Es ist Ferragosto – und ein ganzes Land in Ferienstimmung. Wir erinnern uns, warum man sich nirgends so gut erholen kann wie in Italien. Und wünschen: Buone Vacanze!
1. La passeggiata
lip. Es geschah am frühen Abend. Wir sassen nahe einer Piazza in Ragusa auf Sizilien. Hinter uns die wärmende Fassade der barocken Stadt, vor uns ein Glas Weisswein und jede Menge Stuzzichini, die zum Apéro servierten Kleinigkeiten, die entgegen der Bezeichnung gern üppig ausfallen. Beim Aperitivo also, diesem Ritual, das allein eine Reise nach Italien lohnt, fiel uns plötzlich auf: all diese Menschen!
Bekannte, Paare, ja ganze Familien, vom Enkel mit dem Gelato in der Hand bis zur Grossmutter im knöchellangen Rock: Sie alle flanierten über die Piazza. Aber anders als wir Touristen. Gemütlich, nicht zielstrebig, und in guten Kleidern, nicht Flipflops – man macht Bella Figura. Zu beobachten war, wie wir erfuhren, ein italienisches Kulturgut: die Passeggiata. Ein allabendlicher Spaziergang, bei dem es weniger um Bewegung geht als um Begegnung. Man zeigt sich, man amüsiert sich, man plaudert über die Kinder, die Politik, den Fussball, und ist da vielleicht sogar ein Flirt?
Die Passeggiata ist ein analoges Pendant zu Social Media, mit einem Unterschied: Ihr Effekt auf das geistige Wohlbefinden ist positiv. Wir tranken aus und spazierten mit. Und sinnierten über eine besondere Begabung Italiens: scheinbar Banales als geselliges Ereignis zu zelebrieren.
2. La famiglia
cov. Ferienzeit ist Familienzeit. In Italien noch etwas mehr als anderswo. Kreischende «bambini» fallen im Restaurant nicht auf, da ist manch ein Erwachsener lauter unterwegs. Und weil der Sonnenuntergang weder kühle Luft noch Schlaf bringt, dürfen die Kleinen bis spät in den Abend draussen Fangis und Fussball spielen. Kinder sind hier Kapital, keine Last. Denn die Familie bleibt ein Pfeiler der italienischen Gesellschaft. Der Philosoph Luciano De Crescenzo schrieb, dass in nördlichen Ländern eher «Freiheitsmenschen» lebten. Sie können sich auf eine funktionierende Infrastruktur verlassen und sind unabhängig. Im Süden findet man die «Liebesmenschen». Sie sind mangels Alternativen aufs archaische Familienmodell angewiesen. Italien-Tourismus ist auch das: Freiheitsmenschen, die gern etwas mehr Liebesmenschen wären.
3. La grande bellezza
lwa. Das Licht, die Marmorstatuen, die Kirchen, die Arkaden, die Ornamente! Manchmal ist man plötzlich erschlagen von all der italienischen Schönheit. Wie betrunken läuft man durch Gassen und Plätze, benommen von so viel Sinnlichkeit. Alles scheint überzuquellen.
Ständig bleiben die Augen hängen. Überhaupt wird man in Italien-Ferien zu einem Paar wandelnder Augen, die gierig die Umgebung abtasten. Ja nichts verpassen! Selbst am Boden finden sie Schätze: Mosaik-Steinchen und kunstvoll verlegte Steinböden, auf denen die Schuhe himmlisch klackern.
Und dann die Übermacht der Geschichte. An jeder Strassenecke lauert eine Ausgrabungsstätte. Überreste eines Tempels, ein Amphitheater, ein paar Säulen-Stümpfe. Vor lauter Möglichkeiten schwirrt der Kopf. Völlig ermattet schleppt man sich bis zu einem schattigen Plätzchen, um sich bei einem Espresso wieder zu fangen. Die konzentriert schwarze Flüssigkeit am Tassenboden erdet sofort. Und schon ist der Mut zurück: Zu viel des Schönen kann wunderbar sein.
