1874 führte die Schweiz die direkte Demokratie ein. Der Verfassungsrechtler Stefan G. Schmid und der Historiker Tobias Straumann erläutern, warum sich das noch heute auf unser Verhältnis zu Europa auswirkt.
Am 19. April 1874, vor genau 150 Jahren, haben die Schweizer eine neue Bundesverfassung angenommen, die 126 Jahre lang Bestand hatte. Wie wichtig ist 1874 für die Geschichte der Schweiz?
Straumann: 1874 hat das politische System der Schweiz komplett verändert. Die Bundesverfassung von 1874 führt das fakultative Gesetzesreferendum ein, damit wird die Schweiz zum Sonderfall. Das Referendum ändert alles: die Konkordanz, die Gesetzgebung, die den frühzeitigen Einbezug unterschiedlicher Interessen erfordert. Das versteht man gerade im Ausland oft nicht: Referendum heisst nicht einfach Volksabstimmung nach dem Parlamentsbeschluss, sondern es prägt das gesamte System. Der Gesetzgeber muss sich vom ersten Moment an überlegen, wie er ein Gesetz austariert.
Schmid: Tatsächlich wird vor 150 Jahren ein Meilenstein der Demokratiegeschichte gesetzt. Es gelingt, den ziemlich abstrakten, theoretischen Grundsatz der Volkssouveränität auch auf der nationalen Ebene eines komplexen Bundesstaates ganz konkret und praktisch wirksam werden zu lassen.
Letztes Jahr wurde das 175-Jahr-Jubiläum der ersten Bundesverfassung von 1848 ausgiebig begangen. Das Jubiläum der Verfassung von 1874 dagegen wird kaum gewürdigt. Warum?
Schmid: Die Vorgänge von 1848 sind anschaulicher. Unter der Gründung eines Bundesstaates kann man sich eher etwas vorstellen als unter der Totalrevision einer Verfassung. So stand übrigens auch das Jubiläumsjahr 1998 unter dem Motto «150 Jahre Bundesstaat». Das letztjährige Jubiläum «175 Jahre Bundesverfassung» hätte einen dagegen denken lassen können, dass die Verfassung von 1848 noch heute gelte. Doch dem ist eben nicht so, dazwischen liegen die ausserordentlich wichtige Totalrevision von 1874 und die weniger ehrgeizige Totalrevision von 1999.
Die Verfassung von 1848 hat kein langes Leben, bereits 1874 wird sie durch die zweite Verfassung ersetzt. Was ist in der Zwischenzeit passiert?
Straumann: Ab 1860 erstarkt die Demokratische Bewegung, die mit Nachdruck Reformen fordert. Es handelt sich um eine kleinstädtische und ländliche Deutschschweizer Bewegung, die vor allem in Zürich, aber auch im Aargau, in Baselland und im Thurgau dominiert. Sie fordert demokratische sowie sozial- und bildungspolitische Reformen, ist mancherorts aber auch antisemitisch und antiliberal im Umgang mit Minderheiten.
Schmid: Die führenden Zürcher Demokraten üben – rhetorisch geschickt – eine Elitenkritik, die sich namentlich am Liberalen Alfred Escher entzündet. Escher bezeichnet sich auch in den Revisionsverhandlungen im Bund als Gegner des Referendums und begründet dies damit, dass er das Volk für zu wenig fortschrittlich halte. Er ist dem Fortschrittsprinzip verpflichtet und verweist auf Abstimmungsergebnisse in den Kantonen, die den Grundsätzen des Liberalismus widersprochen hätten. Die Liberalen stellen sich gegen das Referendum, weil sie sehen, dass es schwieriger würde, ihr Programm politisch durchzusetzen. Doch am Ende sind die Demokraten im Verbund mit den Radikalen stärker.
Die Liberalen rund um Escher haben – anders als die Demokraten – kein Vertrauen ins Volk?
Schmid: Die Liberalen vertrauen durchaus auf die Bildungsfähigkeit des Volks. Sie wollen das Volk aber erst mitbestimmen lassen, wenn es reif genug sei. Die Demokraten dagegen sind der Ansicht, dass der «einfache Mann» gelebte Praxis brauche und dass dies die beste Schule für die Demokratie sei.
Stichwort Elitenkritik: In den 1860er Jahren sind weite Teile der Bevölkerung unzufrieden, man klagt über hohe Preise und hohe Mieten. Sehen Sie Parallelen zu heute?
Straumann: Der Widerstand gegen die liberale Elite geht in den 1860er Jahren nicht primär vom Volk aus. Die Demokratische Bewegung ist vielmehr das Projekt einer Gegenelite, die mehr Macht fordert und andere politische Vorstellungen als die Liberalen hat. Heute sind alle wesentlichen Elitegruppen an der Macht beteiligt.
