Der Ständerat entscheidet kommende Woche über die Erklärung zum Strassburger Urteil zur Schweizer Klimapolitik. Noch ist offen, wie scharf der Protest ausfallen wird. Laut SP-Ständerat Daniel Jositsch ist die Machtprobe aber zentral für die Legitimation des Gerichts.
Andreas Zünd weiss, was die Schweiz tun muss. Beziehungsweise nicht tun darf. «Es gibt keine Möglichkeit, ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte einfach nicht umzusetzen», liess er sich vor ein paar Tagen zitieren. «Schweizer Richter weist rebellische Ständeräte zurecht», titelte «20 Minuten».
Die Vorgeschichte ist bekannt: Anfang April verurteilte der Strassburger Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Schweiz, weil sie zu wenig gegen die Klimaerwärmung unternehme und damit das Recht auf Privatleben älterer Frauen verletze. In führender Rolle am Entscheid beteiligt war Andreas Zünd, der Schweizer Richter am EGMR.
Seither verteidigt er das Urteil auf allen Kanälen. Dass ein Richter derart intensiv die Öffentlichkeit sucht, ist ungewöhnlich. Doch ungewöhnlich ist beim Klima-Urteil so einiges. Etwa auch, dass der Prozess auf eine orchestrierte Aktion von Greenpeace zurückgeht. Die Organisation hat eigens für den Gang nach Strassburg einen «Klimaseniorinnen-Verein» gegründet, weil man ältere Frauen als besonders erfolgversprechende Opfergruppe ansah.
Die siegreichen Klimaseniorinnen (bzw. die tonangebenden Figuren im Hintergrund) haben dieser Tage angekündigt, dass sie nicht zögern werden, den Europarat über die Vorgänge hierzulande zu informieren. Man werde die Schweiz in Strassburg melden, sollte sie das Klima-Urteil nicht umsetzen.
Wer hat die Gewaltentrennung verletzt?
Genau das ist die Absicht der beiden Rechtskommissionen des Parlaments. Nach dem Motto «Inakzeptable Urteile erfordern ungewöhnliche Methoden» haben sie eine Erklärung verabschiedet. Diese fordert den Bundesrat dazu auf, dem Ministerkomitee in Strassburg mitzuteilen, dass die Schweiz dem Klima-Entscheid keine weitere Folge leisten werde. Dies, weil die hiesige Klimapolitik die Anforderungen des Urteils bereits erfülle. Und auch, weil der Gerichtshof unangemessenen Aktivismus betreibe, seine Kompetenzen überschritten und gegen die Gewaltentrennung verstossen habe.
Am kommenden Mittwoch wird das Plenum des Ständerats über die Erklärung entscheiden, der Nationalrat wird die Debatte eine Woche später führen. Um einen emotional gefärbten Schnellschuss handelt es sich nicht. Das aufsehenerregende Klima-Urteil wird seit Wochen von Politikern und Juristen eingehend diskutiert, begleitet von der Frage, auf welche Weise man gegen übergriffige Urteile und sonstiges überschiessendes Handeln internationaler Instanzen (Beispiel Internationaler Strafgerichtshof) vorgehen kann.
Bei den linken Parteien dominiert derweil die Empörung. Man geisselt das Vorgehen der Rechtskommissionen und findet es beschämend für einen Rechtsstaat. Gerichtsurteile seien zu respektieren, auch wenn sie einem nicht gefielen.
Den Vorwurf, dass nicht der Gerichtshof, sondern die Parlamentarier die Gewaltentrennung verletzten, lässt der ständerätliche «Oberrebell» Daniel Jositsch, Präsident der Rechtskommission, nicht gelten. «Der Gerichtshof hat begonnen, die Europäische Menschenrechtskonvention fortzuentwickeln und Recht hineinzuinterpretieren, das dort nicht steht. Ein solches Vorgehen ist nicht zulässig: Die EMRK kann nur durch die Vertragsstaaten geändert werden, mit Einstimmigkeit. Es ist nicht das Gericht, das über seinen Aufgabenbereich entscheidet, sondern das tun die Mitgliedstaaten des Europarates.»
Der Protest kommt spät
Nun ist es allerdings nicht das erste Mal, dass die Strassburger Richter die Menschenrechtskonvention überstrapazieren und mit neuen Inhalten füllen. Das Verständnis der EMRK als «instrument vivant», das dem Gerichtshof praktisch alles erlaubt, führt seit Jahren immer wieder zu stossenden Urteilen, auch gegen die Schweiz. Warum kommt der politische Protest erst jetzt?