4. La cucina
hin. Wenn ich in Italien Ferien mache, gebe ich viel Geld fürs Essen aus, schaufle Bruschette, Gnocchi, Cannelloni, Tiramisu, Gelati in mich hinein. Denn ich weiss, dass mir daheim die wichtigste Zutat fehlt: die Zeit.
Der Pizzateig muss aufgehen, damit er luftig wird, die Tomatensauce stundenlang auf kleiner Flamme köcheln, das Tiramisu schmeckt erst am zweiten Tag so richtig cremig. Die Geduld zahlt sich aus, die italienische Küche gilt als die beste der Welt.
Viel über die italienische Gemütlichkeit habe ich von meiner früheren Mitbewohnerin Lorena gelernt, einer Süditalienerin mit schweren Locken und lautem Lachen. Lorena, damals 21 Jahre alt, ass so langsam, dass das Essen auf dem Teller vor ihr erkaltete. Sie weigerte sich, das Pasta-Wasser mit dem Wasserkocher aufzukochen.
Für Lorena manifestierte sich in der Küche ein Lebensgefühl, das uns in der Schweiz fremd ist: bloss keine Hektik.
5. Il calcio
etz. Cattolica, Rimini, Jesolo. Überall an der Adria war es dasselbe. Jeden Sommer, während der Ferien mit unserer Familie, verloren sich meine Brüder und ich an den Marktständen. Wir suchten nach den Leibchen der Klubs aus der Serie A. Nach den billigen, gefälschten, an denen sich schon auf der Rückfahrt die ersten Fäden lösten. Fussball und Italien waren eine grosse Symbiose.
Ich konnte kaum laufen, da posierten meine Brüder und ich am Strand im strahlenden Violett der AC Fiorentina. Wir alle trugen die Nummer 9 auf dem Rücken und darüber den Namen, der klingt wie ein Gefühlsausbruch fanatischer Tifosi: BATISTUTA.
Batistuta war Argentinier, der grösste Stürmer der Serie A und der Lieblingsspieler unseres Vaters, der uns erfolgreich indoktrinierte. Neben ihm hatten wir noch andere Idole. Denn Weltstars gab es in der Serie A im Überfluss. Wir glaubten damals, wenn wir ihre Trikots überstreiften, spielten wir ein kleines bisschen so wie sie. Wir wurden zu Ronaldos, Buffons, Maldinis, Cannavaros, Del Pieros, Zanettis, Tottis.
Heute hat der italienische Fussball an Bedeutung eingebüsst. Doch wenn ich auf einem Markt einen kleinen Stand mit ausgebleichten Fussballtrikots sehe, packt mich die Nostalgie, und ich suche ein Leibchen. Für meinen Göttibub.
6. La musica pop
cov. So zuverlässig wie Wellen schlagen sie auf italienischen Stränden auf: die Sommer-Hits. Man nennt diese Ohrwürmer «tormentoni», weil die Radiostationen sie permanent spielen und uns damit quälen. Seit den 1960er Jahren werden sie speziell auf den Sommer hin produziert – frei vom Laura-Pausini-Herzschmerz, der besser zum November passt. Liebeskummer braucht im August niemand. In «L’estate addosso» singt Jovanotti: «La protezione zero spalmata sopra il cuore». Also: Schutzfaktor null aufs Herz schmieren, und ab geht’s ins grosse Abenteuer. Zwischen den Sonnenschirmen wird wieder alles möglich. Hier wird das Wort «sole» (Sonne) gesäuselt, dort ein «sabbia» (Sand) eingestreut. Und ich stelle mir eine Huhn-oder-Ei-Frage: Deckt sich dieser Sound nun exakt mit meiner Vorstellung unbeschwerter Ferien? Oder ist es genau dieses Lied, das gerade mein Gefühl zu diesen Ferien prägt?
