Ein Besuch im Heim der Vergessenen.
Das Heim der Vergessenen liegt in einem ruhigen, grauen Tal. Es ist ein Hochhaus, für hiesige Verhältnisse zumindest. Sieben Stockwerke, Beton, Panzerglas. Draussen Äcker, Bäche und die Dächer der Ortschaft Bauma. Es liegt Schnee. Während unten in der Stadt Zürich der Frühling beginnt, ist hier noch Winter.
Drinnen sitzt Herr B. in seinem Zimmer. An der Wand ein Bibelvers, ein Mandala, ein Eishockeyspieler. Herr B. – um die 70, gelernter Funkmechaniker – drückt die Hand, wie andere eine Orange auspressen. Er trägt Finken, ein blaues Polo-Shirt, auf der Hose sind Essensflecken. Sein weisser Bart wächst wild.
Dann erzählt er von dem Abend, der ihn hierher brachte.
Er sei noch in der Stadt gewesen, habe in einem Restaurant einen Zweier Roten bestellt. Dann sei er mit dem Bus nach Hause, in das Altersheim in der Region Bern, in dem er damals wohnte. Dort habe er es dann bemerkt.
«Ein Pyjama-Oberteil hat gefehlt», sagt Herr B. Genau beschreibt er den Schrank, in dem es hätte sein sollen. Er beschreibt das Oberteil (es war grün) und holt ein ähnliches aus seinem Schrank.
«Es war einfach nicht mehr da», sagt Herr B. «Da habe ich das Militärmesser genommen, das alte von meinem Vater.» Er greift vor sich in die Luft, nach einer imaginären Klinge. «Ich bin in den Gang gelaufen und habe der Pflegerin so» – er schlägt sich mit der geballten Faust auf die Schulter – «in den Hals gestochen. Und dann nochmals.»
Herr B. spitzt die Lippen, seine Augen sind klein, kalt und blau, seine Stimme warm und freundlich, berndeutscher Singsang. Er spricht so distanziert über seine Tat wie andere über das Wetter. Die Diagnose, die ihm die Ärzte gestellt haben? «Schizophren, Psychopath.»
Er bereue seine Tat, sagt er zum Abschied, fast beiläufig. «Danke für Ihre Offenheit», sage ich. «Kein Problem», sagt er. «Ich habe nichts zu verbergen. Ich bin schliesslich Schweizer, kein Ausländer.»
Draussen im Gang ist es ruhig, Mittagszeit. Nur ab und zu kommt aus einem Zimmer ein Schimpfwort oder ein Schrei. Von der geschlossenen Abteilung, in der Herr B. wohnt, führt eine Tür aus Panzerglas auf die offene Station. Eine Frau läuft dort den Gang entlang, langsam, mit schlurfenden Schritten und leerem Blick, in der Hand ein Päckchen Zigaretten. Sie steuert auf die Raucherterrasse zu.
Ein «Wow» hört man in diesem Pflegeheim selten, und doch sollen die Bewohner Alltägliches wieder geniessen lernen.
Die letzte Station der «Systemsprenger»
Das Pflegezentrum Bauma im abgelegenen Tösstal ist ein Ort für diejenigen, die sonst nirgendwo mehr hin können: Austherapierte, Langzeitpatienten, Verwahrte. Wer hier wohnt, ist in der Regel schwer psychisch krank, oft auch suchtkrank oder kognitiv beeinträchtigt. Viele dieser «Systemsprenger» sind Dauergäste in psychiatrischen Institutionen. Sie treten ein und aus, ohne dass sich ihr Zustand bessert.
«Wir sind für sie der Ausweg aus der Drehtüre der Psychiatrie», sagt Anton Distler, der Leiter der Pflege. «Bei uns liegt der Fokus auf dem Verbleib.»
Für Schlagzeilen sorgt das Pflegezentrum Bauma normalerweise nur, wenn etwas Schlimmes passiert. Vor einigen Wochen etwa, als ein Bewohner einen anderen niederstach – ein Vorfall, der laut dem Heim präzedenzlos ist und den das Opfer mit Glück überlebte.
Weniger Aufmerksamkeit erhält die tägliche Arbeit hier – obwohl sie schweizweit ziemlich speziell ist.
162 Plätze hat das Pflegezentrum. Austritte in die Eigenständigkeit – eine eigene Wohnung, eine betreute WG – gibt es maximal ein bis zwei pro Jahr. Im Durchschnitt bleiben die Bewohnerinnen und Bewohner über zehn Jahre hier. Drei bis sechs Jahre wartet man in der Regel auf einen Platz. Auf der Warteliste stehen stets um die 200 Namen.
