Manche Kinder schlagen um sich und schreien, sobald sie eine Spritze sehen. Ein Kinderarzt und Kommunikationstrainer gibt Tipps für den Umgang mit den jungen Patienten. Ein Beitrag aus der Rubrik «Hauptsache, gesund».
Bis meine Tochter fünf Jahre alt war, wurde sie vier Mal operiert. Mittlerweile ist sie sieben Jahre alt. Wir haben immer noch regelmässig Arzttermine, sie ist zum Glück neugierig und meist gut gelaunt. Aber sobald irgendjemand aus einem medizinischen Team ihr zu nahe kommt, wird sie panisch.
Bei ihrer vorletzten Vollnarkose schlug sie um sich und schrie. Die Lösung der Ärztin: «Halten Sie Ihr Kind fest.» Bei ihrer letzten Narkose verweigerte sie sich wieder. Der Vorschlag des Personals: «Sprechen Sie mit Ihrem Kind, wir gehen so lange raus.» Weil mir nichts Besseres einfiel, zückte ich das kleine Geschenk, das ich ihr erst nach dem Eingriff geben wollte. Ich erlaubte ihr, es schon einmal zu öffnen – wenn sie jetzt «gut mitmacht». Es funktionierte.
Doch kürzlich beim Augenarzt ging wieder alles schief. Mit all ihrer Kraft wehrte sie sich gegen die Augentropfen. Letztlich musste ich die Tropfen mit nach Hause nehmen und sie ihr in der Nacht vor dem neuen Termin verabreichen.
Als ich vor kurzem bemerkte, dass zwei ihrer Impfungen seit einem Jahr überfällig waren, wurde mir mulmig zumute. Wie sollte ich mein Kind davon überzeugen, zu kooperieren? Ich redete mit meiner Tochter.
Sie erinnerte mich an das Geschenk, das sie bei der Narkose bekommen hatte. «Jetzt will ich ein grosses Stofftier-Einhorn», sagte sie. Und ich dachte: Bin ich nun gefangen in einer Spirale aus immer grösser werdenden Motivationsgeschenken?
Ich war ratlos. Kurz vor dem Impftermin sprach ich deshalb mit Wolfgang Kölfen, dem ehemaligen Chefarzt der Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin in Mönchengladbach. Er hat ein Buch über die erfolgreiche Kommunikation mit jungen Patienten geschrieben.
Kölfen sagt, Geschenke sollte man vermeiden, der geforderte Einsatz wachse stetig. Seine für mich wichtigste Empfehlung lautet: «Stellen Sie sich ein Ärzteteam zusammen, das nicht nur die Technik, sondern auch die Kommunikation beherrscht.» Solche Ärzte bauen eine Verbindung zum Kind auf und lenken es mit Geschichten ab. Ein Narkosearzt zum Beispiel könne von einer Traumreise sprechen, die das Kind unternehmen dürfe. Der Venenkatheter wird dabei zur Propellermaschine. Sie setzt auf dem Arm zur Landung an, um noch einmal vollzutanken.
So etwas habe ich bisher noch nicht erlebt. Und geplant ist, dass meine Tochter schon am nächsten Tag geimpft wird. Kann ich selbst noch etwas tun? Magischer für das Kind sei es, wenn der Arzt eine Geschichte erzähle. Aber ich selbst könne es auch versuchen. Kölfen rät, im Wartezimmer irgendeine spannende Geschichte zu erzählen und im Behandlungszimmer fortzufahren, damit die Impfung nicht allzu stark in den Fokus des Kindes gerate.
In der Theorie klingt das gut. In der Praxis besteht meine Tochter auf einem Geschenk. Wir einigen uns auf eine Kleinigkeit, die sie zur Hälfte von ihrem Taschengeld bezahlen muss. Mit dem Spielzeug in der Hand sitzt sie in der Praxis, und ich lese ihr eine aufregende Geschichte vor. Als der Arzt kommt, spielt im Buch gerade ein Krake Karussell und wirbelt Fischkinder wild umher.
Der Arzt drückt mir ein tassengrosses Blechkarussell in die Hand. Wie passend. Er und seine Assistentin tupfen beide Oberarme meiner Tochter ab. Ihr Blick wird panisch. Ich drehe das Spielzeug und erzähle von dem Fisch aus dem Krakenkarussell. Mein Kind schaut entsetzt auf seine beiden Oberarme, auf das Geschenk neben sich und die erzählende Mutter vor sich – und da sagt der Arzt: «Das war es schon.» Die Stimme meiner Tochter zittert, aber sie hat es geschafft.
Selig kommt sie nach Hause und zeigt ihre Belohnung der kleinen Schwester. «Und wann werde ich endlich einmal geimpft?», fragt diese. Mir schwant Übles. Die Strategie mit den Geschenken sollte ich überdenken. Ein wenig entlaste ich mich aber von meinen mütterlichen Schuldgefühlen, denn Kölfen betont: «Eigentlich ist es gar nicht Ihr Job, das Kind für die Behandlung fit zu machen, sondern der des Arztes.»
In der wöchentlichen Rubrik «Hauptsache, gesund» werfen die Autorinnen und Autoren einen persönlichen Blick auf Themen aus Medizin, Gesundheit, Ernährung und Fitness. Bereits erschienene Texte finden sich hier.
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