7. L’aperitivo
max. Irgendwo zwischen Positano und Amalfi, diesen Städten voller Touristen und Postkarten-Kitsch, fuhren wir über die Amalfitana. Begeistert von Steilhängen und Meer, ermüdet von den ewigen Kurven, sahen wir Sonne glutrot sinken. Es war diese magischste Zeit eines jeden Italien-Tages gekommen – Aperitivo-Zeit. Wir hielten in Praiano, einem Ort, durch den man für gewöhnlich durchfährt. Direkt vor einem kleinen Rifugio stellten wir unseren Leihwagen ab und lechzten nach Stärkung. Hinter der Theke stand eine uralte Nonna, die uns rettete. Sie servierte unvergleichliche Arancini, Focaccia und Oliven. Und fing uns den Sonnenuntergang im Glas ein: einen tief-orange strahlenden Aperol. Wir stellten uns an das Mäuerchen, das Amalfitana und Hang trennte, und blickten aufs Meer. Am Horizont sahen wir die rote Sonne bei Capri im Meer versinken, und die Fischer zogen mit ihren Booten aufs Wasser hinaus. Der Aperitivo schien in diesem Moment genauso unendlich wie die Zeit.
8. Il caffè
mimo. In der kleinen Bar an der Strassenecke herrscht nur schemenhaftes Licht, Tassen klappern, die Barista-Maschine brummt. Dann breitet sich der intensive Duft frisch gebrühten Espressos im Raum aus: Das ist italienisches Lebensgefühl in Reinform. Der «caffè» – nicht etwa «un espresso» – wird mehrmals am Tag eingenommen.
Der Caffè läuft in dreissig Sekunden langsam und stetig, vor allem aber kochend heiss ins Espressotässchen, das nur halb voll wird. Konzentriertes Dolce Vita, schwarzes Lebensglück in zwei Schlucken, darüber eine Schicht dichte, haselnussbraune Crema. Im Stehen vor dem Tresen eingenommen, dazu einen Ricciarello oder Cantuccio. Mehr Italien geht nicht.
9. Il mare
mimo. Das Rauschen der Wellen, das tiefe Blau des Wassers, Salz auf der Haut. Das Meer ist Sehnsuchtsort, tiefgründig und endlos. Es vermittelt Freiheit und Lebendigkeit. Vielleicht wurde Italien auch deshalb in der Nachkriegszeit zu einem beliebten Ferienziel. Zunächst an der Adria, wo noch heute heruntergekommene Hotels der 1950er Jahre mit bröckelndem Mörtel und abgeblätterter Farbe die Strände säumen.
Heute ist es eher die Toskana, die viele Feriengäste anzieht. Weniger Hotelburgen, mehr Natur. Der Duft von Pinienwäldern hängt in der Luft, begleitet vom Sirren der Grillen. In der Ferne Elba, jene Insel, auf der einst Napoleon ausgesetzt wurde. Die Sonne färbt den Himmel und das Meer abends in unterschiedlichste Rottöne, der Horizont verschwimmt, alles wird eins. Und dann ist da dieses Gefühl von: Ja, genau hier will ich sein.
10. Il mercato
lia. Ein Besuch auf dem Wochenmarkt gehört für mich zu den Ferien in Italien wie die Pizza oder das Gelato. Als Kind suchte ich zwischen Ledertaschen, gepökeltem Fleisch und Kleiderständern nach einem geeigneten Souvenir. Ein Stückchen Dolce Vita für zu Hause.
Für meine Eltern war der Bummel über den Markt ideal. Meine Brüder und ich waren für Stunden beschäftigt, studierten Tierfiguren aus Stein, Holz oder Plastik, handgeknüpfte Armketten mit Muschelanhängern. Doch ich wurde älter, und mein Fokus veränderte sich.
Bald suchte ich an den Kleiderstangen nach einer modischen Erleuchtung. Ich war überzeugt, dass zwischen den Ständen ein ähnliches modisches Flair vorherrsche wie in den Armani-, Prada- und Gucci-Läden in Milano. Hier könnte ich den neusten Trend entdecken, nur für einen günstigeren Preis. Ein Jahr war es ein Schal mit gehäkeltem Rand, ein anderes Mal eine Pluderhose mit Blumenmuster. Nach den Sommerferien kam meist die Ernüchterung. In der Klasse trugen fünf andere Mädchen genau das Gleiche. Seither greife ich lieber bei Oliven, Käse und Süssem zu.