Schmid: Der Anstoss zur Revision der Bundesverfassung kommt von vielen Seiten, so macht sich etwa der Schweizerische Juristenverein für die Rechtsvereinheitlichung stark. Auch der internationale Kontext ist entscheidend. Die Arbeiten an der neuen Verfassung beginnen 1870, kurz vor Ausbruch des Deutsch-Französischen Kriegs. Es ist eine sehr schwierige aussenpolitische Situation. Man sieht wegen der Grenzbesetzung, dass die Militärorganisation nicht genügt und man das Militär zentralisieren muss – das ist ein wichtiger Treiber der Verfassungsrevision.
Kann man vereinfacht sagen: 1848 steht für Aufklärung und Liberalismus und 1874 für Demokratie?
Straumann: So simpel ist es nicht. In zentralen Punkten setzt die Verfassung von 1874 den liberalen Kurs von 1848 fort und nimmt viele der Anliegen auf, die schon lange von den Liberalen eingefordert werden. Es ist das Zusammenspiel von Demokratie und Liberalismus, das wesentlich ist und das die Verfassung von 1874 auszeichnet. Die beiden Prinzipien stehen bis heute in einem Spannungsverhältnis zueinander. Das zeigt sich beispielhaft in der Europafrage. Viele Freisinnige gewichten die Prinzipien von Freihandel und internationaler Harmonisierung höher, für die SVP dagegen ist das Prinzip der Demokratie wichtiger. Das Besondere an der Schweiz ist, dass beide Kräfte im politischen System verankert und aufgehoben sind. Das ist wesentlich der Verfassung von 1874 zu verdanken.
Sie haben vom «Sonderfall» Schweiz gesprochen. Was sind die Gründe, die sie zum Sonderfall werden lassen? Spielt der Freiheitsgeist von 1291 eine Rolle?
Straumann: Diese Geschichte lässt sich nicht mit einem einzelnen Datum einfangen. Aber es war durchaus wichtig, dass die langsam wachsende Eidgenossenschaft im Spätmittelalter zahlreiche militärische Erfolge errang und dabei den Adel vertrieb. Wichtig war auch die enge Anlehnung an Frankreich in der Frühen Neuzeit. Dadurch blieb die Eidgenossenschaft von grossen Kriegen verschont und behielt ihre Struktur als loser Staatenbund ohne starke zentrale Gewalt. Der europäische Trend war damals ein anderer. Die monarchischen Staaten führten fast pausenlos Krieg, dehnten ihre Territorien aus und zentralisierten die Macht. Im 19. Jahrhundert, als der Bundesstaat gegründet wird, wird der Unterschied zwischen der Schweiz und diesen monarchischen Staaten kleiner, aber er verschwindet nicht. Im Ausland ist die Vorstellung von Top-Down stark verankert, während in der Schweiz die Durchlässigkeit von unten nach oben viel grösser ist.
Schmid: Die direkte Demokratie der Schweiz strahlt mit dem Referendum und der 1891 eingeführten Volksinitiative auf Teilrevision der Verfassung übrigens auch stark ins Ausland. Sie beeinflusst bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs Verfassungsdiskussionen weltweit, mit langfristigem Erfolg etwa in den Gliedstaaten der USA. Aber auch in Australien wird beispielsweise ein Verfassungsreferendum mit dem Erfordernis eines doppelten Mehrs von Volk und Gliedstaaten eingeführt, mit ausdrücklicher Bezugnahme auf die Schweiz. Auf das Experiment einer stark ausgebauten direkten Demokratie auf nationaler Ebene wollen sich andere Staaten aber kaum einlassen.
Laut Historikern wie André Holenstein wird die Schweiz 1848 nicht durch eigenen Willen, sondern durch den Willen der ausländischen Mächte zum Bundesstaat. Wenn die Schweiz angeblich keinen eigenen Willen hat, wie lässt sich dann erklären, dass sie 1874 einen Sonderweg einschlägt?
Straumann: Die Verfassung von 1874 passt tatsächlich nicht zu dieser Interpretation – sie ist aus meiner Sicht ohnehin zu einseitig. Natürlich haben die grossen Nachbarn in der Schweizer Geschichte immer eine wesentliche Rolle gespielt, aber alles lässt sich nicht davon ableiten. Viele Leute haben ihr Leben riskiert, um liberale und demokratische Rechte zu erlangen, und nahmen dabei grosse Nachteile in Kauf. Einige sind in diesem Kampf sogar gestorben. Diese Leistung gilt es anzuerkennen.
Schmid: Einige der Neuerungen von 1874 sind übrigens über die direkte Demokratie hinaus im internationalen Vergleich bemerkenswert. So wird etwa die Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber den Kantonen eingeführt, was eine Pioniertat in Europa darstellt. Noch weitere Elemente, die für ihre Zeit sehr fortschrittlich waren, wurden anderswo erst später eingeführt. Bei der direkten Demokratie bleibt die Schweiz ein Sonderfall, weil die anderen Staaten kaum mitziehen.
