Fentanyl, Meth, Heroin – seit 2021 kann in Oregon jeder harte Drogen nehmen, straffrei. Besonders in Portland sind die Folgen dramatisch: Die Überfälle auf Geschäfte nahmen zu, und die Mordrate stieg auf den höchsten Stand der Geschichte.
Ein Dienstagvormittag wie jeder andere in Portlands historischer Innenstadt: Ein Mann rennt schreiend durch die Strassen, im Wahn schwingt er einen Ast über seinem Kopf, als wolle er jemanden erschlagen. Ein anderer schläft seinen Rausch mitten auf dem Trottoir vor dem chinesischen Garten aus. Daneben inhaliert jemand Fentanyl durch ein Stück Aluminiumfolie. Egal, wohin man schaut – an jeder Ecke Spuren von Drogenhandel und -konsum.
Durch die Fensterscheiben einer Hotellobby beobachtet Max Martin das Treiben. Martin – tätowierte Unterarme, Piercings in den Ohren – arbeitet heute als Rezeptionist, doch bis vor wenigen Jahren lebte er selbst als Drogenabhängiger auf der Strasse. «Aber so schlimm wie heute war es damals nicht», sagt der 33-Jährige. Martins Blick geht ständig zur Tür. Der Eingang zum Hotel ist abgeriegelt, doch manchmal huschen Junkies hinter Gästen in die Lobby – und dann gehen die Pöbeleien los.
Martin erzählt, wie kürzlich das Auto seiner Arbeitskollegin schwer beschädigt wurde; jemand zertrümmerte mit einem Schild die Windschutzscheibe. Keiner seiner Freunde wolle sich mit ihm nach Feierabend in der Altstadt treffen, das sei allen zu gefährlich.
Oregon schlug einen radikal anderen Weg ein
Viele amerikanische Grossstädte kämpfen zurzeit mit schweren Drogenproblemen. 112 000 Bürger starben vergangenes Jahr an einer Überdosis – so viele wie nie zuvor. Schuld daran ist eine neue Droge, Fentanyl. Im Labor hergestellt, wirkt sie fünfzig Mal so stark wie Heroin und ist extrem tödlich.
Verzweifelt suchen die Bundesregierung und die Gliedstaaten nach Antworten, oft lauten diese: längere Gefängnisstrafen für jeden, der Fentanyl nimmt oder dealt. Doch niemand hat bisher versucht das Problem so zu lösen wie Oregon, der Pazifikstaat an der amerikanischen Westküste, eingenistet zwischen Kalifornien und Washington.
Oregon schlug vor drei Jahren einen radikal anderen Weg ein: Es hat den Drogenkonsum straffrei gemacht, selbst für die härtesten Substanzen – Fentanyl, Heroin, Methamphetamin, Kokain.
In einem Land, das für seinen «Krieg gegen Drogen» legendär ist, das jährlich 500 000 Bürger allein für den Besitz von Drogen ins Gefängnis steckt, wirkte dieser Ansatz revolutionär. Andere progressive Gliedstaaten wurden hellhörig. Hatte Oregon die Lösung für die Drogenepidemie gefunden? Kalifornien, Washington State, New York, Vermont, Maine und Massachusetts diskutierten bald ähnliche Vorhaben.
Drei Jahre später ist klar: Oregons Ansatz ist gescheitert. Gerade hat die Gouverneurin ein Gesetz unterzeichnet, das Drogenkonsum ab dem Herbst wieder unter Strafe stellen wird. Was ist passiert?
Oregon versteht sich als Pionier in der Drogenpolitik
Wären Amerikas fünfzig Gliedstaaten eine Grossfamilie, wäre Oregon der hippe, linksalternative Cousin. Der Gliedstaat ist bekannt für seine pulsierende Outdoor-Szene, seine vielen Mikrobierbrauereien – und seinen laxen Umgang mit Drogen. Als erster Gliedstaat legalisierte das Parlament 1973 den Konsum von Marihuana – zu einer Zeit, als Präsident Richard Nixon den «War on Drugs» verkündete und man im Rest des Landes fürs Kiffen noch monatelang ins Gefängnis musste.
Die lockere Drogenpolitik zieht sich wie ein roter Faden durch Oregons Geschichte. 2020 legalisierte man hier, erneut als erster Gliedstaat, den Konsum von halluzinogen wirkenden Pilzen und anderen Psychedelika.
Nicht nur bei Drogen gibt sich Oregon progressiv. Vor allem die Grossstädte sind für ihre linke Aktivistenszene bekannt. Nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd 2020 wurde Portland zum Herz der landesweiten Black Lives Matter-Proteste gegen Polizeigewalt.
