Schulbesuch als Voraussetzung für eine erleichterte Einbürgerung: Ein unkonventioneller Vorschlag sorgt für Unruhe in Italiens rechter Regierungskoalition.
An Ferragosto haben die Italienerinnen und Italiener nun wirklich anderes im Sinn als Politik. Es wird gegessen (sehr viel), gefeiert (sehr lang) und geplaudert (sehr laut). Der 15. August ist ein Feiertag, und den lässt man sich hier nicht nehmen, schon gar nicht von den «politici» im fernen Rom. Und trotzdem dürfte unter dem einen oder anderen Sonnenschirm diesmal auch über einen bemerkenswerten Vorschlag diskutiert worden sein, den die Forza Italia (FI), die von Silvio Berlusconi gegründete Partei, ausgerechnet am Vorabend der Feierlichkeiten platziert hat.
Es geht um Bürgerrechte, genauer: um die Erteilung des Bürgerrechts an Ausländer und deren Kinder. In Italien gelten im europäischen Vergleich diesbezüglich ziemlich komplizierte Verfahren. Gleichzeitig hat das Land ein Demografieproblem. Es ist stark überaltert, und viele junge, gut ausgebildete Menschen zieht es ins Ausland. Das Problem ist eigentlich erkannt: Italien braucht rasch viel mehr Italiener. Doch bewegt hat sich unter der gegenwärtigen Regierung nicht viel.
Italienerin nach fünf Schuljahren
Mitten in der Sommerpause macht FI als Regierungspartei nun aber einen erstaunlichen Vorschlag: Ausländische Kinder, die in Italien geboren oder vor dem 12. Geburtstag eingereist sind und einen mindestens fünfjährigen Schulzyklus absolviert haben, sollen die italienische Staatsbürgerschaft erhalten. «Ius scholae» nennt man hier diese Idee, in Anlehnung an das «ius soli», wie es in den USA oder in Frankreich praktiziert wird, wo unter gewissen Bedingungen das Bürgerrecht dann verliehen wird, wenn man im entsprechenden Land geboren ist. Im Unterschied zum «ius soli» setzt das «ius scholae» eine gewisse Grundleistung – den Schulbesuch – voraus. Die Schule ist auch in Italien einer der grossen gesellschaftlichen Integrationsmotoren.
Gemäss Schätzungen würden bei einer Einführung des «ius scholae» auf einen Schlag etwa 135 000 Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit erhalten, die italienische Staatsbürgerschaft zu erwerben. Anschliessend würden jährlich etwa 6000 bis 7000 Personen von den Erleichterungen profitieren.
Genaugenommen handelt es sich um keinen ganz neuen Vorschlag. Er ist, wie andere Ideen auch, schon seit einigen Jahren in Diskussion, doch ist er im Räderwerk der Politik bisher stets steckengeblieben. Dass er nun wieder aufs Tapet gebracht wird, hat verschiedene Gründe.
Zum einen haben die Olympischen Spiele in Paris die Integrationsfrage befeuert. Besonders der historische Sieg der Volleyballerinnen wurde als Erfolg einer bunten Mannschaft gefeiert, die sich aus «neuen» und «alten» Italienerinnen zusammensetzt und die überdies von einem Trainer gecoacht wurde, der aus Argentinien stammt und «in die Trikolore gehüllt italienischer aussah als viele andere», wie es in der Zeitung «Il Foglio» hiess. Derweil rümpften einzelne Rechtsaussen-Politiker die Nase über die angeblich «nichtitalienischen Gesichtszüge» einzelner Spielerinnen. Die Debatte läuft und füllt die Seiten der dieser Tage merklich dünner gewordenen Blätter.
Zum anderen hat sich kürzlich Marina Berlusconi, die älteste Tochter von Silvio Berlusconi, zu Wort gemeldet und ihre Partei aufgefordert, in zivilrechtlichen Fragen mehr Farbe zu bekennen. Wenn es um die persönlichen Rechte gehe, fühle sie sich eher der «vernünftigen Linken» verbunden, sagte Marina Berlusconi, deren Familie die Partei nach wie vor mit ausreichenden finanziellen Mitteln versorgt und entsprechend Druck ausüben kann.
Streit in der Koalition
Während Forza Italia von der Linken und von gemässigten bürgerlichen Kräften Applaus erhält, knackt es im Gebälk der rechten Regierungskoalition. Kaum war der Vorschlag platziert, meldete sich die Lega von Matteo Salvini zu Wort. Ein Bild, das die Partei auf «X» postete, zeigt Forza-Italia-Präsident Antonio Tajani zusammen mit der Chefin des sozialdemokratischen Partito Democratico (PD), Elly Schlein. Suggeriert wurde, dass die Forza Italia mit dem PD gemeinsame Sache machen und durch die Hintertüre das radikalere «ius soli» einführen wolle.
La legge sulla cittadinanza va benissimo così, e i numeri di concessioni (Italia prima in Europa con oltre 230mila cittadinanze rilasciate, davanti a Spagna e Germania) lo dimostrano. Non c’è nessun bisogno di Ius Soli o scorciatoie. pic.twitter.com/pSy9N9nz6f
— Lega – Salvini Premier (@LegaSalvini) August 14, 2024
Keine sehr freundlichen Töne in einer Regierungskoalition, in der die Spannungen zuletzt ohnehin zugenommen haben. Vor allem zwischen der Lega und der FI mehren sich die Dissonanzen, sei es in der Ukraine-Frage, sei es in der Europapolitik oder in der Beurteilung des amerikanischen Wahlkampfs, wo sich Salvini längst als Anhänger von Donald Trump positioniert hat.
Nach der Sommerpause dürfte sich Regierungschefin Giorgia Meloni die Streithähne vorknöpfen. Die Rolle der permanenten Schiedsrichterin sagt ihr, die gerne den Ton angibt, nicht zu. Im September wird sich das Parlament mit der Frage des Bürgerrechts beschäftigen. Bis dahin müssten die Fronten geklärt sein. Doch erst einmal ist Meloni abgetaucht. Sie verbringt den Ferragosto in Apulien. Angesagt sind: Essen, Feiern, Plaudern. Von ihren Kollegen, den «politici», möchte auch sie wohl erst einmal nichts hören.