Die Neue Sachlichkeit verschrieb sich einer kühlen, emotionslosen Darstellungsweise. Das Wiener Leopold-Museum zeigt jetzt eine grosse Ausstellung dazu.
Die Zeitenwende spiegelt sich schon in der Mode. Selbstbewusst mit kessem Bubikopf in Marlene-Dietrich-Hosen die Damen, im Stresemann-Anzug die Herren: So vergnügte sich die elegante Welt der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts in Restaurants und Tanzbars bei dem von Josephine Baker in Europa lancierten Charleston. Die «Roaring Twenties» stehen für Lebensgier, Tanz und rauschende Feste. Man wollte die Katastrophe des Ersten Weltkriegs vergessen, in dem alleine neun Millionen Soldaten umgekommen waren. Doch die Unzähligen, die dieser Krieg körperlich und seelisch versehrt, verarmt und stellenlos hinterlassen hatte, konnten nicht vergessen.
Erst 1924 begann in Deutschland eine Phase relativer Stabilität mit wirtschaftlichem Aufschwung. Was jedoch die Kontraste zwischen glitzernder Vergnügungswelt und Elend nicht zum Verschwinden brachte. Im Oktober 1929 endeten die «Goldenen Zwanziger» mit der Weltwirtschaftskrise. Anfang 1931 waren bereits fünf Millionen Menschen als arbeitslos registriert. Das soziale System der Weimarer Republik war den Folgen der Krise nicht gewachsen. Mit Hitlers Machtübernahme endete 1933 die politisch und wirtschaftlich bewegte, künstlerisch aber überaus fruchtbare Nachkriegszeit, die Epoche der Weimarer Republik.
Eine Dekade hatte genügt, um in der bildenden Kunst eine Sprache herauszubilden, die unter der Bezeichnung Neue Sachlichkeit zum Stilbegriff wurde. Im Gegensatz zum Expressionismus verschrieb sie sich einer kühlen, emotionslosen Darstellungsweise. Das Arbeits- und Alltagsleben der Menschen in den Grossstädten war ihr zentrales Thema.
Glanz und Elend
Dass das Wiener Leopold-Museum dieser Stilrichtung erstmals in Österreich eine grossangelegte Retrospektive widmet, kommt nicht unvorbereitet, sind hier doch bereits mit den Ausstellungen «Menschheitsdämmerung» (2021) und «Hagenbund. Von der gemässigten zur radikalen Moderne» (2022) neusachliche Strömungen in der österreichischen Kunst der Zwischenkriegszeit thematisiert worden.
Die gegenwärtige Schau steht unter dem Titel «Glanz und Elend» und bringt damit die sozialen Kontraste der Epoche auf den Punkt. Mit rund 150 Exponaten, die in 13 Themenbereiche gruppiert sind, lädt sie zu einem spannenden Parcours durch das Kunstschaffen der Weimarer Republik ein.
Lea Grundig-Langer: «Arbeitsloser», 1930; Karl Hofer: «Tiller-Girls», vor 1927.
Der Begriff «Neue Sachlichkeit» lässt sich auf den Museumsmann Gustav Friedrich Hartlaub zurückführen, der 1925 in der Städtischen Kunsthalle Mannheim die Ausstellung «Neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus» veranstaltete. Wobei er nur männliche Kunstschaffende berücksichtigte. Anders jetzt die Wiener Schau, die mit einem respektablen Frauenanteil aufwartet.
Hartlaub unterschied zwei Haupttendenzen: die Klassizisten und die Veristen. Die einen pflegten einen zeitlosen «Klassizismus» und blendeten gesellschaftskritische Aspekte aus wie Georg Schrimpf, Alexander Kanoldt oder Carlo Mense. Die anderen setzten sich kritisch und politisch mit der Gegenwart auseinander, so Otto Dix, George Grosz oder Rudolf Schlichter. Mit ihren zum Teil grotesk verzerrten, karikierenden Gestalten, oft zwielichtig und anrüchig, übten die politisch links orientierten Veristen scharfe Kritik an den von Ausbeutung, Kriminalität, Hedonismus und Halbweltexistenzen geprägten Verhältnissen der zwanziger Jahre.
So entlarvt Grosz die sozialen Missstände in der Weimarer Republik im «Grauen Tag» von 1921. Das ursprünglich als «Magistratsbeamter für Kriegsbeschädigtenfürsorge» bezeichnete Bild zeigt vor einer Fabrik mit rauchenden Kaminen vier ungleiche Männer beziehungslos hintereinander: in der Mitte vor einer im Aufbau begriffenen Backsteinmauer den saturierten, modisch gekleideten Beamten mit Mappe und Winkelmass, dahinter den ausgemergelten Kriegsversehrten, links einen gesichtslosen Arbeiter, rechts, halb versteckt, einen Beobachter, den man als Spitzel deuten könnte. Die Konfrontation von Kriegsgewinnlern und Kriegsopfern bildet geradezu ein Leitthema der Exponate.
Die neue Rolle der Frau
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts veränderte sich das Bild der Frau. Die Einführung des Wahlrechts und der durch die Industrialisierung und den Krieg bedingte Zugang zu Tätigkeiten, die bisher Männern vorbehalten waren, führten zu einem neuen weiblichen Selbstverständnis. Das beflügelte die Frauenbewegung, löste aber in vielen Männern auch Ängste aus, was eine erschreckende Zunahme von Femiziden zur Folge hatte.
Vor allem in den Grossstädten entstand der Typus der modernen Frau: unverheiratet und berufstätig. Doch vieles blieb Wunschvorstellung. In Wirklichkeit betraf die propagierte Gleichstellung eine kleine elitäre Gruppe. Im Berufsleben gehörten Frauen nach wie vor zu den Geringverdienern, und zu den Universitäten fanden nur wenige Zutritt.