«Die Leute kommen zu uns, wenn alle Therapieversuche gescheitert sind», sagt Distler. «Wir verfolgen keinen heilenden Ansatz, da müssen wir realistisch sein. Wir versuchen, ihnen etwas Stabilität zu geben.»
Distler ist stolz auf seine Institution. Wenn er durch das Haus führt, zeigt er auf die moderne Küche, auf das helle Pflegezimmer, die Waschanlagen und Aufenthaltszimmer. Hier soll es nicht wie im Heim oder gar im Gefängnis aussehen, sondern wie in einem Zuhause.
«Viele können Schönes kaum mehr geniessen. Ein ‹Wow› hören wir selten. Die Bedürfnisbefriedigung kommt zuerst», sagt Distler. Suchtmittelkonsum ist deshalb im ganzen Haus verboten. «Wir versuchen, die Bewohner wieder an gesundes Geniessen heranzuführen.»
Zum Beispiel in der Cafeteria, einem grossen, hellen Raum mit Sicht auf den Hang und eine Baustelle: den nächsten Erweiterungsbau.
Frau C. und ihr Traum
An einem Tisch sitzt nervös Frau C., knetet mit einer Hand die andere. Während sich der Raum langsam leert, erzählt sie, was sie hier alles tut: Gedächtnistraining, Kochgruppe, Ausflüge ins Hallenbad oder auf einen Bauernhof.
Vor allem aber träume sie von der Zukunft, sagt Frau C. «Ich möchte reisen. Ich möchte in eine WG ziehen. Ich möchte, dass man uns Menschen mit stationärer Massnahme wieder in die Gesellschaft integriert.»
Stationäre Massnahme: Die Gerichte sprechen sie aus, wenn eine Straftat im Zusammenhang mit einer psychischen Störung steht und die Täterin, der Täter deshalb als nicht schuldfähig gilt. Das Ziel ist dann die Behandlung der Störung. «Kleine Verwahrung» wird die strengste Form dieser Massnahme genannt. Denn: Wer ihr unterliegt, gilt als potenziell gefährlich. Bis sich das ändert, muss er oder sie versorgt bleiben.
In Bauma kommen stationär Versorgte wie Frau C. oder Herr B. in eine der geschlossenen Abteilungen. Weil sie sich bewährt habe, sich immer an die Regeln halte, erzählt Frau C., dürfe sie aber zu fixen Zeiten in die Cafeteria.
Dann ist diese Zeit vorbei, Frau C. nimmt den Lift und fährt hoch zu ihrem Zimmer. An der Türe kleben Bilder von Istanbul, «Türkei» hat Frau C. darüber geschrieben.
Dort möchte sie, wenn sie denn darf, als Erstes hin.
Zurück in der Cafeteria, kommt eine junge Frau auf uns zu, gekleidet in ein weites Plüschkleid, einen Stoffpinguin in der Hand. «Ich bin ein Universalgenie», sagt sie und fragt, ob wir sie hier nicht rausbringen können. Als wir verneinen, wird sie wütend und ruft: «Ihr glaubt auch nur, dass ich spinne!»
«Ich möchte, dass man uns wieder in die Gesellschaft integriert»: Frau C. in ihrem Zimmer.
Die stille Revolution der Psychiatrie
In der Psychiatrie findet seit zwanzig Jahren eine stille Revolution statt: Die Anzahl Langzeitpatienten sinkt dramatisch. Anfang der 2000er Jahre gab es in den Schweizer Psychiatrien noch rund 2000 Personen, die mehr als ein Jahr hospitalisiert waren. 2022 waren es weniger als 300.
Fast ganz verschwunden sind in dieser Zeit jene, die länger als 15 Jahre in der Psychiatrie sind: 300 waren es 2002, heute sind es nicht einmal eine Handvoll. Das zeigt eine Auswertung der nationalen Krankenhausstatistik, die das Bundesamt für Statistik (BfS) für die NZZ vorgenommen hat.
Bemerkenswert ist diese Entwicklung auch deshalb, weil der Trend bei den psychiatrischen Hospitalisierungen insgesamt in die umgekehrte Richtung zeigt: Sie steigen – von rund 50 000 im Jahr 2002 auf fast 90 000 zwanzig Jahre später.