«Man hat diese Entwicklung bisher einfach mehr oder weniger hingenommen, auch wenn sie nicht gut ist. Doch nun liegt mit dem Klima-Urteil ein Entscheid vor, der definitiv die Grenze überschritten hat», sagt Jositsch. «Der EGMR hat erstens ein neues Menschenrecht auf Klimaschutz geschaffen, das in der EMRK nicht vorgesehen ist. Und zweitens kann die Schweiz gegen die globale Klimaerwärmung nichts ausrichten, selbst wenn sie auf jeden CO2-Ausstoss verzichten würde.»
Doch lohnt sich die Konfrontation? Das Urteil verpflichtet die Schweiz ja nicht dazu, konkrete Klimaschutzmassnahmen zu ergreifen. Man könnte den Ball auch flach halten, dem Ministerkomitee des Europarates einen Bericht über die klimapolitischen Anstrengungen einreichen – und die Sache wäre in Ordnung. Damit sei es nicht getan, sagt Jositsch. «Es geht um Grundsätzliches. Wir müssen dem EGMR zu verstehen geben, dass er eine subsidiäre Rolle einnimmt. Es kann nicht sein, dass siebzehn Richter jetzt plötzlich Umweltpolitik machen. Das versteht die Bevölkerung nicht, die Akzeptanz für internationale Gerichte sinkt. Und dann gewinnt die Forderung nach einer Kündigung der EMRK rasch an Unterstützung. Deshalb müssen wir die Machtprobe führen.»
Die Schweiz ist nicht das einzige Land, das sich mit dem Strassburger Gerichtshof schwertut. Grossbritannien etwa zählt zu den schärfsten Kritikern und nimmt sich heraus, nicht genehme Urteile nur zögerlich und minimal umzusetzen. Andere Länder kassieren eine Rüge nach der anderen, foutieren sich aber weitgehend darum.
Die Schweiz würde mit der expliziten «So nicht!»-Erklärung einen anderen Weg gehen – ausgerechnet die mustergültige Schweiz. Das kann man sich schwer vorstellen. So erstaunt nicht, dass gewisse Ständeräte bereits Angst vor dem eigenen Mut haben und den Text der Erklärung abschwächen möchten. Doch für Jositsch braucht es klare Worte: «Gerade weil die Schweiz die Strassburger Urteile stets konsequent umsetzt, muss sie das Problem im Ministerkomitee offen und direkt angehen.»
Überschaubares Risiko
Wie der Bundesrat die Erklärung eines oder beider Räte aufnehmen würde – sie hat empfehlenden und nicht verbindlichen Charakter -, ist offen. Umweltminister Albert Rösti, der sich kritisch zum Urteil äusserte, dürfte sich freuen, Justizminister Beat Jans, der sich freute, dürfte das Ganze kritisch sehen, doch am Ende wäre es wohl Aussenminister Ignazio Cassis, der seinen ausländischen Amtskollegen im Ministerkomitee des Europarates darlegen müsste, warum die Schweiz ihre Rechte verletzt sieht und dem Urteil «keine weitere Folge» geben will. Und er müsste nach Alliierten suchen, die mithelfen würden, den richterlichen Aktivismus zurückzubinden. Möglicherweise mit einem neuen Protokoll zur EMRK, wie dies eine Motion des FDP-Ständerats Andrea Caroni fordert.
Das Risiko, dass der Bundesrat vom Ministerkomitee des Europarates in Sachen Klimaseniorinnen mit Kritik eingedeckt würde, dürfte gering sein. Die anderen Europaratsstaaten sind der Schweiz punkto Klimaschutz nicht voraus und haben wohl wenig Interesse daran, sie zu rüffeln oder Massnahmen gegen sie zu ergreifen.
Neben dem aussenpolitischen Vorgehen beschäftigt man sich im Parlament auch mit innenpolitischen Änderungen. Ein Vorschlag geht dahin, dass künftig das Parlament mitbestimmen soll, wie ein Strassburger Urteil umzusetzen ist. Heute bleibt die Frage dem Bundesgericht überlassen; es muss entscheiden, ob es sein vom EGMR beanstandetes Urteil revidiert oder nicht.
Denkbar wäre, dass künftig eine Parlamentskommission als politischer Filter eingeschaltet würde und die Revision bewilligen müsste. Auch das Auswahlverfahren für die drei Schweizer Richterkandidaten, die man dem Europarat zur Wahl vorschlägt, ist als Thema gesetzt. Man darf davon ausgehen, dass künftig neben der fachlichen Qualifikation vor allem die Frage entscheidend sein wird, wie es ein Bewerber mit der richterlichen Zurückhaltung hält.