Für eine Zeitenwende der Emanzipation steht Lotte Laserstein, die an der Berliner Hochschule für die Bildenden Künste ihr Meisterstudium absolvierte und als «Neue Frau», als Symbol der feministischen Bewegung der zwanziger Jahre, auftrat. Ihre Freundin, zugleich ihr Lieblingsmodell Traute Rose, die bei Mary Wigman Ausdruckstanz studierte, schlüpfte in die Rolle der androgynen Tennisspielerin und reflektierte so die damals auflebende Sportbegeisterung, wobei Lotte Laserstein Anleihen bei der Modefotografie machte.
Die neusachliche Bildnismalerei konzentrierte sich primär auf Typenporträts. Die männliche Physiognomie ist oft individueller wiedergegeben als die der Frauen, doch emotionslos, distanziert neutral. Umso aussagekräftiger sind Kleidung, Requisiten, Accessoires, Attribute und Hintergründe. Sie vermitteln Hinweise auf Beruf, Rolle und soziales Milieu, wie Wilhelm Schnarrenbergers «Architekt», Heinrich Maria Davringhausens «Arzt», Hans Grundigs «Schüler mit roter Mütze» oder Christian Schads «Freimaurer». Das entspricht der Devise von Dix: «Das Aussen ist der Ausdruck des Inneren, das heisst Äusseres und Inneres sind identisch.»
Unter den Bildnissen der Neuen Sachlichkeit stechen jene von Christian Schad besonders ins Auge. Wohl sein bekanntestes Werk, das «Selbstbildnis mit Modell» von 1927, zeigt den mit einem transparenten Hemd bekleideten Künstler und die nackte Frau beziehungslos nebeneinander, im Hintergrund eine düstere Industrielandschaft, zwischen ihnen, als Zeichen ihrer narzisstischen Selbstbezogenheit, eine Narzisse. Das eigentliche Thema heisst hier Vereinsamung.
Bei Anton Räderscheidt werden Isolation und Entfremdung durch leere Strassenbilder vermittelt. Wenn Figuren auftauchen, werfen sie keine Schatten, was Beunruhigung erzeugt. In Räderscheidts «Selbstporträt in Industrielandschaft», in dem seine Gestalt multipliziert auftritt, erscheint der Mensch fast roboterhaft. Die in unaufhaltsamem Tempo fortschreitende technische Entwicklung in den 1920er Jahren faszinierte einerseits, wirkte aber gleichzeitig bedrohlich.
Diese Ambivalenz spiegelt sich auch in den magischen Bildwelten von Franz Radziwill: Maschinenromantik oder verschlüsselte Kritik an einer Welt, die weitgehend auf den Menschen als Arbeitskraft verzichten kann? Antworten dazu finden sich in Carl Grossbergs «Papiermaschine» und seinen «Weissen Röhren», in Gustav Wunderwalds «Ziegelei», in Albert Birkles «Schlesischem Kohlenrevier», Franz Lenks «Kalkwerk» oder Schlichters «E-Werk am Abend» und «Stillgelegter Fabrik».
Kunst am Pranger
Während die veristischen Künstler von Dix bis Schlichter mit der vergnügungssüchtigen bürgerlichen Gesellschaft scharf ins Gericht gingen, orientierte sich der rechte Flügel der neusachlichen Maler an Idealen der Renaissance, des Klassizismus und der Nazarener. Schrimpf zum Beispiel malte in altmeisterlicher Manier farblich zurückhaltende Mutter-und-Kind-Darstellungen, darunter die zeitlos harmonische Gruppe «Mutter mit Kindern». Fürsorge und Geborgenheit manifestierten sich ebenso im Œuvre von Davringhausen.
Der bedeutendste neusachliche Stilllebenmaler war Alexander Kanoldt. Ohne erzählerische oder dekorative Details gibt er mit nüchternem Blick und in strengem Bildaufbau alltägliche Gegenstände wieder. Seine bevorzugten Sujets sind Gummibäume, Kakteen und andere Topfpflanzen.
Am 19. Juli 1937 wurde die NS-Ausstellung «Entartete Kunst» in München eröffnet mit dem Ziel, «undeutsche» Kunst an den Pranger zu stellen. In der Schau, die modifiziert auch in anderen Städten Deutschlands gezeigt wurde, waren Werke von neusachlichen Kunstschaffenden zu sehen, die jetzt im Leopold-Museum versammelt sind, darunter Karl Hofers prophetischer «Rufer».
Der letzte Raum ist Hofers Schüler Felix Nussbaum gewidmet, der in Auschwitz-Birkenau umkam. Sein «Orgelmann» von 1943, ein Alter Ego des Malers, sitzt in einer Strassenschlucht mit Skeletten, schwarzen Pestfahnen und blutverschmierten Hauswänden vor einer Orgel, deren Pfeifen aus Knochen gebildet sind. So schlägt der Abschluss der Ausstellung den Bogen zurück zum Anfang, vom Zweiten Weltkrieg zum Ersten.
Otto Dix bemerkte im Gespräch mit dem Kunstkritiker Hans Kinkel: «Kunst machten die Expressionisten genug. Wir wollten die Dinge ganz nackt, klar sehen, beinahe ohne Kunst.» Die mit vielen (Wieder-)Entdeckungen aufwartende Wiener Ausstellung führt vor Augen, wie unter solchen Vorgaben kunstvolle Kunst entstanden ist.
Glanz und Elend. Neue Sachlichkeit in Deutschland. Leopold-Museum Wien. Bis 29. September, anschliessend National Gallery of Art, Washington, 11. Februar bis 27. Mai 2025. Katalog deutsch/englisch € 39.90.