Das Ziel der modernen Psychiatrie ist es, möglichst viele Patienten möglichst bald wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Die Zeit der Anstalten, in denen psychisch Kranke als «Irre» eingesperrt und vergessen wurden, ist vorbei. Ambulant vor stationär, lautet das Credo. Im Durchschnitt bleibt ein Patient heute 33 Tage in der Psychiatrie; vor 20 Jahren waren es 141 Tage.
Doch was ist mit denen, die draussen einfach nicht zurechtkommen? Die ein Leben lang intensive Unterstützung brauchen?
Die Daten des BfS geben darauf keine Antwort. Bei rund zwei Dritteln der Langzeitpatienten heisst es unter Austrittsort: «unbekannt».
Für den Pflegeleiter Distler aus Bauma ist klar: «Bei der psychiatrischen Langzeitpflege sind wir unterversorgt. Wir erleben das täglich: Der Bedarf ist höher, als dass wir ihn erfüllen könnten. Ambulant vor stationär – für die meisten hier funktioniert das schlicht nicht.»
Auch Erich Seifritz, Chefarzt Erwachsenenpsychiatrie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK), spricht von fehlenden Plätzen. Er sagt: «Man könnte ein zweites Heim wie jenes in Bauma aufstellen, und es wäre morgen voll.»
Die Folge: «Systemsprenger» aus der ganzen Deutschschweiz landen zwar früher oder später hier – aber oft erst, nachdem etliche weniger geeignete Institutionen an ihnen gescheitert sind.
Frau A. und ihre Narben
Auf der geschlossenen Frauenabteilung ist es still. Der Gang ist leer, der Aufenthaltsbereich auch. Glaswände reichen dort bis zum Boden, dahinter die Aussicht auf die Wiesen, Hügel und Dörfer im Tösstal. Die Sonne scheint, der Schnee glitzert.
Aber es ist, als sähe Frau A. das alles nicht.
Langsam läuft sie in den Raum und setzt sich auf ein weisses Sofa, ganz an den Rand, Füsse und Beine angewinkelt in Richtung Oberkörper. Als müsse sie sich ständig schützen vor der Welt um sie herum. Frau A. ist geschminkt, ihr Gesicht bleich, die Lippen rot. Auf ihrem Arm sind unzählige Narben, dünne bleiche Striche auf der Haut, einer neben dem anderen.
Vor gut einem Jahr ist sie nach Bauma gekommen. In der Psychiatrie, wo sie davor war, sei es gar nicht gut gegangen. Ein temporäres Setting, in dem sie aber mehrere Jahre festgehangen habe, bevor sie hierher habe kommen dürfen. «Jetzt geht es besser», sagt sie, «aber ich schaue immer noch manchmal nach oben.»
«Nach oben schauen»: So nennt Frau A. ihre Anfälle. «Dann geht mein Kopf hoch, die Augen drehen sich nach innen», sagt sie. Sie ist überzeugt, dass die Anfälle von den Medikamenten kommen. Und doch sind sie auch immer am stärksten, wenn ihre Familie zu Besuch kommt.
Frau A. hat eine traumatische Jugend hinter sich. Ihr Geld, erzählt sie, musste sie sich mit etwas verdienen, von dem sie nicht will, dass es in der Zeitung genannt wird. In psychiatrische Behandlung kam sie, nachdem sie Passanten mit einem Messer bedroht hatte. Daran erinnern könne sie sich nicht, sagt sie. Man habe bei ihr dann Schizophrenie und eine Borderline-Störung diagnostiziert.
Während sie erzählt, blickt Frau A. zur Seite, nach oben, auf den Boden, auf ihre Hände. Nur einmal blickt sie mich direkt an: als sie von den Tanzstunden erzählt, die sie hier nehmen kann, jeden Donnerstag.
Was ist ihre Hoffnung für die Zukunft? «Ich weiss es nicht», sagt Frau A. Dann steht sie langsam auf und kehrt auf ihr Zimmer zurück.
Draussen im Gang, wo es zuvor komplett ruhig war, beginnt eine Frau zu schreien. Sie trägt Flipflops, ein langes Kleid und hat nasses Haar. Vornübergebeugt steht sie vor ihrer Türe. Der Zimmerschlüssel, den sie um den Hals gehängt hat, steckt im Schloss. «Scheissverdammte Tür», schreit sie, «nicht einmal die funktioniert.»
Schallschutz, Panzerglas, Securitas: Erst vor ein paar Wochen kam es im Heim zu einem Messerangriff.
