Drei Wochen nach der Tötung des Hamas-Chefs Ismail Haniya in Teheran hat sich in Israel die Sorge vor einem grossen Krieg mit Iran verflüchtigt. Es bleibt aber die Frage, weshalb Iran so lange mit seinem Gegenschlag wartet.
«Vor zwei Wochen war ich noch extrem besorgt – jetzt denke ich fast gar nicht mehr an Iran», sagte ein junger Israeli am Dienstag, der in der Nähe von Haifa wohnt. So wie dem jungen Mann geht es den meisten Menschen in Israel. Von der Angst vor einer unkontrollierten Ausweitung des Krieges im Nahen Osten ist drei Wochen nach der Tötung des Hamas-Chefs Ismail Haniya in Teheran nicht viel geblieben.
Nach dem Anschlag am 31. Juli hatte Irans Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei mit einem Grossangriff auf den jüdischen Staat gedroht. Auch der Hizbullah versprach Vergeltung, nachdem Israel wenige Stunden vor Haniya einen hochrangigen Führer der libanesischen Schiitenmiliz in Beirut getötet hatte. Viele Beobachter waren sich sicher: Der Nahe Osten steht kurz vor einem grossen Krieg.
Davor hat in Israel kaum jemand noch Angst. Zwar ist das Militär weiterhin in höchster Alarmbereitschaft, und die USA haben Flugzeugträger und Kampfjets in die Region verlegt. Doch drei Wochen nach den Attentaten in Beirut und Teheran ist immer noch nichts geschehen. Die jüngsten Äusserungen aus Iran deuten darauf hin, dass sich daran so bald auch nichts ändern wird.
Iran wird «vorsichtige und weise» Entscheidung treffen
So sagte ein Sprecher der iranischen Revolutionswächter am Dienstag in Teheran, die Zeit sei auf Irans Seite. «Und es kann sein, dass unsere Antwort länger auf sich warten lässt», verkündete General Ali Mohammed Naeini bei einer Medienkonferenz. «Es ist möglich, dass die iranische Antwort keine Wiederholung früherer Operationen sein wird.»
Die Äusserungen des Generals deuten darauf hin, dass Iran keinen erneuten grossen Raketen- und Drohnenangriff auf Israel ins Auge fasst. Im April hatte Teheran nach einem israelischen Angriff auf das iranische Konsulat in Damaskus zum ersten Mal überhaupt Israel direkt von seinem eigenen Territorium aus angegriffen.
Dieses Mal sind die Fraktionen innerhalb des iranischen Regimes laut Medienberichten aber uneins darüber, wie Iran reagieren soll. Vor allem der neu gewählte Präsident Masud Pezeshkian soll für Zurückhaltung plädiert haben, während die Revolutionswächter einen schnellen Angriff auf Israel bevorzugt hätten.
Sicherheitsexperten sind sich einig, dass Teheran einen grossen Krieg vermeiden will. Eine Eskalation würde die Stabilität des Regimes weiter gefährden. Vor allem Präsident Pezeshkian hat kein Interesse daran: Er ist als Reformer angetreten, der die Beziehungen zum Westen verbessern und eine Lockerung der Wirtschaftssanktionen erreichen will.
Die Äusserungen von General Ali Mohammed Naeini zeigen das Dilemma auf, in dem sich die iranische Führung befindet. Diese wäge alle Aspekte der Situation ab und werde eine vorsichtige und weise Entscheidung treffen, sagte Naeini am Dienstag.
Bleibt der Gegenschlag komplett aus?
Hinzu kommt, dass dieser Tage weiter über eine Waffenruhe im Gazastreifen verhandelt wird. Laut der amerikanischen Regierung wird Iran von einem Gegenschlag absehen, falls in Gaza die Waffen schweigen. Ein Durchbruch in den Vermittlungsgesprächen ist derzeit unwahrscheinlich. Trotzdem wird Iran vor einem endgültigen Scheitern der Verhandlungen voraussichtlich nicht angreifen. Das Regime will vermeiden, dass ihm die Schuld dafür angelastet wird.
Es ist allerdings kaum denkbar, dass Teherans Gegenschlag komplett ausbleibt. Zu gross war die Demütigung für Iran, zu gefährlich wäre das Signal an Israel, wenn nichts geschieht. Eine Antwort, die keinen grossen Krieg auslöst, bleibt das wahrscheinlichste Szenario. Der Gegenschlag könnte allerdings noch Tage oder Wochen auf sich warten lassen, wie die jüngsten Verlautbarungen zeigen.
Denn eins ist klar: Nachdem Iran den Überraschungsmoment verpasst hat, steigen Teherans Erfolgschancen, je länger es wartet. Die USA können ihre hohe Militärpräsenz in der Region nicht dauerhaft aufrechterhalten – und die Israeli werden sich mit der Zeit noch stärker in trügerischer Sicherheit wiegen.
NZZ Live-Veranstaltung: Das Hamas-Massaker und die Folgen: Analyse der NZZ-Nahostkorrespondenten
Ein düsterer Jahrestag: Am 7. Oktober 2023 war der terroristische Überfall der Hamas auf Israel. Was ist von diesem Krieg noch zu erwarten, und unter welchen Bedingungen wäre ein friedliches Zusammenleben möglich? Unsere Korrespondenten im Digital-Talk.
10. Oktober 2024, 12:00 Uhr, Online
Tickets und weitere Informationen finden Sie hier.