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Die Leitung der Columbia-Universität ringt auf ihrem Campus in Manhattan um die Grenzen der freien Meinungsäusserung. Dabei agiert sie ziemlich glücklos.
Auf dem Hof der altehrwürdigen Columbia-Universität in New York wird dieser Tage die Revolution geprobt. Der Ivy-League-Campus im Norden Manhattans ist für Aussenstehende abgeriegelt. Draussen steht ein Grossaufgebot der Polizei, drinnen herrscht Festivalstimmung.
Die Luft im «Gaza solidarity encampment» riecht nach feuchtem Rasen. Die Protestierenden sitzen in kleinen Gruppen auf der Grünfläche oder verpflegen sich an einer Essensausgabe in der Mitte des Lagers. Viele haben ihr Gesicht mit Corona-Masken oder Arafat-Tüchern verdeckt. Zwischen palästinensischen Flaggen stapeln sich Decken, Kleider und Utensilien für Kunstworkshops.
«Wir fordern den Rückzug aus Investitionen, finanzielle Transparenz und Amnestie», sagt Khymani James, ein Student der Politikwissenschaften. «Wir sind eine friedliche Bewegung. Unsere Richtlinien erlauben keinen Antisemitismus, keine Islamophobie und keine Homophobie. Wir verurteilen das vollständig.»
Mit der Polizei gegen Studenten
Die Protestaktion von propalästinensischen Studentinnen und Studenten hat die Universitätsleitung in eine Krise katapultiert. Die Aktion begann am vergangenen Mittwoch im Morgengrauen, pünktlich zur Befragung der Universitätspräsidentin Minouche Shafik vor dem amerikanischen Kongress in Washington. Anders als ihre zwei Kolleginnen von den Universitäten Harvard und Pennsylvania überstand sie das Hearing zum Thema Antisemitismus, doch jetzt steht sie von allen Seiten unter Druck. Die Episode wirft ein Schlaglicht auf die Gräben in der amerikanischen Gesellschaft, die seit dem Angriff der Hamas auf Israel noch tiefer klaffen als zuvor.
Einen Tag nach Beginn der Proteste schickte Shafik die Polizei aufs Universitätsgelände, um die Zeltstadt aufzulösen. «Ich musste eine Entscheidung treffen, von der ich hoffte, dass sie nie notwendig sein würde», schrieb sie in einer E-Mail an Mitarbeiter und Studenten. Mehr als hundert Studenten wurden verhaftet. Doch die ausserordentliche Massnahme stellte sich als kurzlebig heraus. «Die Lautstärke unserer Meinungsverschiedenheiten hat in den letzten Tagen nur noch zugenommen», doppelte Shafik am Montag nach, und verordnete Fernunterricht für den Tag. «Wir brauchen einen Neustart.»
Nun sind die Zelte sind zurück, diesmal auf dem gegenüberliegenden Rasen. Die Proteste gehen lautstark weiter. Nicht nur an der Columbia-Universität, sondern mittlerweile auf zahlreichen Campus im ganzen Land, von Berkeley in Kalifornien bis Yale. Und auch an anderen Universitäten kam es diese Woche zu Festnahmen von Protestierenden und zur Schliessung von Campus-Bereichen.
Wer das Zeltdorf auf dem Gelände der Columbia-Universität betritt, wird auf die Regeln aufmerksam gemacht. «Wir alle verpflichten uns, uns darauf zu besinnen, warum wir diesen Raum betreten — als Akt der Solidarität mit dem palästinensischen Volk.» Zudem: kein Alkohol, kein Abfall, keine Auseinandersetzungen mit Gegendemonstranten.
Grant, ein 27-jähriger Doktorand, der seinen Nachnamen nicht nennen will, erläutert die Forderungen. Geht es nach den Demonstranten, soll die Columbia-Universität ihre Finanzanlagen aus israelischen Anleihen und aus amerikanischen Firmen, die an Waffenlieferungen für die israelische Armee verdienen, zurückziehen. Akademische Kooperationsprogramme mit der Universität Tel Aviv sollen gekappt werden. Als Begründung nennt Grant die zivilen Opfer des Krieges in Gaza. «Wenn Columbia sich zurückzieht, ändert das den Rahmen dessen, was akzeptabel ist», sagt er.
