Der Weltranglistenerste hat fast sein ganzes Umfeld ausgetauscht; momentan fehlt ihm etwa ein starker Coach. Und er scheint sich selber nicht so recht über den Weg zu trauen.
Am Sonntagmittag schien Novak Djokovic immer noch ein bisschen zu schweben; die Stimmung des 37-jährigen Serben hätte jedenfalls kaum besser sein können. In der Nacht auf Sonntag hatte er den Italiener Lorenzo Musetti in einem dramatischen Drittrundenspiel erst um 3 Uhr morgens bezwungen. Und Stunden später nur wurde seine lockere Trainingseinheit in einem Tenniscenter ganz in der Nähe der Anlage im Stade Roland Garros von serbischer Musik begleitet. Wobei ein Mitglied seines Teams das Smartphone auf laut gestellt hatte und Djokovic fröhlich ein paar Liedchen mitsummte.
Das Training wurde später doch noch eine ernsthaftere Angelegenheit, aber Djokovics Laune blieb bis zum Schluss gut. Das war ja in letzter Zeit nicht immer so gewesen beim 24-fachen Grand-Slam-Sieger. Seine ersten Tage in Paris waren geprägt von Unsicherheiten, von Einsilbigkeit und leichten Anzeichen von Antriebslosigkeit. Vielen Medienleuten in Paris sind die ersten Auftritte von Djokovic zu Beginn der vergangenen Woche noch gut in Erinnerung; Djokovic wirkte sperrig.
Daran änderten auch seine beiden Dreisatzsiege zum Auftakt des French Open gegen Pierre-Hugues Herbert und Roberto Carballés Baena nichts. Der Weltranglistenerste schien sich, das war der Eindruck, selber nicht so recht über den Weg zu trauen. Nach seinem Sieg in der ersten Runde gewährte er einen kleinen Einblick in sein Inneres. Er liess durchblicken, dass 2024 abseits der Tennisplätze Sachen passiert waren, die sein Tennis beeinflusst hatten. «Es geht um verschiedene Dinge, die in den letzten Monaten passiert sind, aber ich möchte nicht näher darauf eingehen. Ich versuche einfach, mich auf das zu konzentrieren, was getan werden muss», sagte er.
Djokovics Lage ist fragiler als noch im letzten Jahr
Was passiert sei, sei passiert. «Es ist Vergangenheit. Es ist etwas, das ich nicht mehr beeinflussen kann, aber ich kann lernen, bestimmte Dinge zu korrigieren und die Dinge richtigzustellen, die falsch sind und nicht helfen, mein bestes Leistungsniveau zu erreichen», fügte er hinzu. Man kennt das von Djokovic, an schlechten Tagen bleibt er im Nebulösen. Es gibt Kritiker, die ihm das als Taktik auslegen. Blufft Djokovic am Ende gar nur und will damit von seiner sportlichen Situation ablenken?
Die ist in der Tat nicht optimal. Daran ändert auch sein Erfolg gegen Musetti in der Nacht auf Sonntag nichts. Djokovic ist nach wie vor der uneingeschränkte Herrscher im Männertennis, aber die Anzeichen verdichten sich, dass es vielleicht doch eher zu einer Ablösung kommt, als viele denken. In diesem Jahr hat Djokovic noch kein Turnier gewinnen können, seine Form hat keine Konstanz. Die Linien sind unklar.
Am Australian Open zu Beginn des Tennisjahres schied er im Halbfinal gegen den späteren Sieger Jannik Sinner aus. Manch einer sprach danach schon von einer Wachablösung im Herrentennis. Sinner ist 22 Jahre jung, er ist die Nummer zwei im Ranking. Auch in Paris ist der Südtiroler bis jetzt sehr souverän auf den Sandplatz-Courts unterwegs – genauso wie Carlos Alcaraz (21). Es sind in erster Linie diese beiden Profis, die kräftig an Djokovics Thron rütteln. Aber auch Musetti brachte Djokovic an den Rand einer Niederlage. Der Italiener führte mit 2:1 Sätzen, ehe er doch mit 5:7, 7:6, 6:2, 3:6 und 0:6 verlor.
Die alles entscheidende Frage lautet: Wie lange steht Djokovics Stuhl noch? Der Serbe hat selber dazu beigetragen, dass seine Lage fragiler ist als noch im vergangenen Jahr, als er drei von vier Major-Turnieren gewinnen konnte. Der 37-Jährige hat in der jüngeren Vergangenheit beinahe sein gesamtes Team ausgetauscht: Agent, Fitnesstrainer und Chefcoach. Vor allem die Trennung von seinem langjährigen Trainer Goran Ivanisevic im März sorgte in der Tennisszene für ungläubiges Staunen.
«Ich war sehr verwundert über den Split mit Goran», sagte etwa der ehemalige Weltklassespieler Boris Becker in einer Presserunde vor dem Start am French Open. Vor allem der Zeitpunkt habe ihn überrascht, so Becker, der mit Djokovic selber einige Jahre sehr erfolgreich zusammengearbeitet hatte. «Normalerweise kommt ein neuer Trainer im November oder Dezember. Jetzt ist die Saison im vollen Gange, und er hat momentan keinen starken Coach. Gerade an einem Grand-Slam-Turnier braucht es kluge Ratschläge. Novak hatte immer grosse Spieler um sich, die eine andere Ansprache pflegen.» Die fehle ihm jetzt, sagte Becker weiter. In Paris wird Djokovic von Boris Bosnjakovic betreut, einem früheren Jugendtrainer von ihm.
Eigentlich hat Djokovic keine Zeit
Djokovic, so hört man es, suche einen neuen Coach. Aber eigentlich hat er dafür keine Zeit, denn auch im Tennis geht es immer weiter. Auf Paris folgt Wimbledon, und im August reist der Tennistross nach New York zum US Open. Dazwischen stehen Ende Juli die Olympischen Spiele auf dem Programm. Kann Djokovic dieses Tempo noch mitgehen? Oder lässt nicht vielleicht doch auch irgendwann die Begeisterung nach den vielen Jahren auf der Tour nach?
Djokovic äussert sich dazu mit klaren Worten: «Bei Grand Slams habe ich immer noch eine Menge Motivation. Bei anderen Turnieren nicht mehr so sehr, aber bei den Major-Turnieren, den Partien für Serbien und den Olympischen Spielen sehr wohl. Diese Dinge bewegen mich, geben mir immer noch Kraft und bereiten mir Lust», sagte Djokovic in Paris nach dem Gewinn seines ersten Matches.
Es ist ein schmaler Grat, auf dem sich der Ausnahmespieler momentan bewegt: Sich auf seiner Jagd nach den nächsten Rekorden einzig auf die ganz grossen Highlights zu konzentrieren, bringt Risiken mit sich. Andererseits: Es ist immer noch Novak Djokovic, um den es hier geht. Die Partie gegen Musetti hat bewiesen, wozu der Altmeister noch fähig ist. Im Tennis ist es ja ein oft wiederkehrendes Muster: Die grossen Spieler mit den vielen Major-Titeln in den Vitrinen liefern bei den Grand-Slam-Turnieren immer dann ab, wenn es um alles geht und eigentlich nichts mehr für sie spricht. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass bei Djokovic mit seinen 37 Jahren die Uhr immer lauter tickt.