In Oregon schien deshalb die Zeit reif für eine Idee, an der linke Gruppen schon lange feilten: allen Drogenkonsum straffrei zu machen.
«Menschen, die unter Drogenabhängigkeit leiden, brauchen Hilfe, keine strafrechtliche Verfolgung», warben die Initiatoren der Volksabstimmung namens Measure 110. Statt Süchtige mit Haftstrafen zu stigmatisieren, sollten sie Drogen sicher konsumieren können, eine Wohnung und einen Job finden und Möglichkeiten bekommen, einen Entzug zu beginnen – vorausgesetzt, dass sie dies selbst wollten. Kein Richter sollte jemanden mehr zum Entzug zwingen können.
All das würde, so die Hoffnung der Initiatoren, die Zahl der Toten durch Überdosen reduzieren. Und es würde Drogensüchtigen, insbesondere nicht-weissen, das Stigma einer Haftstrafe ersparen. Die neuen Hilfsangebote würden zig Millionen Dollar kosten, bezahlen würde man sie mit den Steuereinnahmen durch den Verkauf von Cannabis.
Finanziell unterstützt wurde das Vorhaben von Organisationen, die in Oregon ein Labor für progressive Ideen sahen – die Stiftung des Meta-Gründers Mark Zuckerberg und seiner Frau etwa oder die Reformgruppe Drug Policy Alliance aus New York. Tatsächlich trafen die Initiatoren den Zeitgeist. Oregons Gouverneurin stellte sich hinter die Idee, ebenso Portlands Bürgermeister und der Bezirksstaatsanwalt, dessen Aufgabe eigentlich die strafrechtliche Verfolgung von Drogendelikten ist. Auch die Bürger waren begeistert: 58 Prozent stimmten im November 2020 für Reform.
Mit dem Bussenzettel einen Joint drehen
Drei Monate später trat die neue Regelung in Kraft. Rückblickend war das viel zu schnell. Die versprochenen neuen Entzugskliniken und Hilfsprogramme gab es noch gar nicht. Gleichzeitig waren die Behörden der Stadt, die sich um die Hilfsprogramme kümmern sollten, noch immer mit der Corona-Pandemie überlastet.
Wer seitdem auf den Strassen Oregons Fentanyl raucht, Heroin spritzt oder Methamphetamin schnupft, dem stellen Polizisten einen Strafzettel aus statt ihn wie früher zu verhaften. 100 Dollar, wie bei zu schnellem Autofahren. Die Busse kann man vermeiden, wenn man eine Drogenhotline anruft. In der Realität macht das praktisch niemand. Laut Recherchen der Lokalzeitung «The Oregonian» schrieben Beamte in den ersten zwei Jahren der Entkriminalisierung 4450 Strafzettel, aber nur 189 Personen riefen die Hotline an, und nur 46 interessierten sich für einen Therapieplatz.
Es passiert aber auch nichts, wenn man weder die Hotline anruft noch die Strafe zahlt – so wie das 95 Prozent der Gebüssten in den ersten zwei Jahren getan haben. Frustrierte Polizisten erzählten in Interviews, wie Abhängige die Strafzettel vor ihren Augen verbrannten oder sich mit dem Papier einen Joint drehten.
Auch Dealer haben dank Measure 110 weniger zu fürchten. Die Volksinitiative stufte den Handel grosser Mengen Drogen von einer Straftat zu einer Ordnungswidrigkeit herab, mit Höchststrafen von 362 Tagen Gefängnis und 6250 Dollar Busse. Dealen ist schnell lukrativer als das.
Fentanyl als neue Droge verändert alles
Gleichzeitig hat sich Amerikas Drogenszene grundlegend verändert. Fentanyl beherrscht nun die Strassen. Das Teuflische an der Droge ist, dass sie besonders schnell und eng an die Opioid-Rezeptoren im Gehirn andockt, will heissen: Sie macht extrem süchtig. Und sie ist enorm günstig im Labor herzustellen, deswegen mischen Dealer sie nun allem unter – Heroin, Kokain, Schmerzmitteln.
«Fentanyl kappt den freien Willen», sagt Keith Humphreys, Drogenexperte der Universität Stanford. Das menschliche Gehirn sei diesem Ausmass der Sucht nicht gewachsen. «Das gesamte Verhalten wird der Sucht untergeordnet.»
«Measure 110 hat allen Druck von Süchtigen genommen, etwas an ihrer Situation zu ändern.» Eine solche libertäre Sichtweise funktioniere bei Süchtigen aber nicht, weil sie Dinge täten, die ihnen schadeten und nicht logisch seien. Dazu habe es in Oregon zu wenige Entzugsplätze gegeben, wenn jemand wirklich Hilfe gewollt habe.
