Die Hälfte der Menschen im Gazastreifen leidet laut einem neuen Bericht an Hunger in einem «katastrophalen» Ausmass.
Nun trifft ein, wovor Hilfsorganisationen seit Monaten warnen: Die ersten Menschen in Gaza verhungern. Insgesamt seien es 27 Personen, unter ihnen 23 Kinder, schreibt das Gesundheitsministerium in Gaza, das von der Hamas geführt wird.
Hungersnöte werden nach der sogenannten Integrated Food Security Phase Classification (IPC) eingestuft. Die von der Uno geförderte Initiative hat ein fünfstufiges System entwickelt, nach dem sie beurteilt, wie viele Menschen wie stark von Hunger betroffen sind. Stufe fünf steht für «Katastrophe». In einem kürzlich veröffentlichten Bericht schreibt die IPC, dass sich 1,1 Millionen Personen – die Hälfte der Bevölkerung im Gazastreifen – in dieser katastrophalen Notlage befänden. Die gesamte Bevölkerung ist von Hunger mindestens auf Stufe drei betroffen, die laut der IPC für «Krise» steht.
Die Menschen in Gaza haben ihre Vorräte längt aufgebraucht, Lebensgrundlagen sind zusammengebrochen, viele Geschäfte oder Bäckereien wurden zerstört. Laut dem IPC-Bericht mussten fast zwei Drittel der Menschen im Norden in den letzten dreissig Tagen mindestens zehnmal einen ganzen Tag ohne Essen auskommen. Im südlichen Teil trifft dies auf ein Drittel zu.
Die Menschen essen Gras und kochen Suppen aus Blättern
Es ist sehr selten, dass die IPC eine Hungersnot deklariert. Seit der Einführung der Skala im Jahr 2004 geschah dies nur zweimal: 2011 in Somalia und 2017 im Südsudan. Im Gazastreifen werde die Hungersnot zwischen März und Juli eintreffen, mahnt die IPC. Ohne eine massive Erhöhung der Nahrungsmittellieferungen drohe besonders im nördlichen Teil ein Massensterben. Der Norden ist quasi komplett abgeriegelt. In diversen Medienberichten schildern Palästinenser aus dem Norden, dass sie in ihrer Not Gras essen und Suppen aus Pflanzenblättern kochen.
Die ersten Opfer solcher Krisen sind meistens die Schwächsten. Léo Cans, Leiter der Mission von Ärzte ohne Grenzen in Gaza, war kürzlich im Norden in einem Spital. In einem Interview mit dem französischen Sender BFMTV beschreibt er die Lage vor Ort als «apokalyptisch». Er habe gehört, dass ein einmonatiges Baby verhungert sei, weil die Mutter es nicht habe stillen können und Israel keine Säuglingsnahrung in den Norden des Gazastreifens liefere.
Akute Unterernährung ist für Kinder besonders schwerwiegend. Ihr Immunsystem wird geschwächt, so dass das Risiko stark ansteigt, wegen simpler Krankheiten zu sterben. Unterernährung stört zudem das Wachstum der Kinder, und sie werden in ihrer Entwicklung gehindert. Laut dem Welternährungsprogramm verzichten viele Eltern in Gaza zugunsten ihrer Kinder auf Essen.
Kritik von westlichen Verbündeten wegen der Hungersnot
Der Hunger im Gazastreifen bringt Israel scharfe Kritik seiner westlichen Verbündeten ein, die den Krieg gegen die Hamas nach dem Terrorangriff am 7. Oktober weitgehend unterstützen. Der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell sagte in Brüssel, Israel setze Hunger als Kriegswaffe ein. Das internationale humanitäre Völkerrecht verbietet es, Zivilisten als Mittel der Kriegsführung auszuhungern. Der israelische Aussenminister Israel Katz entgegnete Borrell, er solle das Recht auf Selbstverteidigung gegen die Verbrechen der Hamas anerkennen und aufhören, Israel anzugreifen.
Nach dem Hamas-Massaker hatte Israel den Gazastreifen zunächst komplett abgeriegelt. Ende Oktober erlaubte die israelische Regierung erste Hilfslieferungen durch den Grenzübergang bei Rafah an der ägyptischen Grenze. Einen Monat später erklärte sie sich auf internationalen Druck hin bereit, einen zweiten Grenzübergang im Süden bei Kerem Shalom zu öffnen und täglich 200 Lastwagen nach Gaza passieren zu lassen. Vor dem Krieg waren es etwa 500 Lastwagen pro Tag gewesen.
Im Februar sank die Zahl der Hilfslieferungen stark. Nur an vier Tagen im Monat wurde das Kontingent der 200 Lastwagen erreicht. Israelische Vertreter betonen, sie würden alles dafür tun, die humanitäre Lage zu verbessern. Die Regierung sperrt sich aber gegen eine Ausweitung der Hilfslieferungen. Israelische Medien berichten, dass die Armee zwar die Mittel hätte, die Zivilbevölkerung adäquat zu versorgen. Die Politik gebe ihr jedoch keinen Auftrag, die Hilfe auszuweiten. Ein solcher Schritt wäre im Volk unpopulär: In einer Umfrage des Israel Democracy Institute von Mitte Februar lehnten 70 Prozent der jüdischen Israeli Hilfslieferungen nach Gaza ab.
Die Kämpfe erschweren die Verteilung des Essens
Ebenfalls Mitte Februar blockierte Finanzminister Bezalel Smotrich Mehllieferungen für Gaza, die vom Hilfswerk UNRWA hätten verteilt werden sollen. Regelmässig versperren zudem israelische Aktivisten Lastwagen die Durchfahrt am Grenzübergang Kerem Shalom. Sie argumentieren, dass die Hilfsgüter in die Hände der Hamas gelangen und die Islamisten diese überteuert auf den Märkten verkaufen würden.
Auch die anhaltenden Kämpfe zwischen der israelischen Armee und den Hamas-Terroristen sind ein Hindernis dabei, dass Hilfsgüter die hungernden Menschen erreichen. Dies ist mit ein Grund für die katastrophale Lage im Norden. Ende Februar teilte das Welternährungsprogramm der Uno mit, dass es seine Lieferungen in den nördlichen Gazastreifen einstelle, da dort die öffentliche Ordnung zusammengebrochen sei. Nachdem mehrere Lastwagen geplündert worden seien, könne die Organisation die Sicherheit der Mitarbeiter nicht mehr gewährleisten.
Um die Not zu lindern, begannen Jordanien, die USA und Deutschland, aus der Luft Hilfsgüter mit Fallschirmen über dem Gazastreifen abzuwerfen. Den hungrigen Menschen hilft dies aber nur wenig: Die Mengen, die aus einem Flugzeug abgeworfen werden, entsprechen etwa einer kleinen Lkw-Ladung.