Ein 43-jähriger Mann wirft Chile vor, während der Herrschaft Pinochets systematisch Tausende von Babys gestohlen zu haben. Er selbst war eines davon. Nun will er, dass das düstere Kapitel aufgearbeitet wird.
Ein in den Vereinigten Staaten aufgewachsener Mann hat am Montag eine Strafanzeige gegen den chilenischen Staat eingereicht. Er wirft Chile vor, in den 1970er und 1980er Jahren systematisch Tausende von Babys gestohlen und zur Adoption freigegeben zu haben.
Hinter der Anzeige steckt der 43-jährige Jimmy Lippert Thyden González. Er will damit die Arbeit chilenischer Staatsanwälte und Menschenrechtsorganisationen unterstützen, die sich für die Aufarbeitung der unter General Augusto Pinochet begangenen Verbrechen einsetzen.
Pinochet putschte am 11. September 1973 gegen die demokratisch gewählte Regierung des Sozialisten Salvador Allende. Es folgten Massenverhaftungen, Folter und die Ermordung von Gegnern des neuen Regimes. Am Ende forderte die Herrschaft Pinochets, die bis 1990 dauerte, über 3000 Tote, fast 30 000 Personen wurden gefoltert.
Schicksalsschlag nach 40 Jahren
Thyden González weiss erst seit rund einem Jahr, dass er in Chile Verwandte hat. Er wurde von einer Familie im amerikanischen Gliedstaat Virginia adoptiert. Dort wuchs er mit zwei Geschwistern in einem liebevollen Umfeld auf, ging mit 19 Jahren zur Armee und schlug eine Karriere als Strafverteidiger ein. Er und seine Adoptivfamilie gingen davon aus, dass er keine lebenden Verwandten in Chile hatte.
«40 Jahre lang war das meine Geschichte», schrieb Thyden González in einem Beitrag auf Facebook. Sie sollte sich als falsch herausstellen.
Im April 2023 wurde er auf einen Artikel über einen Mann aus Kalifornien aufmerksam, der seiner Mutter in Chile geraubt und dann von einem amerikanischen Paar adoptiert worden war. Könnte er selbst dasselbe Schicksal erlitten haben?
Thyden González knüpfte in den folgenden Wochen Kontakt zur Organisation «Nos Buscamos». Sie führt Familien zusammen, die unter Pinochet getrennt wurden. Mit einem DNA-Test fand Thyden González heraus, dass seine biologische Mutter tatsächlich noch lebte.
María Angélica González wurde ihr Sohn gleich nach der Geburt in der chilenischen Hauptstadt Santiago weggenommen. Als sie später nach ihrem Kind fragte, wurde ihr gesagt, es sei gestorben. Eine Leiche wurde ihr nicht ausgehändigt. Man sagte ihr, ihr Sohn sei bereits begraben worden.
Tausende Fälle von erzwungenen Adoptionen
Die Geschichte von Thyden González ist kein Einzelfall. Aus Berichten der chilenischen Justiz gehe hervor, dass es rund 20 000 Fälle von solchen erzwungenen Adoptionen gab, berichtet die Nachrichtenagentur AP. Die Organisation Nos Buscamos spricht von mehr als 50 000 betroffenen Familien.
Die Kinder wurden ihren – zumeist einkommensschwachen – Müttern entrissen und im Ausland zur Adoption freigegeben. Die Adoptivfamilien zahlten Gebühren an die Vermittlungsagentur, angeblich für Arzttermine der Kinder oder Unterhalt für die leiblichen Eltern. Über die wahre Herkunft der Kinder wurden sie im Dunkeln gelassen.
Hebammen, Ärzte, Sozialarbeiter, Priester und Nonnen waren in das Geschäft verwickelt. Sowohl für sie als auch für das Regime von Pinochet war es finanziell lukrativ. Es ging auch darum, die politischen Beziehungen zu Ländern in Europa und Nordamerika zu verbessern. Erzwungene Adoptionen gab es zwar auch vor und nach der Zeit des Pinochet-Regimes, allerdings in weit geringerem Ausmass.
Erst 2017 begann Chile mit der Aufarbeitung dieses düsteren Kapitels. Bisher wurde niemand im Zusammenhang mit den erzwungenen Adoptionen angeklagt. Menschenrechtsorganisationen werfen der Regierung vor, die Verbrechen nicht sorgfältig und rasch genug zu untersuchen.
Mit seiner Strafanzeige will Thyden González die Aufarbeitung unterstützen. Zur AP sagte er: «In erster Linie müssen wir erreichen, dass die Regierung anerkennt, dass ein Unrecht geschehen ist.» Laut offiziellen Angaben sind 1200 Fälle hängig. Der Grossteil davon dreht sich um die Schicksale einzelner adoptierter Personen. Thyden González hofft jedoch, dass sein Fall auf breite Resonanz stösst. In seiner Strafanzeige prangert er eine «systematische Situation» an, die sich «über Jahrzehnte erstreckt» habe.
Aufarbeitung nimmt Fahrt auf
Unabhängig von der Anzeige ist jüngst Bewegung in die Sache gekommen. Ein neuer Richter wacht seit diesem Juli über die staatlichen Ermittlungen im Zusammenhang mit den erzwungenen Adoptionen. Mit der Massnahme will die Regierung von Präsident Gabriel Boric signalisieren, dass sie es mit der Aufarbeitung der Vergangenheit Chiles ernst meint.
Boric traf sich vergangene Woche zudem mit dem schwedischen Ministerpräsidenten Ulf Kristersson in Stockholm. Rund 2000 der geraubten chilenischen Kinder waren nach Schweden vermittelt worden. Die beiden Regierungschefs vereinbarten einen «Informationsaustausch» zu den erzwungenen Adoptionen.