Wie bei einer Lawine, die alles mit sich reisst, eskalierten die Probleme in Portland in den folgenden Monaten. Drogen wurden bald in aller Öffentlichkeit gehandelt und konsumiert. Die Mordrate stieg 2022 auf den höchsten Stand der Stadtgeschichte. Überfälle auf Geschäfte nahmen zu. Detailhandelsketten wie REI, Target und Walmart zogen aus Portlands Innenstadt weg und nahmen Jobs mit sich.
In den 12 Monaten bis Ende September 2023 starben in Oregon gemäss den Gesundheitsbehörden CDC fast 42 Prozent mehr Menschen an einer Überdosis. Der Anstieg war so drastisch wie sonst nirgends in den USA, und im landesweiten Schnitt stieg die Zahl gerade einmal um 2 Prozent.
Feuerwehrleute rücken in Portland häufiger aus, um Menschen mit Überdosen zu helfen, als um Brände zu löschen; teils mehrmals täglich bei der gleichen Person. Sie nutzen dafür den Nasenspray Narcan. Dessen Wirkstoff Naloxon sorgt dafür, dass man mit nur einem Sprühstoss Überdosen revidieren kann. Kritiker sehen es als Freifahrtschein zum Drogenkonsum, Befürworter loben es als Lebensretter.
Auf dem Spielplatz sind Fentanyl-Süchtige statt Kinder
Die Altstadt von Portland ist der schlimmste Drogenbrennpunkt der Stadt, aber bei weitem nicht der einzige. Die Krise gleicht einem Flächenbrand. Im schickem Einkaufsviertel Pearl Distrikt etwa schlafen Menschen zusammengekauert in den Eingängen der Backsteinhäuser ihren Rausch aus. Zahlreiche Café und Bekleidungsgeschäfte, selbst der bekannte Buchladen «Powell´s City of Books» haben privates Sicherheitspersonal engagiert. Viele Läden stehen leer.
Die Grünflachen der North Park Blocks sind eigentlich das Herz des Quartiers. Doch auf dem Spielplatz sind die Rutschen und Klettergerüste verwaist, trotz sonnigem Frühlingswetter. Auf Parkbänken sitzen Menschen wie versteinert und in sich zusammengesackt. Drogenexperten nennen diese Haltung «Fentanyl Fold», irgendwann hinterlässt sie bei den Betroffenen einen Buckel. Ramponierte Autos reihen sich um die Wiese, in manchen leben Menschen, in anderen werden gerade Drogen gehandelt.
Kris Balliet führt ihre zwei Hunde spazieren, sie trägt Converse-Turnschuhe und eine grosse Brille. Sie sei politisch sehr progressiv, erzählt die 70-Jährige, und habe Measure 110 für eine gute Idee gehalten. «Ich habe dafür sogar Werbung gemacht und Schilder in meinem Vorgarten aufgestellt. Aber daraus ist nun ein Alptraum geworden».
Balliet erzählt, wie auf Restauranttischen im Quartier offen Drogen gehandelt würden. Die Nachbarskinder mieden den mit Spritzen und Drogen versehenen Spielplatz. Die Rentnerin rät der Besucherin, nicht weiter mit einer Tasche über der Schulter herumzulaufen. Sie selbst sei vor einigen Wochen überfallen worden, mitten am Tag, als sie eine Arztpraxis verliess.
Anwohner in anderen Vierteln berichten Ähnliches. Terry – ihren Nachnamen will sie nicht teilen – ist Immobilienbesitzerin und Maklerin in Southeast Portland. Gerade säubert sie ihren Vorgarten von Alufolie und Spritzen. «Die Entkriminalisierung der Drogen war eine dumme Idee», sagt sie, die Stadt sei seitdem spürbar unsicherer geworden. Abends sehe sie mehr Prostituierte auf den Strassen und schon zwei Mal sei in eine ihrer leerstehenden Wohnungen eingebrochen worden.
Tim Karwaki leitet die Nachbarschaftsvereinigung im Universitätsviertel im Norden der Stadt. Auch hier sei der Spielplatz so von Drogenutensilien verdreckt, dass zwei, drei Eltern jeden Morgen erst einmal sauber machen, erzählt er bei einem Spaziergang durch das Quartier. Ramponierte Wohnwagen säumen das Strassenbild, aber diese loszuwerden, sei schwierig: Das Abschleppen koste mehrere Tausend Dollar, und häufig seien die Wohnwagen mit Drogen kontaminiert, weshalb niemand damit etwas zu tun haben wolle.
