Hamas – es soll noch weitläufiger sein als angenommen. Schon die vorherige Schätzung war hoch: So ging das Militär von 500 Kilometern Tunnel aus. Für deren Bau waren wohl Tausende Tonnen Beton und Metall nötig. Wie genau die Hamas das Material beschafft hat, bleibt unklar. Israel äusserte schon 2014 die Befürchtung, dass die Islamisten Material für den Wiederaufbau für ihre Tunnel abzweigen würden.
Um dies zu verhindern, wurde damals ein strikter Kontrollmechanismus eingeführt: der Gaza Reconstruction Mechanism. Das heisst, jegliche Einfuhr von sogenannten Dual-Use-Gütern musste von Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland erlaubt werden. Als Dual-Use-Güter galten Holzplanken, Zement und Metallrohre, aber auch Wasserski – alles, was die Hamas in ihrem Krieg gegen Israel hätte verwenden können.
Der Gaza Reconstruction Mechanism war so bürokratisch, dass es oft Monate dauerte, bis Einfuhren bewilligt wurden. Oft wurden sie auch abgelehnt. Uno-Berechnungen aus dem Jahr 2016 kamen zu dem Schluss, dass der Wiederaufbau im damals herrschenden Tempo hundert Jahre dauern würde. Durch die wenigen offenen Grenzübergänge kamen maximal hundert Lastwagen mit Baumaterial pro Tag in den Gazastreifen. Beim Ausmass der gegenwärtigen Zerstörung würde ein Wiederaufbau auch mit tausend Lastwagen pro Tag Jahrzehnte dauern.
Ein Wiederaufbauplan wie nach 2014 ist beim heutigen Ausmass der Zerstörung schwer denkbar. Die Geberländer müssten dafür noch viel grössere Summen zusagen, und Israel müsste massiv höhere Einfuhren erlauben. Beides ist aber unwahrscheinlich: Eine Zweistaatenlösung liegt in weiter Ferne, und das Sicherheitsbedürfnis von Israel ist so hoch wie nie.
Quellen und Methodik
Methode 1: Die Uno analysierte sowohl 2014 wie auch diesmal Satellitenbilder und identifizierte zerstörte oder beschädigte Häuser. Daraus hat sich ergeben, dass die Schäden diesmal etwa 3,5-mal so gross sind wie 2014. Da das analysierte Satellitenbild vom 7. Januar stammt, schätzen wir mit Radar-Satellitendaten, wie viele Schäden seitdem hinzugekommen sind. Die Auswertung stammt von Corey Scher und Jamon Van Den Hoek. Der Faktor steigt damit auf über 4.
2014 wurden die Wiederaufbaukosten auf 2,4 Milliarden Dollar geschätzt. Verrechnet mit dem obigen Faktor und nach Inflation korrigiert, ergeben sich knapp 13 Milliarden Dollar.
Methode 2: Das Gaza Media Office meldet der Uno regelmässig eigene Schätzungen zur Anzahl der zerstörten und beschädigten Wohneinheiten. Wir gehen davon aus, dass es im Schnitt 100 000 Dollar kostet, eine Wohneinheit neu zu bauen. Mit 15 000 Dollar rechnen wir im Schnitt, um beschädigte Wohneinheiten zu reparieren. Die Schadensberichte 2014 und 2021 zeigen zudem, dass etwa ein Drittel der Wiederaufbaukosten auf Wohnungen entfällt. Aus dieser Methode ergeben sich rund 32 Milliarden Dollar.
Weitere Hintergrundinformationen von Yara Asi.
Mitarbeit: Gilles Steinmann