75 Jahre nach ihrer Gründung hat die Organisation an politischem Gewicht gewonnen. Für den Leiter der Schweizer Delegation ist Bersets Herkunft ein Vorteil.
Es ist die gewichtigste Schweizer Kandidatur auf internationaler Ebene seit dem Jahr 2010. Die Uno-Generalversammlung wählte damals den früheren Bundesrat Joseph Deiss zu ihrem Präsidenten. 14 Jahre danach schickt sich mit Alain Berset ebenfalls ein weltgewandter Freiburger an, einen Spitzenposten einer multilateralen Organisation zu übernehmen. Der Altbundesrat will Generalsekretär des Europarats werden.
Die erste Hürde hat er genommen. Das Ministerkomitee hat seine Kandidatur im März der parlamentarischen Versammlung unterbreitet, mit zwei weiteren Anwärtern. Berset holte am meisten Stimmen – und erhielt dem Vernehmen nach auch am wenigsten Gegenstimmen. Doch es handelt sich bloss um einen Etappensieg. Die Kampagne dauert fast ein halbes Jahr.
Die parlamentarische Versammlung ist weniger berechenbar als das Ministerkomitee. Die Wahl erfolgt geheim. Die Länderdelegationen sind aus Parlamentariern von mehreren Fraktionen zusammengesetzt, die politische Gegner sind. Sie stimmen nicht unbedingt wie die Mitgliedsstaaten. Das Prozedere erinnert entfernt an eine Bundesratswahl.
Das Schlüsselthema für Berset und den Europarat ist die Ukraine. Der Krieg überschattet die Jubiläumsfeierlichkeiten der Organisation, die seit 75 Jahren für die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte einsteht. Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Jahr 2014 tat sich Strassburg noch schwer, eine Antwort zu finden. Doch nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 positionierte sich der Europarat klar: Noch im März 2022 schloss er Russland aus, weil es die Grundsätze der Organisation schwer verletzt hatte – wobei Moskau dem Rauswurf formell mit dem Austritt zuvorkam.
Der Europarat 2.0
Der Europarat wird in der Schweiz kaum wahrgenommen, wenn Bern nicht gerade vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) – der über die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention wacht – gerügt wird. Doch mit dem Ukraine-Krieg hat die Organisation in den Mitgliedsstaaten wieder an Bedeutung gewonnen.
Zum ersten Mal seit 18 Jahren kamen im Mai 2022 rund vierzig europäische Staats- und Regierungschefs für ein Gipfeltreffen des Europarats in der isländischen Hauptstadt Reykjavik zusammen, unter ihnen der französische Präsident Emmanuel Macron, der damalige Bundespräsident Berset und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz. Die Organisation beschloss, ein Schadensregister für die Ukraine einzurichten. Es handelt sich um eine Datenbank für die Schäden, die Russland verursacht. Längerfristig soll sie als Grundlage für Entschädigungszahlungen dienen. Der Bundesrat entschied im August 2023, beim Schadensregister mitzumachen.
Mit den Beschlüssen demonstrierte der Europarat, dass er handlungsfähig ist – im Gegensatz zu anderen multilateralen Organisationen. Der Uno-Sicherheitsrat und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sind im Ukraine-Krieg blockiert. Und wenn sich der Uno-Sicherheitsrat im Nahostkonflikt doch einmal zusammenrauft, bewirken seine Beschlüsse nichts.
Claude Wild, der Botschafter der Schweiz in Strassburg, spricht denn auch vom «Europarat 2.0». «Dass mehr als vierzig Regierungschefs an der Peripherie des Kontinents zusammenkamen, war ein starkes Zeichen», sagt er. Der Europarat habe seine Chance wahrgenommen und aus der Zeitenwende Konsequenzen gezogen. Der Angriff auf die Ukraine sei auch eine Attacke auf die europäischen Demokratien.