Über die Greueltaten der Hamas am 7. Oktober will Grant hingegen nicht reden. «Der Krieg hat nicht am 7. Oktober angefangen», sagt er. «Ich bin nicht hier, um über die Hamas zu urteilen.»
Während die Stimmung auf dem Uni-Gelände ruhig bleibt, steigt vor den Toren der Columbia der Pegel. «Viva viva intifada», skandieren Protestierende mit Megafon und Trompete. «There is only one solution: intifada, revolution.»
Nebenan hat sich eine kleine Gruppe von Gegendemonstranten eingefunden. Einige sind in israelische Flaggen gehüllt. «Wir sind hier, um Unterstützung für Israel und die amerikanische Lebensart zu zeigen», sagt Emma Zaks, eine 41-jährige ehemalige Absolventin der Universität. Ihre Nachbarin bei der Polizeibarrikade stellt sich vor als «ältere jüdische Frau, die für die Freiheit kämpft.» Sie sei 84 Jahre alt und wütend über jeden Penny, den sie in die Ausbildung ihrer Tochter an der Columbia gesteckt habe, sagt sie.
Die Frage, ob sich jüdische Studenten auf dem Campus sicher fühlen, ist ein Kern der Auseinandersetzung mit der Universitätsleitung. «Nein», meint Inna Vernikov, eine republikanische Abgeordnete des New Yorker Stadtrats, die mit einem Video-Team auf dem Universitätsgelände unterwegs ist. Viele seien von den Intifada-Parolen eingeschüchtert. Shafik müsse härter durchgreifen und weitere Studenten suspendieren. «Ich bin schon für die freie Meinungsäusserung, aber es gibt Ausnahmen, insbesondere an einer privaten Universität.»
Derweil ist die jüdische Gemeinschaft in allen Lagern vertreten. «Jews for Free Palestine», steht auf einem Kartonschild im Protestcamp.
Kritik von Professoren an der Universitätsleitung
«Ich bin jüdisch und arbeite seit Jahrzehnten für die palästinensische Seite», sagt Bruce Robbins, Professor für englische Literatur, der seinen Unterricht in den Universitätshof verlegt hat. Sein Vater habe im Zweiten Weltkrieg als Bomberpilot in der amerikanischen Armee gedient. Er sei aufgewachsen mit der Gewissheit, dass der Kampf gegen den Faschismus heroisch sei, und denke das immer noch. «Aber Zivilisten zu töten, ist ein No-Go, sogar für eine gerechte Sache», sagt er. Dass jüdische Studenten auf dem Campus bedroht sind, glaubt er nicht.
So genau weiss das allerdings niemand. Die Universitätsleitung kündigte am Montagabend die Führung aller Kurse bis zum nahen Semesterende auch über Online-Übertragung an, so weit das möglich sei. Das ist offensichtlich als Angebot für Studenten gedacht, die sich auf dem Campus nicht mehr sicher oder wohl fühlen.
Rund zweihundert Fakultätsmitglieder treten auf die majestätische Treppe der Low Library, die den Campus überblickt. Sie seien eine diverse Gruppe mit unterschiedlichsten politischen Meinungen, so stellen sich die Mitglieder der American Association of University Professors vor. Aber auf eines hätten sie sich geeinigt: «Wir verurteilen die Suspendierung von friedlich protestierenden Studenten aufs Schärfste.» Dass Präsidentin Shafik die Polizei aufs Gelände geholt habe, sei ein Tabubruch.
«Die Machtdemonstration war ein Zeichen von Schwäche», sagt Christopher Brown, ein Geschichtsprofessor, als er ans Mikrofon tritt. Und dann: «Sie hat das Privileg verwirkt, diese grosse Universität zu leiten.» Das Publikum antwortet mit tosendem Applaus.
Mit ihrem halbherzigen Vorgehen hat Minouche Shafik es geschafft, alle Seiten gegen sich aufzubringen. Man kann darüber streiten, ob ein studentisches Protestlager den Universitätsbetrieb gefährdet. Problematischer als die paar Dutzend Zelte sind in jedem Fall die lautstarken und gewaltverherrlichenden Parolen. Hier wird Shafik nicht darum herumkommen, zu definieren, wo für Columbia die Grenzen der freien Meinungsäusserung liegen, und diese auf dem Campus durchzusetzen, falls nötig mit dem universitätseigenen Sicherheitspersonal. Um die Situation in Nahost geht es bei dieser Diskussion schon lange nicht mehr.