Ob Wladimir Putin vor der Invasion der Ukraine gut nachgerechnet hat, was der Krieg Russland insgesamt kosten wird? Zu den direkten Kriegskosten und zu den Kosten durch die Sanktionen hinzu kommen die Kosten für die Gefallenen und Verwundeten – ein Albtraum.
Im Laufe seiner Geschichte hat sich Russland nur selten gut um seine Soldaten gekümmert, sowohl auf dem Schlachtfeld als auch ausserhalb. Der derzeitige Versuch des Kremls, seine Ukraine-Veteranen angemessen zu behandeln, scheint ebenso unzureichend wie unbezahlbar. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine wird Legionen gebrochener Männer zurücklassen und gleichzeitig die Staatskassen aushöhlen.
Nach fast zweieinhalb Jahren zermürbender Kriegsführung haben sowohl die Ukraine als auch Russland horrende Verluste erlitten und Hunderte von Milliarden Dollar ausgegeben. Trotzdem ist ein baldiges Ende des Konflikts unwahrscheinlich, da nach wie vor beide Seiten glauben, dass sie mehr zu gewinnen haben. Doch der Preis wird nicht allein auf dem Schlachtfeld gezahlt. Selbst wenn die Kämpfe heute enden würden, werden die wirtschaftlichen und demografischen Konsequenzen für die Russen generationsübergreifend sein.
Anhand von frei zugänglichen Informationen über die Kosten des Gesundheitswesens und den Zustand des russischen Gesundheitssystems sowie anhand von historischen Studien und medizinischen Veröffentlichungen lässt sich der erdrückende wirtschaftliche Schaden des Krieges für Russland in Bezug auf die Ausgaben für die bestehende und die zukünftige Unterstützung des Militärpersonals bestimmen. Der Staat ist weder logistisch noch fiskalisch noch kulturell auf die enorme Belastung vorbereitet, die auf ihn zukommen wird. Er dürfte an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit kommen.
Schwindelerregende Zahlen
An erster Stelle steht der russische Staat in der Pflicht, die Familien der gefallenen Soldaten auf Dauer finanziell zu unterstützen. Hinzu kommen die Verwundeten. Sie werden für immer aus dem Erwerbsleben ausscheiden, und selbst jene, die wieder einen Beruf ausüben können, werden lebenslange psychische und physische medizinische Betreuung benötigen. Die Zahl der toten oder verwundeten Soldaten wird die negativen demografischen Trends in Russland weiter verschlimmern.
Zunächst muss man sich vergegenwärtigen, wie viel der russische Staat derzeit für Versorgungsleistungen ausgibt. Die einmaligen Kosten für die Entschädigung verwundeter und der Familien toter Soldaten sind sehr hoch, was nicht zuletzt auf die jüngsten Erlasse zurückzuführen ist, welche hohe Zahlungen versprechen, um Anreize für eine Teilnahme am Ukraine-Feldzug zu schaffen.
Die offenen Diskussionen über den Krieg, die Teil der Traumabewältigung sind, dürften in Russland als Untergrabung des öffentlichen Vertrauens in das Militär angesehen werden.
Ein vor dem Krieg verabschiedetes Gesetz gibt der Familie eines gefallenen Soldaten Anspruch auf 3,3 Millionen Rubel als Versicherungsleistung von privaten Versicherern und weitere 5 Millionen Rubel vom Staat. Verwundete Soldaten haben gemäss einem Erlass aus den ersten Tagen der Invasion Anspruch auf 3 Millionen Rubel. Präsident Putin hat eine gesonderte Zahlung von 5 Millionen Rubel an die Familien angekündigt (dabei werden die erwähnten 3 Millionen Rubel für Verwundete mit weiteren 2 Millionen im Todesfall kombiniert). Jeder russische Oblast bietet eine separate Zahlung von mindestens 1 Million Rubel, einige zahlen sogar bis zu 3 Millionen.
Zusammengenommen belaufen sich die Kosten für die Auszahlung an die Familie eines in der Ukraine getöteten Soldaten derzeit auf mindestens 14 Millionen Rubel.
Ausgehend von Schätzungen haben die Russen bis jetzt rund 400 000 Opfer zu beklagen, unter ihnen über 100 000 Tote. Eine einfache Rechnung zeigt, dass sich die einmaligen Zahlungen auf 900 Milliarden Rubel für die Verwundeten und mindestens 1,4 Billionen für die Familien der Toten belaufen würden, insgesamt also 2,3 Billionen Rubel. Dies entspricht 6 Prozent des Staatshaushaltes 2024, ein wahrhaft schwindelerregender Betrag, der noch weiter ansteigen wird.
Freilich kommt der Kreml nicht mit Einmalzahlungen davon, wenn er eine angemessene medizinische Versorgung der Veteranen gewährleisten will. Nach Afghanistan und Tschetschenien war die Versorgung von Verwundeten günstiger als heute, da der Umfang der Behandlung geringer war und die Kosten für medizinische Geräte, Medikamente und Pflegekräfte niedriger waren. Russlands Verwundete kehren mit komplexen, langfristigen Verletzungen nach Hause zurück.
Erhebliche Kapazitätsprobleme
Seelische Wunden sind möglicherweise noch schwerer zu behandeln. In einer Studie von 2022 wurde geschätzt, dass sich die wirtschaftlichen Gesamtkosten von posttraumatischen Belastungsstörungen aufgrund von Kriegen in den USA im Jahr 2018 auf 232 Milliarden Dollar beliefen. Die jährlichen Pro-Person-Kosten für posttraumatische Belastungsstörungen bei Militärangehörigen und Veteranen betrugen 25 700 Dollar pro Jahr, bei Zivilisten waren es 18 640 Dollar pro Jahr. Inflationsbereinigt würden sich diese Zahlen heute auf rund 32 000 bzw. 23 000 Dollar pro Jahr belaufen.
