Als Symbol der muslimischen Einheit verfügt die Institution bis heute über Strahlkraft. Dies machen sich auch Terroristen zunutze.
Als der Führer der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) Abu Bakr al-Baghdadi nach der Einnahme Mosuls im Juni 2014 zur Menge sprach, stellte er den Muslimen eine lichte Zukunft in Aussicht: «Erhebt eure Häupter, denn mit Gottes Gnade habt ihr von heute an wieder ein Kalifat, das euch eure Würde und Macht zurückgibt.»
Dass sich der Massenmörder zum neuen Kalifen ausrief und sich so in die Nachfolge des Propheten stellte, wurde in der muslimischen Welt weitum als Anmassung empfunden. Legitimität oder Anerkennung verlieh der Auftritt Baghdadi nicht.
Dennoch bewies er mit dem Schritt politischen Instinkt. Denn über Strahlkraft verfügt das Kalifat als das von Gott gewollte Reich der Muslime weiterhin – auch wenn das Amt des Kalifen mittlerweile seit einem Jahrhundert verwaist ist.
Schlussstrich unter die osmanische Herrschaft
Am 4. März 1924 trat in der Türkei das Gesetz 431 in Kraft. Per Mehrheitsbeschluss hatten die Abgeordneten in Ankara dem Kalifat, jener Institution, die während dreizehn Jahrhunderten einen Führungsanspruch in der muslimischen Welt erhoben hatte, ein denkbar profanes Ende bereitet – und damit die säkulare, nationale Identität der neugegründeten Republik gestärkt.
Die osmanischen Sultane verfügten dank dem Kalifentitel nicht nur über weltliche Macht in ihrem Reich, sondern auch über spirituelle Autorität jenseits der Grenzen. Nach dem Ende des Sultanats im November 1922 liess der Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk das Kalifat vorerst bestehen, aus Rücksicht auf religiöse Befindlichkeiten in der Bevölkerung der noch jungen Republik.
Der Titel wurde auf einen Cousin des letzten Sultans übertragen. Als Kalif von republikanischen Gnaden fehlte es Abdülmecit aber immer an Autorität. Das Gesetz vom März 1924 zog einen endgültigen Schlussstrich unter die osmanische Epoche. Zusammen mit dem letzten Kalifen mussten alle Angehörigen des Hauses Osman die Türkei verlassen.
«Das Ende des Kalifats war für viele Muslime ein traumatisches Ereignis», erläutert Carool Kersten, der an der Universität Löwen Islamwissenschaften lehrt. «Die Existenz des Kalifen als Beschützer der Gläubigen hatte etwas Tröstendes.» Dass der Begriff im Westen wegen des IS heute meist im Zusammenhang mit islamistischem Terror falle, werde der Bedeutung dieser Institution nicht gerecht.
Ein politisches Instrument
Im Gegensatz zu früheren Dynastien konnten die Osmanen ihren Anspruch auf die Kalifenwürde nicht von der direkten Abstammung vom Propheten herleiten. Legitimität zogen sie aus der Kontrolle über die heiligen Stätten in Mekka, Medina und Jerusalem und, ganz allgemein, der Tatsache, dass sie über das mächtigste muslimische Reich ihrer Zeit herrschten.
Als erster Sultan führte Selim I. den Titel, nachdem er Anfang des 16. Jahrhunderts Ägypten und die Arabische Halbinsel erobert hatte. Er überführte Reliquien wie den Mantel des Propheten nach Istanbul und liess die Inschrift «Schatten Gottes auf Erden» über dem Haupttor zum Topkapi-Palast anbringen.
Zu einem politischen Instrument wurde der Kalifentitel aber erst im 19. Jahrhundert unter Abdülhamid II., dem wichtigsten Sultan in der Spätphase des Reiches. Seine Fürsprache für die gesamte muslimische Welt war eine Reaktion auf die immer grösser werdende europäische Einflussnahme auf das Osmanische Reich, die nicht zuletzt mit dem Schutz der christlichen Minderheiten begründet wurde.
Unterstützung für seine panislamischen Ambitionen erhielt der Sultan unter anderem vom deutschen Kaiser. Der grosse Deutsche Brunnen in Sichtweite der Hagia Sophia etwa, ein Geschenk Wilhelms II., zeugt bis heute von Berlins damaligem Bemühen um gute Beziehungen zur Hohen Pforte. Die Hoffnung war, dass eine Allianz mit dem Kalifen Deutschland im Kriegsfall die Unterstützung der Muslime in den britischen und französischen Kolonialgebieten sichern würde.
Tatsächlich rief Abdülhamids Nachfolger Mehmed V. nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Muslime weltweit zum Jihad auf. Militärisch blieb der Schritt folgenlos. Zum Symbol für den muslimischen Kampf gegen die Kolonialherrschaft wurde das Kalifat dennoch, vor allem in Britisch-Indien.
Nationalstaatliche Identität stärker als Panislamismus
«Als Symbol der muslimischen Einheit hat das Kalifat immer eine gewisse Bedeutung behalten», sagt der Islamwissenschafter Kersten. «Aber mehr als abstrakte Ambition denn als ein konkretes Vorhaben.» Zwar habe es auch nach 1924 Anwärter auf das Amt gegeben, etwa König Fouad von Ägypten, den saudischen Fürsten Abdulaziz oder den Sherifen (Gouverneur) von Mekka. Aber niemand habe über die notwendige breite Akzeptanz verfügt.
