Die Rückweisung der Anklage im Vincenz-Prozess ist eine Klatsche für Staatsanwalt Marc Jean-Richard. Die Niederlage kann aber zum Vorteil werden: Er kennt jetzt die Argumente der Verteidigung.
Der Fussballtrainer José Mourinho nannte seinen Lieblingsfeind Arsène Wenger einmal einen Experten der Niederlage. Solche Frotzeleien muss sich auch der Zürcher Staatsanwalt Marc Théodore Jean-Richard-dit-Bressel gefallen lassen. Der Mann mit dem barocken Namen aus dem Neuenburger Jura ergänzte seinen Pleiten-Palmarès diese Woche mit einem neuen Eintrag: Das Zürcher Obergericht wies seine Anklageschrift im Fall Vincenz wegen Untauglichkeit zurück.
Krachende Niederlagen zog Jean-Richard schon gegen den Investor Martin Ebner und den SVP-Politiker Thomas Matter ein. Beiden hatte er Insiderhandel vorgeworfen, in beiden Fällen scheiterte er. Auch dem gestürzten Raiffeisen-König Pierin Vincenz wirft Jean-Richard vor, mit Insiderwissen Kasse gemacht zu haben. Und landete damit vor zwei Jahren einen spektakulären Coup: Vincenz und der Mitangeklagte Beat Stocker wurden in erster Instanz wegen Betrugs und weiterer Delikte verurteilt. Ein historisches Urteil für das Schweizer Justizsystem, das bei Wirtschaftsdelikten sonst zu Milde neigt.
Epos über die Ausschweifungen von Vincenz
Umso brutaler die Klatsche von Anfang Woche. Das Obergericht korrigierte nicht einfach das Urteil, es wies gleich die ganze Anklageschrift an den Absender zurück. Zu langfädig, zu geschwätzig, zu unpräzis sei das 360-Seiten-Werk aus der Feder von Jean-Richard. Ein Verstoss gegen die Strafprozessordnung, die vorschreibt, die Taten der Angeklagten «möglichst kurz, aber genau» aufzulisten. Der Zürcher Starankläger dagegen lieferte ein Epos ab, das selbst die Ausschweifungen von Vincenz und seinen Getreuen beschreibt. Süffig zu lesen, aber schwammig bei den konkreten Vorwürfen und unbestimmt in der Beweisführung.
Mit Verweis auf das laufende Verfahren will sich Jean-Richard nicht zum Entscheid des Obergerichts äussern. Klar ist aber: Der Staatsanwalt sucht den grossen Auftritt, das Risiko des Scheiterns kalkuliert er mit ein. Vor 15 Jahren bewarb er sich als Chansonnier für den Eurovision Song Contest. Immerhin blieb ihm die Blamage eines «Switzerland zero points» erspart, denn sein mit dem iPhone aufgenommener Beitrag scheiterte schon in der Vorausscheidung des Schweizer Fernsehens. Doch am Titel seines Pilgerliedes kann sich Jean-Richard heute mehr denn je aufrichten: «Ultreia» ist Spanisch und bedeutet «Vorwärts, weiter!».
Eine Vorwärtsstrategie dürfte Jean-Richard auch bei der Neuauflage des Prozesses einschlagen. Einer seiner schärfsten Kritiker, der Freiburger Strafrechtsprofessor Marcel Niggli, mutmasst zwar, dass Jean-Richard die Latte tiefer legen werde. «Ich kann mir gut vorstellen, dass die Staatsanwaltschaft den Betrugsvorwurf fallenlassen wird und ungetreue Geschäftsbesorgung vorwirft», sagte Niggli in der «Handelszeitung». Das wäre dann eine Verurteilung zweiter Klasse, der Nachweis der bewussten und arglistigen Täuschung müsste nicht mehr erbracht werden.
Anklage folgt dem «Fangnetz-Prinzip»
Doch damit dürfte sich Jean-Richard nicht zufriedengeben, nicht bei einem Prestige-Prozess wie dem Fall Vincenz. In einem Anfang Monat veröffentlichten Beitrag in einer Festschrift der Zürcher Justizdirektion legte er seine Methode dar. Bei Standardfällen könne man zwecks Ressourcenschonung schon einmal den Betrugsvorwurf fallenlassen und auf Veruntreuung plädieren, schreibt er. Bei grossen Fällen sei dies anders: Die Anklageschrift werde nach dem «Fangnetz-Prinzip» aufgebaut und den Richtern eine Vielzahl von Hypothesen präsentiert, aus denen sie dann eine auswählen können. Im Fall Vincenz verfing diese Strategie – die Richter verurteilten Vincenz und Co. auch wegen Betrugs.
Auch die Verteidiger glauben nicht, dass Jean-Richard zurückkrebsen wird. «In der Anklageschrift kommt eine gewisse Lust am Strafen zum Ausdruck», sagt Fatih Aslantas. «Die Staatsanwaltschaft wird meiner Einschätzung nach erneut aufs Maximum gehen.»
Aslantas hatte bereits beim erstinstanzlichen Prozess die Anklageschrift kritisiert. Das Obergericht nahm nun den Ball auf: Der Staatsanwalt erzähle Geschichten und halte eine Art Plädoyer, ohne klarzumachen, was davon strafbares Verhalten darstelle, begründet es die Rückweisung. Ein Sieg ist sie für Aslantas gleichwohl nicht. Denn der Entscheid hat eine makabre Pointe: Sein Mandant, ein früherer Geschäftspartner von Vincenz, ist mittlerweile verstorben. Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt, doch das Obergericht erwähnt dies mit keiner Silbe. Damit ist die Einstellung wieder in der Schwebe. Die Angehörigen müssen weiter um die Gelder kämpfen.
Auch für die lebenden Angeklagten könnte die zweite Runde schwerer werden als die erste. Denn Jean-Richard hat einen entscheidenden Vorteil: Er kennt die Argumente der Gegenseite bis ins kleinste Detail, kann bisherige Schwächen in der Anklage ausmerzen und neue Aspekte einbringen. «Der Entscheid wird als Erfolg für die Beschuldigten gefeiert, er könnte sich jedoch als Nachteil erweisen», sagt der Zürcher Strafverteidiger Duri Bonin, der den Prozess eng verfolgt und in einem Podcast darüber diskutiert.
Neue Beweismittel, neue Beschuldigte
Für Jean-Richard beginnt das Spiel bei null. Er kann die Dramaturgie bestimmen, neue Beweismittel vorlegen oder neue Figuren auf die Bühne zerren. Beobachter halten etwa für möglich, dass sich der langjährige Raiffeisen-Präsident Johannes Rüegg-Stürm auf der Anklagebank wiederfindet. Sediert durch ein fürstliches Salär, nickte er über all die Jahre die exorbitanten Rechnungen ab, die Vincenz der Genossenschaftsbank für Privatreisen und Touren durchs Rotlichtmilieu belastete. Bei den gerichtlichen Einvernahmen spielte er den Ahnungslosen. Er könnte nun wegen Beihilfe zu ungetreuer Geschäftsbesorgung belangt werden. Rüegg-Stürm reagierte nicht auf eine Anfrage. Für alle Beschuldigten gilt die Unschuldsvermutung.
Klar ist: Will Jean-Richard seinen Erfolg wiederholen, muss er beim neuen Prozess alle Register ziehen. Denn der Staatsanwalt bekommt es mit einem neu zusammengesetzten Gericht zu tun. Richter Sebastian Aeppli, der beim ersten Prozess seinen Anträgen brav gefolgt war, hat sich in die Pension verabschiedet. Sein Nachfolger Peter Rietmann war beim ersten Prozess ebenfalls dabei. Die Verteidigung dürfte leichtes Spiel haben, den SP-Mann wegen Befangenheit aus dem Gremium zu verbannen. Sänger Jean-Richard muss also ein neues Publikum von seiner Kunst überzeugen. Es wird kritischer sein als das erste.
Steuerzahler tragen die Kosten
Staranwalt Erni arbeitet am billigsten
Die Rechnung für die Pleite im Vincenz-Prozess trägt der Steuerzahler. Die Beschuldigten erhalten die Auslagen für ihre Anwälte rückerstattet. Bei den verrechneten Kosten zeigen sich grosse Unterschiede. Vincenz-Verteidiger Lorenz Erni stellte seinem Klienten 92 Stunden zu 350 Franken pro Stunde in Rechnung. Damit arbeitete der bekannteste Strafverteidiger der Schweiz relativ günstig. Ernis Stundenansatz befindet sich im unteren Bereich der Spanne von 300 bis 600 Franken, die befragte Anwälte als Norm für Strafrechtsfälle bezeichnen. Das Gericht befand Ernis Rechnung über 34 698 Franken (inklusive Mehrwertsteuer) denn auch als angemessen und vergütete sie voll. Der Anwalt von Beat Stocker, dem zweiten Hauptbeschuldigten, stellte 348 Stunden in Rechnung, die Rechtsvertreter der Raiffeisenbank sogar 731 Stunden. Das Gericht taxierte dies als überhöht und korrigierte die Entschädigungen in beiden Fällen massiv nach unten.
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