Eine Studie der Kindernothilfe thematisiert sexuelle Gewalt gegen ukrainische Kinder. Sie illustriert zugleich, mit welchen Hürden die Ermittlungsbehörden konfrontiert sind.
Kinder können für die Konflikte dieser Welt nichts, doch sie leiden unter ihnen besonders. Das gilt auch für den Krieg in der Ukraine. Ein bis anhin wenig betrachtetes Leid thematisiert nun eine Studie des deutschen Hilfswerks Kindernothilfe über den Missbrauch von Kindern durch russische Soldaten.
Die Organisation verweist auf Zahlen der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft. Seit der russischen Invasion im Februar 2022 seien 13 Fälle zur Anzeige gebracht geworden, in denen russische Soldaten sexuelle Gewalt gegen ukrainische Kinder ausgeübt haben sollen. Zum Vergleich: Abseits des Krieges seien 2023 in der gesamten Ukraine 915 Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder registriert worden.
Hohe Dunkelziffer vermutet
Um diese Zahlen einzuordnen, haben die Autoren der Studie mit Wissenschaftern und Vertretern von Nonprofit-Organisationen aus der Ukraine, Deutschland und den USA sowie mit einer ukrainischen Staatsanwältin gesprochen. Die Aussagen der Experten verdichten die Studienautoren zu der Schlussfolgerung, dass die Dunkelziffer hoch sei.
Diese Einschätzung geht auch auf ein Gespräch mit der ukrainischen Staatsanwältin Anna Sosonska zurück. Sie habe den Studienautoren bestätigt, dass nicht alle ihr bekannten kriegsbezogenen Missbrauchsfälle an Kindern zur Anzeige gebracht würden. Die Gründe dafür seien vielfältig, wie die Studie der Kindernothilfe betont.
In den von den Russen besetzten Gebieten fehle es schlicht an Daten. Und in den von der Ukraine zurückeroberten Gebieten brächten viele den Missbrauch durch russische Soldaten nicht zur Anzeige. Zu gross sei die Angst vor den Russen, wenn sie zurückkommen sollten.
Ohnehin vertrauen die meisten Ukrainer kaum den staatlichen Institutionen. Laut einer Umfrage des Kyiv International Institute of Sociology haben gerade einmal 41 Prozent der Ukrainer Vertrauen in die Polizei, bloss 26 Prozent vertrauen der Regierung und nur 12 Prozent den Gerichten.
Ukraine möchte Missbrauchsfälle besser dokumentieren
Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft hat auf die Missbrauchsfälle reagiert und eine eigene Abteilung für konfliktbezogene Fälle sexualisierter Gewalt eingerichtet. Die Ukraine ist darum bemüht, die von den russischen Soldaten verübten Kriegsverbrechen zu dokumentieren. Dazu zählt der Einsatz von sexueller Gewalt als Waffe.
Schon früh registrierten die Behörden Vergewaltigungen durch russische Soldaten an Menschen jedes Alters und Geschlechts. Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft vermutet darin eine gezielte Kriegstaktik der Russen, um die Bevölkerung zu demütigen.
Mit der Abteilung für sexualisierte Gewalt möchte die Justiz das Vertrauen der Ukrainer gewinnen, um die Fälle aufarbeiten zu können. Eine Arbeitsgruppe hat eine Leitlinie für Ermittlungsverfahren erarbeitet, welche die Bedürfnisse der Opfer in den Mittelpunkt stellt. Oft ist es dabei notwendig, die Anonymität der Opfer zu wahren.
In der Ukraine werden Opfer sexueller Gewalt häufig sozial geächtet. Die Kindernothilfe verweist auf die Gespräche mit den Experten aus der Ukraine: Wer in der Ukraine von einem Soldaten vergewaltigt werde, müsse sich oft vorwerfen lassen, er oder sie habe mit dem Feind kollaboriert. Missbrauchsopfer sind zudem meist traumatisiert und häufig erst nach Jahren in der Lage, über das ihnen zugefügte Leid zu sprechen. «Das wahre Ausmass der Problematik wird erst in den kommenden Jahren sichtbar werden», sagt Elias Dehnen, einer der Autoren der Studie – also dann, wenn die Opfer öffentlich sprechen.