Mit dem Osmanischen Reich ging das letzte Reich unter, das über eine unbestrittene Vorrangstellung in der muslimischen Welt verfügte. Wie in der türkischen Republik wurde auch in der arabischen Welt in den folgenden Jahrzehnten der Nationalstaat für die Identitätsstiftung wichtiger als der Panislamismus.
Ein Gegentrend setzte erst mit dem Erstarken des politischen Islam ein. Doch selbst in islamistischen Kreisen blieb, bis zur Selbsternennung des IS-Führers Baghdadi, die Wiederherstellung des Kalifats bestenfalls ein Fernziel.
«Ein Kalif hätte die Gründung Israels nicht zugelassen»
Eine Ausnahme bildete immer die fundamentalistische Bewegung Hizb ut-Tahrir. Die «Befreiungspartei», so die wörtliche Übersetzung, wurde in den frühen fünfziger Jahren in Ostjerusalem unter dem Eindruck der arabischen Niederlage im Krieg gegen Israel von 1948 von einem palästinensischen Gelehrten des islamischen Rechts gegründet.
Nur in einem geeinten, den Gesetzen der Scharia folgenden Staat, so die Überzeugung, könne sich die muslimische Welt gegen die Erniedrigungen durch den Westen wehren. Ein Kalif hätte die Gründung des jüdischen Staates niemals zugelassen, lautet ein bis heute vorgebrachtes Argument. Das Existenzrecht Israels lehnt die Organisation ab.
Hizb ut-Tahrir ist in vielen Staaten verboten, auch in muslimisch geprägten Regionen wie der arabischen Welt oder in Zentralasien. Grossbritannien hat unter dem Eindruck des Gaza-Kriegs im Januar ein Verbot der Organisation ausgesprochen, wegen offenen Antisemitismus und der Anpreisung von Terrortaten, einschliesslich des Hamas-Angriffs vom 7. Oktober, wie es in der Begründung hiess. In Deutschland gilt bereits seit 2003 ein sogenanntes Betätigungsverbot.
Türkei duldet Anhänger des Kalifats
In der Türkei ist die Situation undurchsichtig. Die beiden höchsten Gerichte widersprechen sich in ihrer Einschätzung der Legalität von Hizb ut-Tahrir. Faktisch ist die Organisation zumindest geduldet. Die Webseite ist zwar blockiert, doch einige Sympathisanten treten auch öffentlich auf und geben sogar Interviews.
«Wir wollen das System verändern, aber nicht mit Gewalt», sagt Muhammed Emin Yildirim von Köklü Degisim im Gespräch. Das Medienunternehmen ist in der Türkei so etwas wie die inoffizielle Pressestelle der Organisation. «Wir lehnen strikt ab, was der IS im Namen des Islam getan hat. Das fügt unserer Sache nur Schaden zu. Wir versuchen die Menschen mit Argumenten zu überzeugen.» Wie das konkret geschehen soll, führt Yildirim nicht aus. An politischen Prozessen wie Wahlen nimmt Hizb ut-Tahrir aus Prinzip nicht teil.
Dass die Organisation in der Türkei relativ unbehelligt bleibt, ist trotz ihrer marginalen politischen Rolle bemerkenswert. Denn eigentlich verfolgt der Staat jegliche Infragestellung der verfassungsmässigen Ordnung mit grosser Härte. Der Ruf nach Kalifat und Scharia lässt sich mit einer säkularen Republik nicht vereinen.
Für Diskussionen sorgte ein Vorfall bei einer Solidaritätskundgebung für Gaza am Neujahrstag. Dabei kam es zu einem Handgemenge zwischen einem Studenten und einem Demonstranten, der eine Flagge mit einem Bekenntnis zum Kalifat trug. Dass die Polizei daraufhin nur den Studenten in Gewahrsam nahm, erregte in säkularen Kreisen Empörung.
Dasselbe gilt für das Verfahren, das die türkische Staatsanwaltschaft im Februar gegen die Anwältin Feyza Altun eröffnet hat, weil sie sich auf der Plattform X abfällig und in derben Worten zur Scharia geäussert hatte. Die staatliche Religionsbehörde erhob deshalb Anklage wegen der Verletzung religiöser Gefühle.
Erdogan tritt als Fürsprecher der Muslime auf
Im Lager der säkularen Regierungsgegner lassen solche Vorfälle die Alarmglocken schrillen. Präsident Erdogan weicht schliesslich seit zwei Jahrzehnten einige von Atatürks ehernen Prinzipien auf. Soll die Türkei dereinst wieder ein islamischer Staat werden? Doch auch wenn die Religion heute tatsächlich wieder eine prominente Rolle im öffentlichen Leben spielt, steht freilich weder die Wiedereinführung der Scharia noch des Kalifats auf der Tagesordnung.
Mit historischen, panislamischen Bezügen spielt Erdogan aber durchaus, etwa wenn er, wie bei einer grossen Palästina-Demonstration im Oktober, als Wortführer aller Muslime auftritt. In die Fussstapfen der Osmanen tritt er damit aber höchstens symbolisch. Trotz ihrer wachsenden geopolitischen Bedeutung, ihrer militärischen Schlagkraft und ihrer beträchtlichen Soft Power ist die Stellung der heutigen Türkei in der muslimischen Welt nicht mit jener des osmanischen Reiches zu vergleichen. Saudiarabien oder Iran würden eine türkische Führungsrolle nicht akzeptieren.
Wie realistisch es denn sei, dass eines Tages wieder ein Kalifat entstehe, fragen wir zum Abschluss den islamistischen Aktivisten Yildirim. «Die Institution wurde vor hundert Jahren abgeschafft, und noch immer sprechen wir davon», antwortet er. «Ausserdem ist es Gottes Wille.»