Karwaki – weisser Vollbart, freundliches Lachen – ist Rentner und verteilt ehrenamtlich Essen an Obdachlose in der Stadt. Das Elend sei enorm, sagt er, die Entkriminalisierung der Drogen habe viele Abhängige aus anderen Städten nach Oregon gelockt. Trotz der guten Lage mit der Nähe zur Universität sei hier fast jedes zweite Haus zu verkaufen oder wurde schon verkauft. Die Immobilienpreise seien gesunken.
Tatsächlich ist seit 2021 Portlands Bevölkerung jedes Jahr geschrumpft. «Dass eine Stadt Anwohner verliert, passiert vielleicht einmal in hundert Jahren», sagt Mingus Mapps und schüttelt den Kopf. Mapps ist Mitglied des Stadtrats von Portland. Auch er stimmte 2020 für die Entkriminalisierung von Drogen. Inzwischen bereut er das. Die Annahme, dass ein Süchtiger in Zeiten von Fentanyl freiwillig und ohne richterlichen Zwang Entzugsprogramme aufsuche, sei völlig naiv gewesen, sagt Mapps. Die Entkriminalisierung habe zu einem «atemberaubenden Ausmass von menschlichem Elend und Tod geführt». Rückblickend bezeichnet er Measure 110 als «Rezept für ein Desaster».
«Es war ein schockierendes Politikversagen. Alles kam genau anders, als wir dachten – und ging rasant den Bach hinunter.»
Selbst der Pastorin werden Drogen angeboten
Nicht alle sehen das so. Sara Fischer ist Pastorin und verteilt jede Woche mit ihrem Subaru Essen, Kleider, und Hygieneartikel an Bedürftige auf den Strassen Portlands. Auch sie stimmte 2020 für Measure 110, erzählt sie in einem Café. «Ich bin für alles, was die Leute aus dem Gefängnis hält, insbesondere nicht-weisse», sagt Fischer. «Ich glaube nicht, dass Entzug etwas bringt, wenn man die Leute dazu zwingt.»
Auf der Innenseite ihres Handgelenks hat sie ein Kreuz tätowiert, auf ihrem Laptop klebt ein Sticker: «Jesus würde Narcan bei sich tragen». Die meisten Süchtigen, die sie kenne, wollten einen Entzug machen, sagt Fischer, aber es gebe schlichtweg zu wenig Behandlungsplätze.
Fischer sagt, es sei schwer zu unterscheiden, welche der Probleme in Portland auf Fentanyl und auf die Pandemie zurückzuführen seien, und welche darauf, dass Drogen nun straffrei seien.
Doch sie merke, dass der offene Drogenhandel stark zugenommen hat. Selbst ihr würden immer wieder Drogen angeboten, dabei sei sie klar als Pastorin erkennbar mit ihrem klerikalen Stehkragen.
Ein neues Gesetz stellt Drogen wieder unter Strafe
Die Stimmung in der Bevölkerung ist inzwischen gekippt. Rund zwei Drittel der Bürger bezeichnen Measure 110 in Umfragen als «Versagen» und verlangen, harte Drogen wieder unter Strafe zu stellen. Konservative Kandidaten wittern ihre Chance: Bei den Lokalwahlen dieses Jahr müssen zahlreiche Amtsinhaber, die Measure 110 unterstützt hatten, um ihre Wiederwahl zittern.
Die regierenden Demokraten haben die Zeichen der Zeit erkannt. Anfang April verabschiedete Oregon ein Gesetz, das den Konsum harter Drogen ab dem Herbst wieder unter Strafe stellt. Die Haftstrafen sind jedoch milder als früher, und es gibt mehr Gelder für Methadonprogramme, psychiatrische Hilfszentren, und Mitarbeiter für diese Einrichtungen.
Die richtige Reaktion auf das Drogenproblem sei nicht schwarz oder weiss, sagt der Drogenexperte Keith Humphreys. Zwischen Gefängnisstrafen und Freifahrtschein gebe es viel Spielraum. Vielleicht werde Oregon in ein paar Jahren tatsächlich dem Rest des Landes als Erfolgsbeispiel dienen: «Dann nämlich, wenn man den wirklich gefährlichen Straftätern den Prozess macht, und allen anderen gerade so viel Druck, dass sie Entzugsprogramme aufsuchen.»
Darauf hofft auch Max Martin, der Rezeptionist in Portlands Altstadt. Die derzeitige Situation in Portland sei zu chaotisch, sagt er, aber Haftstrafen allein seien keine Lösung. Das Problem sei nämlich, dass die Strafe noch lange weitergehe, nachdem man seine Haft abgesessen habe. Das weiss er aus eigener Erfahrung. Selbst vergoltene Haftstrafen blieben jahrelang im Strafregisterauszug stehen. «Du bist theoretisch frei, aber findest trotzdem keine Wohnung und keinen Job. Und dann landest du wieder auf der Strasse und wieder bei den Drogen.»