Doch den Beschlüssen von Reykjavik müssen Taten folgen. Der neue Generalsekretär wird in den nächsten fünf Jahren gefordert sein, die Umsetzung des Schadensregisters voranzutreiben. Der taktisch gewiefte Berset ist als zweimaliger Bundespräsident und langjähriger Bundesrat der profilierteste der drei Kandidaten. Der Belgier Didier Reynders, ein EU-Kommissar, ist ein Technokrat. Der Este Indrek Saar war zwar einige Jahre Kulturminister, ist aber vor allem Parlamentarier.
Dennoch könnte Saar als Osteuropäer und Sozialdemokrat dem Schweizer Stimmen wegschnappen. «Bei den Sozialdemokraten ist das Problem, dass sie mit Saar vorgeprescht sind», sagt der Zürcher SVP-Nationalrat Alfred Heer, der die Schweizer Delegation in Strassburg leitet. Zu diesem Zeitpunkt hatte das SP-Mitglied Berset seine Kandidatur noch gar nicht angemeldet.
Berset auf Ukraine-Mission
Berset ist die Wichtigkeit der Ukraine und osteuropäischer Länder bewusst. Im Februar reiste er nach Kiew, um für seine Kandidatur zu weibeln, nachdem er im November 2023 auch als Bundespräsident das Land besucht hatte. Für Kritiker wirkte dies opportunistisch. Doch es war nicht das erste Mal, dass sich Berset für die Ukraine interessierte. Noch als Ständeratspräsident besuchte er im Jahr 2009 Kiew und traf unter anderem den damaligen Präsidenten Wiktor Juschtschenko, der im Jahr 2004 einen Mordanschlag nur knapp überlebt hatte.
In der Schweiz aber fliegen Berset bis heute Interviewaussagen zum Ukraine-Konflikt um die Ohren. Er spüre «in gewissen Kreisen einen Kriegsrausch», sagte er letztes Jahr als Bundespräsident der «NZZ am Sonntag». Zudem verteidigte Berset die klare Linie bei der Neutralitätspolitik. Der Mitte-Präsident Gerhard Pfister mahnte, der Europarat müsse wissen, dass Berset die Haltung der Organisation gegenüber Russland und der Ukraine nicht teile.
Heer relativiert die Aufregung. Das Interview habe in Strassburg kaum jemand gelesen, sagt er. Berset sei in Hearings aber schon danach gefragt worden – und er habe sehr gut geantwortet. Die Schweizer Delegation in Strassburg unterstützt die Schweizer Kandidatur geschlossen. Das ist nicht selbstverständlich, da ihr Spektrum vom linken Rand der Grünen bis zum rechten Rand der SVP reicht.
Weder in der EU noch in der Nato
Heers Partei forderte nach dem Klima-Entscheid des EGMR, dass die Schweiz aus dem Europarat austritt. Er verstehe die Forderung angesichts des politischen Urteils, sagt Heer. Für die Schweiz bringe die Mitgliedschaft nichts. «Aber für andere Mitglieder ist es wichtig, dass auch Staaten wie die Schweiz mit einer stabilen Demokratie dabei sind.» Es wäre ein seltsames Zeichen, wenn sie austreten würde. Heer tönt damit an, dass aus Staaten wie Russland (vor dem Austritt), der Türkei, der Ukraine oder Rumänien unzählige Fälle am EGMR hängig sind.
Es wäre gut, an der Spitze des Europarats einmal einen Schweizer zu haben, sagt Heer. «In Strassburg sprechen wir viel von der Demokratie und den Menschenrechten, wo die Schweiz führend ist.» Ein Vorteil sei auch, dass Berset aus einem Land komme, das weder Mitglied der Nato noch der EU sei. «Als Schweizer wäre Berset freier zu agieren.» Bei Kandidaten aus anderen Ländern bestehe dagegen die Gefahr, dass der Generalsekretär zum Lakaien der Interessenpolitik werde.
Für Berset stehen diesen Monat die nächsten Hearings an, auch bei den in Strassburg einflussreichen Nichtregierungsorganisationen und dem Personalkomitee. Mit ihm würde erstmals ein Schweizer an der Spitze des Europarats stehen. Wer künftig die Geschicke der Organisation lenkt, entscheidet die parlamentarische Versammlung am 25. Juni.