Straftäter, Verwahrte, Patienten
Was das Heim in Bauma speziell macht, ist seine Klientel. Es gibt die stationär Verwahrten. Es gibt Bewohner, die hier eine reguläre Freiheitsstrafe absitzen, weil sie für das Gefängnis zu pflegebedürftig sind. Es gibt jene, die freiwillig hier sind. Und die, die durch eine fürsorgerische Unterbringung eingewiesen wurden – eine zeitlich befristete Zwangseinweisung für Leute, die sich selbst und andere gefährden.
Diese Mischung aus strafrechtlich und zivilrechtlich Versorgten, aus freiwillig und unfreiwillig Eingewiesenen, zum Teil auf derselben Abteilung, ist aussergewöhnlich. Selbst die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter, die dem Heim vergangenes Jahr einen Routinebesuch abstattete, war dem Vernehmen nach überrascht davon. Er kenne keine andere Einrichtung mit einer solchen Mischung, sagt der Pflegeleiter Distler. Wenn man sich im Justiz- und Psychiatriebereich umhört, tönt es ähnlich.
Das Heim, das zur privaten Töss-Gruppe gehört, finanziert sich ausschliesslich durch seine Pflegeleistungen. Das heisst: Es erhält keine direkten Subventionen, sondern wird pro Fall bezahlt – via Krankenkassen, Invalidenrenten oder Sozialhilfe der Bewohner. Im Fall der Leute aus dem Straf- und Massnahmenvollzug übernehmen in der Regel die Justizbehörden die Kosten.
Das scheint zu funktionieren: Das Heim ist im Jahr 2000 aus dem ehemaligen Spital Bauma entstanden. Seither wächst es, schreibt laut eigenen Angaben schwarze Zahlen und ist zum grössten Arbeitgeber der Gemeinde geworden. Mit rund 200 Mitarbeitenden – die meisten von ihnen Pflegefachpersonen – hat das Zentrum mehr als einen Angestellten pro Patient. Es profitiert davon, dass es eine Lücke in der psychiatrischen Versorgung füllt.
Die Betreiberin des Heims betont allerdings, es gehe ihr nicht primär um Profit, sondern um einen funktionierenden Betrieb und das Wohl der Bewohnerschaft. Dividenden seien seit Jahren keine mehr ausbezahlt, die Gewinne stattdessen reinvestiert worden.
Alfred Weidmann, Geschäftsleitungsmitglied der Töss-Gruppe und ausgebildeter Pfarrer, sagt: «Wir wollen kein Wachstum um jeden Preis. Wir wollen ein Zuhause sein.»
Frau M. und ihre Trauer
Alles ist farbig im Zimmer von Frau M. Ihr Pulli, der Kissenbezug, die Spitzendecken, ihr Teddybär. Tritt sie ein, dreht sie als Erstes das Radio auf, Volksmusik aus dem Balkan. Frau M. wippt dazu und lacht. Ein rundes Gesicht, pausbäckig, das strahlt und einen Moment später erlischt.
Frau M. erzählt von ihren Eltern, die gestorben sind. Ihre kleinen Hände zittern, sie schluchzt, weint. Ihr Vater, sagt sie, sei so ein guter Koch gewesen. Er sei zur Arbeit in die Schweiz gekommen. Dank ihm habe sie eine IV, er habe zu ihr geschaut. Ihre Mutter starb, als sie jung war, er erst kürzlich. Frau M. ist 43 und weint um ihren Vater, als sei sie noch ein Kind.
Frau M. lebt in Bauma auf einer offenen Abteilung in einem ehemaligen Spitalzimmer. Das teilt sie sich mit einer alten Frau, die manchmal laut sei und schreie. «Aber ich habe gelernt, mich daran zu gewöhnen, ihr nicht die Schuld zu geben», sagt Frau M.
«Seit drei Jahren bin ich hier», sagt sie. Frau M. arbeitet in der Wäscherei des Heims, hilft jeden Montag beim Putzen und hat einen Freund. Der wohne in einer WG für psychisch Kranke und komme sie jede Woche besuchen.
Und, sagt Frau M.: «Ich trinke nicht mehr!» Pause. «Dafür esse ich viel Chips.»
Wenn sie sich etwas wünsche, dann, irgendwann wieder für sich selbst kochen zu können. Gefüllte Peperoni, ihr Lieblingsessen, nach dem Rezept ihres Vaters.
Dass sie hier je wieder weggeht: Das glaubt sie nicht.