In dem Balkanstaat gibt es keine stabilen politischen Mehrheiten. Daran dürfte auch ein weiterer Urnengang nichts ändern.
Als am 6. Juni 2023 in Bulgarien die neue Regierung ihre Arbeit aufnahm, war die Erleichterung gross. Die Wahlen zwei Monate zuvor – der fünfte Urnengang innert zweier Jahre – hatten zwar schon wieder keine eindeutigen Mehrheitsverhältnisse hervorgebracht. Einmal mehr drohte die Regierungsbildung zu scheitern, was zur Einsetzung eines weiteren Übergangskabinetts durch Präsident Rumen Radew und zur Ausrufung von Neuwahlen geführt hätte.
Doch dann sprangen die beiden grössten Fraktionen über ihren Schatten und rauften sich zu einer Koalition zusammen. Die konservative Partei Gerb von Bojko Borisow, dem seit anderthalb Jahrzehnten prägendsten Politiker des Balkanlandes, und das Reformbündnis PP-DB («Wir setzen den Wandel fort – Demokratisches Bulgarien») einigten sich auf ein Rotationsmodell. Zuerst sollte PP-DB den Regierungschef stellen, dann Gerb.
Der Durchbruch war auch aussenpolitisch bedeutsam. Durch die jeweiligen Übergangsregierungen hatte Präsident Radew weit grösseren Einfluss gewonnen, als die Verfassung für das repräsentative Amt vorsieht. Radew tritt für eine ausgleichende Haltung gegenüber Russland ein und lehnt militärische Hilfe an die Ukraine ab. Gerb und PP-DB vertreten eine klare prowestliche, transatlantische Linie. Bulgarien ist ein wichtiger Produktionsstandort für Munition.
Rotation an Regierungsspitze gescheitert
Nun droht dem Land aber erneut politische Instabilität. Der vereinbarte Wechsel an der Regierungsspitze ist nach wochenlangen Verhandlungen gescheitert. Der bisherige Ministerpräsident Nikolai Denkow von PP-DB hat zwar vereinbarungsgemäss auf den 6. März sein Amt niedergelegt.
Doch seiner designierten Nachfolgerin von Gerb, der bisherigen Aussenministerin und früheren EU-Kommissarin Maria Gabriel, fehlt wegen eines koalitionsinternen Streits die Unterstützung. Am Montag hat Gabriel ihr Mandat für die Regierungsbildung deshalb zurückgegeben.
Nun erhalten die nächstgrösseren Fraktionen ihrerseits Gelegenheit, eine Mehrheit zu bilden. Dass dies gelingt, ist praktisch ausgeschlossen. Dann bleiben nur noch Neuwahlen. Es wäre naheliegend, diese zeitgleich mit den Europawahlen durchzuführen, vermutlich am 9. Juni.
Zweifel am Reformwillen
Der Streit zwischen den beiden Koalitionspartnern schwelt seit Wochen. Aussenpolitisch mögen sie nahe beieinanderliegen, doch in anderen Fragen, besonders bei rechtsstaatlichen Reformvorhaben, sind die Differenzen gross.
Die Reformer von PP-DB hatten noch im Februar einen Forderungskatalog für die Fortführung der Zusammenarbeit veröffentlicht. Darin ging es unter anderem um das Justizwesen und die Ernennung in Aufsichtsbehörden. Die Vorschläge wurden von Gerb abgelehnt.
Die designierte konservative Regierungschefin Gabriel legte daraufhin eine Kabinettsliste vor, die wiederum nicht mit den Reformern abgestimmt war. Seinen Höhepunkt erreichte der Streit, als der Finanzminister Asen Wasiljew von PP-DB vergangene Woche Gabriel als das «neue hübsche Gesicht der Mafia» bezeichnete.
Misstrauen gegenüber Borisow
Die Reformer sind während der Protestbewegung vor drei Jahren gross geworden, als während Monaten empörte Bürger gegen den «Mafiastaat» auf die Strasse gingen. Die Wut richtete sich vor allem gegen den damaligen Regierungschef Borisow und Generalstaatsanwalt Iwan Geschew, die für die epischen Korruptionsprobleme im Land und den grossen Einfluss krimineller Netzwerke verantwortlich gemacht wurden.
Für die Reformkräfte war die Zusammenarbeit mit der Partei Borisows, dem sie jede Reformbereitschaft absprechen, deshalb immer ein Problem. Die inoffizielle Unterstützung durch Deljan Pejewski, eine der zwielichtigsten Figuren der bulgarischen Politik, macht die Sache nicht besser. Der Medienmogul und Vorsitzende der DPS, einer dem Namen nach liberalen Partei, wurde von den USA mit Strafmassnahmen unter der Magnitsky Act belegt.
Allerdings gibt es im Parlament auch keine wirklichen Alternativen für eine Zusammenarbeit, vermutlich auch nicht nach einem weiteren Urnengang. Von der wachsenden Politikverdrossenheit dürfte am ehesten die radikale Wiedergeburt profitieren. Die prorussischen Ultranationalisten, die unter anderem Bulgariens Austritt aus der Nato fordern, sind allerdings weitgehend isoliert. Es wäre keine Überraschung, wenn nach allfälligen Neuwahlen erneut nur Gerb und PP-DB eine stabile Mehrheit bilden könnten.
Prowestliche Mehrheit im Parlament
Auch der prowestliche Kurs des Landes ist nicht in Gefahr. Seit der Verfassungsänderung vom letzten Herbst wird bei der Einsetzung einer Übergangsregierung das Parlament nicht mehr aufgelöst und bleibt bis zu den Neuwahlen in Kraft.
Die vom Präsidenten ernannten Minister müssen also auf die herrschenden prowestlichen Mehrheitsverhältnisse im Parlament Rücksicht nehmen. Aussenpolitische Kehrtwenden macht das unwahrscheinlich. Erst kürzlich wurden im Rahmen einer grösseren Lieferung von bulgarischem Armeematerial für die Ukraine die ersten dreissig gepanzerten Personentransporter verladen.