Davon ausgehend lässt sich kaufkraftbereinigt eine ungefähre Schätzung der Kosten für Russland anstellen. Der jährliche Aufwand für die Behandlung eines Soldaten mit posttraumatischer Belastungsstörung betrüge rund 15 000 Dollar. Bei einem Wechselkurs von 90 Rubel pro Dollar wären dies 1,35 Millionen Rubel pro Jahr und Person. Wenn eine Million Soldaten in der Ukraine kämpfen, ist zu erwarten, dass die Hälfe von ihnen eine Art posttraumatische Belastungsstörung erleidet. In diesem Fall würden sich die geschätzten jährlichen Kosten für Russland auf über 660 Milliarden Rubel belaufen, was etwa 2 Prozent des Haushalts von 2024 entspricht.
Abgesehen von den enormen Kosten gibt es erhebliche Kapazitätsprobleme. Die Zahl der Krankenhäuser in Russland ist seit 2012 um etwa 20 Prozent gesunken, und es gibt lediglich zehn Veteranenkliniken im Land. Das einzige Krankenhaus, das sich auf die psychologische Rehabilitation spezialisiert hat, verfügt über gerade einmal 32 Betten. Das Militärkrankenhaussystem muss massiv ausgebaut werden, sonst riskiert der Staat den Zusammenbruch des medizinischen Systems, vor allem in ärmeren und dünner besiedelten Gebieten.
Es ist unklar, woher Geld und Personal für einen solchen Ausbau kommen sollen. Doch wenn der Staat die erforderlichen Mittel nicht bereitstellt, werden entweder die russischen Veteranen oder die Bürger keine angemessene medizinische Versorgung erhalten.
Ob wegen fehlender Ressourcen oder wegen des verbreiteten Vorurteils, dass posttraumatische Belastungsstörungen nur eine persönliche Schwäche seien – es zeichnet sich ab, dass eine grosse Zahl traumatisierter Veteranen nach ihrer Rückkehr keine angemessene psychiatrische Behandlung erhalten wird.
In einer Studie von 2009 wurden Menschen untersucht, die während der Jugoslawienkriege traumatische Erlebnisse hatten und niemals psychologische Behandlung erfuhren. Die Ergebnisse verdeutlichen die drastischen Auswirkungen eines unbehandelten Traumas auf die Produktivität. Die Befragten gaben durchweg eine extrem hohe Arbeitslosigkeit an. Es zeigt sich hier deutlich, welch katastrophale Auswirkungen eine unbehandelte posttraumatische Belastungsstörung auf die Fähigkeit eines Menschen haben kann, in der Gesellschaft zu funktionieren.
Alkoholismus und Drogensucht
Neben erhöhten Pflegekosten und Produktivitätseinbussen gibt es eine Fülle anderer negativer Auswirkungen. So etwa litten im November 1989 bis zu 60 Prozent der sowjetischen Veteranen des Afghanistankrieges an Alkoholismus oder Drogensucht. Die Tschetschenienkriege zeitigten zudem anderweitig drastische und kostspielige Folgen: Mitte der 2000er Jahre befanden sich etwa 100 000 Veteranen im Gefängnis.
Angesichts der in den Kriegen in Afghanistan und Tschetschenien geschaffenen Präzedenzfälle, bei denen die psychiatrische Versorgung ignoriert wurde oder stark unterfinanziert blieb, besteht die Möglichkeit, dass sich dies bei der Invasion in der Ukraine wiederholt. Antiquierte Einstellungen, die psychische Erkrankungen als moralische und spirituelle Schwäche ansehen, sind in der Führung wohl immer noch gängig. Solche Auffassungen dürften im Übrigen auch unter den russischen Soldaten vorherrschen, so dass sie wenig geneigt sind, eine Behandlung in Anspruch zu nehmen.
Hinzu kommt, dass freimütige und offene Diskussionen über den Krieg, die Teil der Traumabewältigung sind, in Russland als Untergrabung des öffentlichen Vertrauens in das Militär angesehen werden. All dies bedeutet, dass, wenn das Geld in Russland knapper wird (vor allem wenn die Ölpreise sinken), die Programme für die psychische Gesundheit frühzeitig auf der Kippe stehen könnten.
Insgesamt zeigen die verfügbaren Zahlen die enorme Belastung, die der Krieg in der Ukraine für Russland bedeuten wird, wenn die Waffen ruhen. Die Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen, die Versorgung körperlich verwundeter Soldaten und die Unterstützung ihrer Familien werden in den kommenden Jahrzehnten einen wichtigen Haushaltsposten darstellen und könnten zu einer politischen Schwachstelle für den Kreml werden, wenn er die Erwartungen der Veteranen und ihrer Familien nicht zu befriedigen vermag. Langfristig werden die gestiegenen Ausgaben in Verbindung mit instabilen Einnahmen den russischen Staat zu schwierigen Entscheidungen zwingen.
Thomas Lattanzio ist Stipendiat an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies mit Schwerpunkt Sicherheit, Strategie und Staatskunst. Harry Stevens ist Absolvent der University of Chicago, spezialisiert auf russische Angelegenheiten und Wirtschaftsgeschichte. Beim abgedruckten Text handelt es sich um die gekürzte Fassung eines längeren Stücks, das auf der Plattform War on the Rocks erschienen ist. Aus dem Englischen von A. Bn.