Reza Schah und Amanullah Khan wollten ihre Länder in den 1920er Jahren zu modernen Nationalstaaten umformen. Als Vorbild diente ihnen die junge türkische Republik. Hätten sie Erfolg gehabt, sähen Kabul und Teheran heute anders aus.
Die Türkei hat Ende Oktober den 100. Jahrestag der Staatsgründung gross gefeiert. Die Ausrufung der Republik durch Mustafa Kemal Atatürk wurde mit einem spektakulären Feuerwerk in Istanbul und einer Schiffsparade auf dem Bosporus begangen. In Afghanistan war der 100. Jahrestag der Verfassung von Amanullah Khan im vergangenen April dagegen keine Erwähnung wert. Und es ist auch unwahrscheinlich, dass in Iran nächstes Jahr der 100. Jahrestag der Thronbesteigung von Reza Schah Pahlavi besonderer Anlass für Feiern sein wird.
Während Atatürk in der Türkei bis heute breite Verehrung geniesst, sind die Monarchen Amanullah Khan und Reza Schah in ihren Ländern weitgehend verfemt. Dabei verfolgten alle drei Staatsführer in den 1920er Jahren eine ganz ähnliche Politik. Durch die Modernisierung des Staates und die Säkularisierung des Rechts wollten sie einen einheitlichen Nationalstaat nach westlichem Vorbild schaffen. Allein Atatürk gelang es jedoch, sein Land grundlegend zu transformieren.
Das Scheitern der Reformen in Afghanistan und Iran hat deren Entwicklung im 20. Jahrhundert stark geprägt. Hätte Amanullah Khan es geschafft, sein Land zu öffnen und die Macht der Regierung gegenüber den Stämmen zu stärken, wäre Afghanistans Geschichte ganz anders verlaufen. Und wäre es Reza Schah gelungen, die iranische Gesellschaft auf dem Weg in die Moderne mitzunehmen, wäre Iran womöglich nach 1979 die Diktatur der Ayatollahs erspart geblieben.
Europa galt als Inbegriff der Moderne
Atatürk, Reza Schah und Amanullah Khan waren glühende Nationalisten, die stolz waren auf die eigene Kultur, Sprache und Geschichte ihrer Länder. Zugleich waren sie sich der Rückständigkeit und Unterlegenheit schmerzlich bewusst. Sie einte der Wille, ihr Land in die Moderne zu führen – und deren Verkörperung war für sie Europa. Sie übernahmen aus Europa nicht nur die Technologien, das Rechtswesen und die politischen Strukturen, sondern adaptierten auch zentrale Elemente der Kultur wie Schrift, Architektur und Kleidung.
Die Türkei, Iran und Afghanistan waren nie kolonisiert worden, hatten jedoch leidvolle Erfahrungen mit der politischen Einmischung der Kolonialmächte gemacht. Im 19. Jahrhundert waren sie zu schwach gewesen, um sich der Einflussnahme Grossbritanniens und Russlands zu erwehren, und mussten demütigende Zugeständnisse an die Europäer machen. Die Türkei entging nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg nur knapp der Aufteilung durch die Grossmächte.
Unter der energischen Führung Atatürks gelang es den türkischen Nationalisten jedoch, die Einheit und Unabhängigkeit des Landes zu verteidigen und eine tiefgreifende Transformation des Staates einzuleiten. Atatürk wurde dadurch zum Vorbild für Reformer in der ganzen Region. Amanullah Khan wie auch Reza Schah zeigten sich bei Reisen durch die Türkei tief beeindruckt von Atatürks Reformen und versuchten, diese im eigenen Land nachzuahmen.
Atatürks Reformen dienten als Vorbild
Nach der Absetzung des Sultans 1922 und der Ausrufung der Republik 1923 brachte Atatürk in rascher Abfolge tiefgreifende politische, soziale und kulturelle Reformen auf den Weg. Das Kalifat wurde abgeschafft, religiöse Konvente wurden geschlossen und die Sufi-Bruderschaften verboten. Der islamische Kalender wurde durch den gregorianischen ersetzt, die arabische Schrift zugunsten der lateinischen Schrift abgeschafft und die türkische Sprache standardisiert. Das Straf- und das Zivilrecht wurden nach europäischem Vorbild reformiert.
Reza Schah und Amanullah Khan folgten in ihrer Politik dem Vorbild Atatürks, hatten jedoch eine völlig andere Ausgangslage. Amanullah Khan (1892–1960) war 1919 auf den Thron gelangt, nachdem sein Vater Habibullah auf einem Jagdausflug ermordet worden war. Nach einem erfolgreichen Krieg gegen die Briten, in dem er die vollständige Unabhängigkeit Afghanistans durchsetzte, genoss er hohes Ansehen und breiten Rückhalt bei den tribalen und religiösen Eliten.