Was sagen Sie zu dem Argument, dass die Schweiz im 19. Jahrhundert viele Entwicklungen durchmacht, die mit dem europäischen Integrationsprozess vergleichbar sind? Und dass die Integration in die EU nur ein weiterer Schritt auf diesem Weg ist?
Straumann: In der Schweiz hatten wir zuerst den Bundesstaat, in dem die Bürgerinnen und Bürger sich als eine Schicksalsgemeinschaft verstanden und zusammenleben wollten. Bei der EU ist die Reihenfolge gerade umgekehrt: Man versucht, über wirtschaftliche Homogenisierung, über Währungsunion und Binnenmarkt die Staatlichkeit herzustellen und die Länder zum Zusammengehen zu zwingen. Das ist etwas völlig anderes.
Das Schweizer Staatswesen mit dem Zweikammersystem, der Kollegialregierung, dem Föderalismus und den Volksrechten hat eine bemerkenswerte Stabilität bewiesen. Braucht es institutionelle Modernisierungen?
Straumann: Ich sehe keine Notwendigkeit für institutionelle Anpassungen. Aber es gibt Entwicklungen, welche die Institutionen unterlaufen. So höhlt etwa die zunehmende Zentralisierung den Föderalismus aus. Auch das Milizsystem lässt sich nur noch mit Schwierigkeiten aufrechterhalten. Das sind grundlegende Veränderungen, die durchaus zu einem Spannungsverhältnis zwischen den Institutionen und der gelebten Politik führen.
Welche Berechtigung hat das Ständemehr heute noch?
Schmid: Vorab: Das Ständemehr ist in den Referendumsdiskussionen von 1871 bis 1873 das grosse Thema, denn die Föderalisten verlangen hartnäckig – aber schliesslich erfolglos – auch für Abstimmungen über Gesetze ein doppeltes Mehr. Doch zu heute: Wenn man dem Föderalismus ein Gewicht geben will, so muss man auch dessen Logik akzeptieren und damit leben, dass ein Volksmehr von den Ständen ausgehebelt werden kann. Immerhin gilt seit 1874 das Ergebnis der Volksabstimmung im Kanton als dessen Standesstimme – vorher konnten die Kantone selbst bestimmen, wer dafür zuständig sei, zum Beispiel das Kantonsparlament.
Was halten Sie von Gremien wie der Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) und anderen Direktorenkonferenzen, die sich in den letzten Jahrzehnten gebildet haben?
Straumann: Ich finde diese Entwicklung problematisch. Es sind Zusammenschlüsse, die institutionell nicht vorgesehen und die demokratisch fragwürdig sind. Solche Gremien können die formalen Institutionen im Laufe der Zeit so unterhöhlen, dass diese nicht mehr der gelebten Politik entsprechen. Die KdK beispielsweise tritt zum EU-Abkommen mit einer einheitlichen Meinung auf. Warum braucht es das?
Wie beurteilen Sie das geplante EU-Abkommen? Wäre es eine Fortführung des bisherigen Wegs, oder würde es eine Zäsur in der Schweizer Geschichte bedeuten?
Straumann: Zäsur ist das falsche Wort, denn wir haben schon mit den Bilateralen viel Souveränität abgetreten. Aber es wäre ein Quantensprung. Die dynamische Rechtsanpassung würde verallgemeinert und auf zahlreiche Politikbereiche ausgedehnt; wo die Grenzen genau liegen, weiss man nicht.
Wenn sich die Schweiz zur dynamischen Rechtsübernahme verpflichtet, welche Funktion hätte dann noch das Gesetzesreferendum?
Schmid: Wir konnten Erfahrungen mit dem Schengen-Abkommen sammeln, wo die dynamische Rechtsübernahme bereits gilt. Der Umgang mit dem Referendum wirft tatsächlich grosse Fragen auf. So steht etwa die Tatsache, dass man bei einem Nein mit weitreichenden Konsequenzen seitens der EU rechnen muss, in einem Spannungsverhältnis mit der verfassungsrechtlich garantierten Abstimmungsfreiheit.
Straumann: Nicht nur die direkte Demokratie wäre betroffen, auch das Parlament würde bei der Gesetzgebung massiv an Gestaltungsspielraum verlieren.
Schmid: Man kann auch mit 1874 vergleichen: Als die neue Verfassung Kompetenzen von den Kantonen auf den Bund verlagert, hat das Rückwirkungen auf die direkte Demokratie in den Kantonen. Man kommt zu dem Schluss, dass die Demokratie auf der nächsthöheren Stufe, also im Bund, kompensiert werden muss, und führt deshalb das Gesetzesreferendum ein. Einen solchen Schritt können wir beim EU-Abkommen nicht machen.
Stefan G. Schmid ist Professor für öffentliches Recht mit Schwerpunkt Verfassungsrecht an der Universität St. Gallen, Tobias Straumann ist Professor für Geschichte der Neuzeit und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich.