Die belgische Regisseurin Lies Pauwels hat den 240-seitigen Roman auf 33 Drehbuchseiten eingestampft. Eine kluge Entscheidung, deren Umsetzung am Ende dennoch unbeholfen wirkt.
Noch immer ist Hermann Hesse, man darf sich vielleicht wundern, weltweit der zweitmeistgelesene Schriftsteller deutscher Sprache. Das verdankt sich nicht zuletzt seinem Zerrissenheitsepos «Der Steppenwolf», mit dem er 1927 den definitiven Durchbruch schaffte. Generationen haben mit Hesse diese radikalen Selbsterforschungsexerzitien durchschritten.
So zerrissen, wie sich sein Protagonist Harry Haller zwischen einer menschlichen und einer wölfischen Existenz, zwischen Kultur- und Triebwesen fühlt, so gespalten ist auch das literarische Urteil über dieses Jahrhundertwerk.
«Because Hesse likes me»
Marcel Reich-Ranicki war beim ersten Lesen des Romans als Jugendlicher «entzückt», beim zweiten Mal «ernüchtert» und bei der dritten Lektüre «entsetzt». Thomas Mann hingegen befand, dass das Werk «an experimenteller Gewagtheit dem «Ulysses» von James Joyce nicht nachstehe». Adolf Muschg musste auf einer Amerikareise einen Tankwart aus der Vertiefung in den Hesse-Roman reissen, um zu seinem Benzin zu kommen, und als er ihn fragte, was ihn denn so fasziniere an dem europäischen Autor, bekam er zur Antwort: «Because Hesse likes me.»
Jetzt bringt die belgische Schauspielerin und Regisseurin Lies Pauwels, die im Umfeld des Choreografen Alain Platel gross geworden ist und inzwischen auch am Berliner Ensemble und an der Wiener Burg inszeniert, den «Steppenwolf» auf die Bühne des Basler Schauspielhauses. Pauwels ist bekannt für ihre anarchisch-verspielten Produktionen, die gerne die Spartengrenzen zwischen Theater, Tanz, Musik und Performance zum grossen, farbenprächtigen Spektakel durchbrechen. Das könnten gute Voraussetzungen sein, um diesen Koloss eines ichfixierten Textes zu knacken.
Auf 33 Seiten eingestampft
Für ihre Basler Fassung hat Pauwels den 240-seitigen Roman auf ein Kondensat von 33 Seiten verdichtet. Auch wenn dadurch inhaltliche Verluste logischerweise unvermeidlich sind, erscheint das wie eine kluge Entscheidung, die hoffen lässt, dass echte Spielsituationen geschaffen und nicht nur Text-Statements abgeliefert werden. Auch die Fokussierung auf den Kernteil des «magischen Theaters», dieses bordellartigen Zauberraums, wo Harry Haller mit den tausend Facetten seines Ichs konfrontiert wird, leuchtet ein.
In diesem surrealen Wunschraum mischen sich die Wechselbäder von Fiktion und Wirklichkeit bis zur Unkenntlichkeit, es kreuzen sich die überzeitlichen Ideen von Identitätssuche und Fortschrittskritik, von Surrealismus und Weltekel, von Nietzsche und Psychoanalyse, von der Sehnsucht nach Bürgerlichkeit und ihrer scharfen Verdammnis. Wahrlich ein Jahrhundertstoff.
Eine unbeholfene Reise nach Jerusalem
Die multiple Persönlichkeit des Harry Haller splittert sich in Basel sinnigerweise in fünf Performer auf (Andrea Bettini, Jan Bluthardt, Fabian Dämmich, Miriam Joya Strübel, Sven Schelker), die in ihren gleichförmigen Anzügen mit den schwarzen Melonen an Magritte-Figuren erinnern, und gebannt folgt man anfänglich ihrer virtuos differenzierten Sprachgestaltung (Bühne und Kostüme: Johanna Trudzinski).
Bald aber verfällt die Regie auf die Idee mit den Kinderspielen, die sich selbst unterlaufen. Die Dilemma-Situationen verlieren sich im Unverbindlichen, das «Ich packe in meinen Koffer»-Spiel zerbröselt, der Kampf um die Stühle bei der «Reise nach Jerusalem» kann gar nicht entstehen, da es zu viele statt zu wenige Sitzgelegenheiten hat. Das mag natürlich so intendiert sein, wirkt aber unbeholfen.
Was bleibt hängen von diesem «magischen Theater»? Etwas Schwulst, viel Selbstmitleid, ein depressiver Hedonismus – und die «Schule des Humors» als Drohung.