Reza Schah (1878–1944) dagegen war nach dem Ersten Weltkrieg mithilfe der Briten zum neuen starken Mann Irans aufgestiegen. Zunächst liebäugelte der Oberst eines Kosaken-Regiments mit der Ausrufung einer Republik wie in der Türkei, doch stiess die Abschaffung der Monarchie im Klerus und bei den Briten auf Widerstand. Daher wählte ihn das Parlament im Dezember 1925 an der Stelle des diskreditierten letzten Herrschers der Kadjaren-Dynastie zum Schah.
Ein Mann des Militärs ohne politisches Geschick
Reza Schah war wie Atatürk ein Mann des Militärs mit einem Hang zum Autoritarismus. Er hatte aber weder Atatürks politisches Gespür und Geschick noch dessen persönliches Charisma oder rhetorisches Talent. Die Menschen waren für ihn Untertanen, keine mündigen Bürger, die es zu überzeugen galt. «Nachdem er 1925 Schah geworden war, hatte er wenig Kontakt mit den gewöhnlichen Leuten und unternahm keinen Versuch, seine Pläne für Iran zu erklären oder im Volk Unterstützung dafür zu mobilisieren», schreibt dazu der Iranist John R. Perry.
Amanullah hingegen war überzeugt davon, dass die Bürger seine Reformen mittragen würden, wenn sie ihren Sinn verstanden hätten. Daher mass er Bildung hohe Bedeutung bei und setzte sich für die Gründung zahlreicher Schulen ein. Wie der Politologe Leon B. Poullada in einer Studie über Amanullahs Reformen schreibt, setzte der Emir mehr auf Überredung denn auf Zwang. In der tribalen Gesellschaft Afghanistans hätten ihm dies viele jedoch als Schwäche ausgelegt.
Amanullah war eine komplexe und widersprüchliche Persönlichkeit. Der junge Emir galt als zugänglich, charmant und humorvoll, aber auch als impulsiv und selbstbewusst bis zur Arroganz. Er kleidete sich einfach, arbeitete bis spät in die Nacht und interessierte sich auch für die kleinsten Details der Politik. Er liebte Sport und schnelle Autos und galt als mutig bis tollkühn. Vertraute beschrieben ihn als zutiefst gläubig, doch hielt er wenig von äusseren Formen der Frömmigkeit. Dies brachte ihm bald den Vorwurf ein, ein Ungläubiger zu sein.
Der afghanische Staat existierte nur in Ansätzen
In seinem Denken war Amanullah seit seiner Jugend stark beeinflusst von dem liberalen Intellektuellen und Nationalisten Mahmud Tarzi, dessen Tochter Soraya er später heiratete. Tarzi hatte viele Jahrzehnte im Exil in der Türkei gelebt und war geprägt von den Ideen der Jungtürken. In seiner Zeitschrift «Siraj-ul-akhbar» («Fackel der Neuigkeiten») warb Tarzi für einen Nationalismus auf der Grundlage eines modernen Islams, um die Grösse und Einheit Afghanistans wiederherzustellen.
Amanullahs Grossvater Abdur Rahman hatte mit brutaler Gewalt die Stämme geeint, doch beschränkte sich die Kontrolle des Staates weiter auf die Städte. Amanullah suchte daher den Staat durch die Reform der Verwaltung und des Steuerwesens auf eine solidere Grundlage zu stellen. Nach dem erfolgreichen Krieg gegen die Briten nutzte er sein Ansehen, um eine Reihe von Reformen einzuleiten, die in der liberalen Verfassung von 1923 ihren ersten Höhepunkt erreichten.
Auch Reza Schah suchte den Zentralstaat zu stärken und die Macht in der eigenen Hand zu bündeln. In Persien hatte es im 19. Jahrhundert ähnlich wie im Osmanischen Reich Bemühungen gegeben, mithilfe europäischer Finanz-, Rechts- und Militärexperten die Verwaltung und die Armee zu restrukturieren und ein modernes Bildungssystem aufzubauen. Anders als im Osmanischen Reich waren diese Reformen in Persien aber nur Stückwerk geblieben.
Der Widerstand entzündete sich am Hut
Während Atatürk in der Türkei an frühere Reformen anknüpfen und auf einen funktionierenden Staatsapparat aufbauen konnte, musste Reza Schah diesen erst erschaffen. Für beide Männer war das Ideal die Einheit von Staat und Nation mit einer einheitlichen Sprache und Kultur im ganzen Land. Entsprechend suchten sie, die Minderheiten zu assimilieren – wenn nötig mit Zwang. Die Aufstände der Kurden schlug Atatürk brutal nieder. Reza Schah siedelte rebellische Nomadenstämme mit Gewalt um und liess ihre Eliten massakrieren.
Um zum «zivilisierten» Westen aufzuschliessen, habe ein «neuer Mensch» geschaffen werden sollen, «der die überholten Sitten der osmanischen Türkei und des kajarischen Persien zurücklassen und sich der dominanten Kultur des Westens anpassen würde», schreibt der Historiker Houchang Chehabi. Angesichts der Tiefe des Grabens zum Westen hätten Atatürk und Reza Schah «das Tempo des sozialen Wandels durch drastisches staatliches Handeln beschleunigen» wollen.
Diese Politik stiess aber auf Widerstand. In beiden Ländern entzündete sich der Protest bezeichnenderweise an der symbolträchtigen Reform der Kleidung. In der Türkei verfügte Atatürk 1925, dass alle Männer statt des osmanischen Fez künftig einen europäischen Hut mit Krempe tragen sollten. Atatürk empfand den Fez als altmodisch, reaktionär und demütigend. Er meinte, dass der Fez die Türken unter den «zivilisierten» Nationen Europas der Lächerlichkeit preisgebe.
Ein oberflächliches Verständnis von Modernität
Viele fromme Muslime lehnten den europäischen Hut jedoch als fremd und unislamisch ab. In Kayseri, Erzurum und Maras kam es zu Aufständen, die Atatürk nur mit Gewalt beenden konnte. Trotzdem ordnete Reza Schah zwei Jahre später auch in Iran das Tragen der sogenannten Pahlavi-Kappe an und führte 1935 den europäischen Hut ein. Amanullah übernahm ebenfalls Anzug und Hut, doch beschränkte sich die Reform auf den Hof in Kabul.
Die Reformer sahen Anzug und Hut nicht als spezifisch westlich, sondern als universellen Ausdruck der Moderne. Äusserliche Uniformität galt ihnen als Schritt zur nationalen Einheit. Eine einheitliche Kleidung sollte helfen, die religiösen und ethnischen Unterschiede im Land zu überdecken. Die Reform der Kleidung hatte zudem den Vorteil, dass sie sich schnell durchsetzen liess. Dabei ging vergessen, dass eine moderne Kleidung noch keinen modernen Menschen macht.
Gerade Reza Schah bemühte sich nur wenig, seine Reformen den Bürgern zu erklären und diese von ihrem Sinn zu überzeugen. Schon früh verprellte der einstige Kosakenführer Klerus und Basarhändler, und auch den Rückhalt der staatstragenden Eliten verlor er mit seiner Willkür- und Gewaltherrschaft. Als die Briten ihn nach Beginn des Zweiten Weltkriegs 1941 zum Rücktritt zwangen, weil sie ihn der Sympathien für die Deutschen verdächtigten, atmeten viele Iraner erleichtert auf.
Amanullahs Reformen waren zum Scheitern verurteilt
Amanullah ging in Afghanistan sehr viel behutsamer vor und bemühte sich, das Volk für seine Reformen zu gewinnen. Seine Mittel entsprachen jedoch nie seinen Ambitionen. Viele seiner Reformen blieben auf Kabul und andere grosse Städte beschränkt, wurden von den Betroffenen ignoriert oder mangels des nötigen Personals und der erforderlichen Strukturen nicht umgesetzt. Die Schulpflicht etwa blieb weitgehend Theorie, weil es an Schulen und Lehrern fehlte.
Unter dem Eindruck einer Europareise, die Amanullah auch durch Iran und die Türkei Atatürks geführt hatte, lancierte er 1928 eine Reihe noch ambitionierterer Reformen. Unter dem Einfluss seiner Frau Soraya rief er etwa die Frauen auf, den Schleier abzulegen und die strikte Geschlechtertrennung aufzugeben. Wie er in einer viertägigen Rede im Oktober 1928 der Öffentlichkeit darlegte, wollte er nicht länger einzelne Reformen, sondern eine umfassende Revolution.
Die Reformen kamen jedoch nie über die Konzeptionsphase hinaus, da Amanullah im Januar 1929 durch einen Stammesaufstand gestürzt wurde. Die Revolte war wohl weniger eine Reaktion auf Amanullahs gesellschaftliche Reformen (die auf dem Land kaum spürbar waren) als die Folge des Versuchs, die Kontrolle des Staates über die Stämme auszuweiten. Sein Appell zum Ablegen des Schleiers oder die Einführung von Anzug und Hut machten es seinen Gegnern allerdings leicht, ihn als Ungläubigen und Feind des Islams zu brandmarken.
Nach seinem Sturz ging Amanullah ins Exil nach Italien. Eine Zeitlang hoffte er noch, auf den Thron in Kabul zurückzukehren. Am Ende verstarb er, verarmt und in der Heimat verfemt, in Zürich. Rückblickend war sein Versuch, aus der traditionellen Stammesgesellschaft Afghanistans einen modernen Nationalstaat zu machen, wohl zum Scheitern verurteilt. Selbst den Präsidenten Hamid Karzai und Ashraf Ghani, die mit Unterstützung des Westens von 2001 bis 2021 in Kabul regierten, ist dies nie gelungen. Nach der Rückkehr der Taliban an die Macht ist eine Modernisierung Afghanistans entfernter denn je.