Um Deutschland vor einer massiven Deindustrialisierung zu bewahren, sind laut einer Studie im Auftrag des Industrieverbands BDI bis 2030 immense Investitionen nötig. Ein Drittel davon müsse der Staat stemmen, teilweise auf Kosten neuer Schulden.
«Aktuell ist das Geschäftsmodell Deutschland in ernster Gefahr, nicht irgendwann, sondern hier und heute. Rund ein Fünftel der industriellen Wertschöpfung ist bedroht»: Mit diesem Alarmruf hat Siegfried Russwurm, der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) am Dienstag die Präsentation einer Studie über die Zukunft der deutschen Industrie eingeleitet. Erstellt hat sie im Auftrag des BDI die Strategieberatung Boston Consulting Group (BCG) und das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW). Jüngste Turbulenzen bei deutschen Industrie-Ikonen wie Volkswagen oder ThyssenKrupp haben ihr zusätzliche Aktualität verschafft.
Säulen des Erfolgs wanken
Besonders betroffen sind laut der Studie die Grundstoff- und die Automobilindustrie. Um auch künftig international wettbewerbsfähig zu sein, seien zusätzliche private und öffentliche Investitionen von 1400 Milliarden Euro bis 2030 nötig.
Im Gegensatz zu vielen vorherigen Krisen sei die aktuelle Krise auch struktureller Natur, betont der Bericht. Mehrere Säulen des bisherigen Erfolgs der deutschen Industrie seien gleichzeitig ins Wanken geraten. Die Zeit günstiger fossiler Gasimporte sei mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wahrscheinlich auf absehbare Zeit vorbei. Die Demografie und ein schwächelndes Bildungssystem würden das traditionell starke Arbeits- und Fachkräfteangebot in den nächsten Jahren in einen Mangel umkehren.
Ein über Jahre erarbeiteter Vorsprung in Bereichen wie der Verbrennertechnologie verliere an Bedeutung, während das deutsche Exportmodell durch wachsende geopolitische Spannungen und weltweiten Protektionismus unter Druck gerate. Hinzu kämen eigene Standortschwächen wie überbordende Bürokratie, marode Infrastruktur und Rückstände bei der Digitalisierung.
Tatsächlich ist die deutsche Industrieproduktion laut Daten des Statistischen Bundesamts schon seit ungefähr Ende 2018 tendenziell rückläufig. Mit Beginn des Ukraine-Kriegs ist die Produktion der energieintensiven Industrien zusätzlich eingebrochen, mit einer leichten Erholung in jüngster Zeit. Das ist umso bitterer, als Deutschland deutlich industrielastiger ist als die USA, Frankreich oder Grossbritannien.
Laut der Studie haben die gestiegenen Energiekosten traditionelle Kostennachteile deutscher Unternehmen bei Lohnkosten und Steuern in einem Ausmass verschärft, das bisherige Standortstärken wie hohe Produktivität, Innovationskraft und stabile Rahmenbedingungen nicht mehr kompensieren können. Hinzu kommen die Herausforderungen durch die per 2045 angestrebte Klimaneutralität.
Verflechtung als Nachteil
Das Argument, dass die Abwanderung einzelner energieintensiver Produktionen noch keine Katastrophe sei, parieren die Studienautoren und der BDI mit einem Verweis auf die enge Verflechtung der deutschen Industrie. Diese galt lange als Stärke, doch in der Krise werden damit Probleme einzelner Sektoren zu einem Risiko in der Breite. So löse die Grundstoffindustrie indirekt mehr als 80 Milliarden zusätzlicher Wertschöpfung durch den Einkauf von Vorleistungen aus, heisst es.
Das Risiko einer Deindustrialisierung durch die stille Abwanderung und Aufgabe gerade vieler Mittelständler nehme kontinuierlich zu, fasste Russwurm zusammen. Allerdings sei dieses Szenario nicht unausweichlich. Um es abzuwenden, müsse die Politik ihre industriepolitische Agenda neu ausrichten, betont der BDI. Dabei müsse sie mit dem Dreiklang ökologischer Fortschritt, ökonomische Wettbewerbsfähigkeit und technologische Offenheit Ernst machen.
Fünfzehn Hausaufgaben
Die Studie identifiziert 15 Handlungsfelder, um die Wettbewerbsfähigkeit wieder herzustellen, die industrielle Basis zu sichern und das Wachstum zu beschleunigen. An erster Stelle nennt sie eine wettbewerbsfähige Energieversorgung. Die Ausbaukosten für das Energiesystem müssten besser verteilt und der Zubau von gesicherter Leistung müsse effizient angereizt werden. Industrielle Anwender müssten wo nötig gezielt und «planungssicher» entlastet werden.
Als zweiten Punkt fordert das Papier «ein enormes Infrastrukturprogramm» mit erheblichen Investitionen in Strom-, Wasserstoff- und CO2-Netze, die Ladeinfrastruktur und die Schiene. Im weiteren enthält die Liste viele altbekannte Punkte wie Entbürokratisierung, nationale Bildungsoffensive und qualifizierte Zuwanderung, Investitionen in Forschung und Entwicklung oder Stärkung des globalen Freihandels. Mehrfach taucht der Ruf nach Subventionen auf. So benötigen laut der Studie energieintensive Industrien wie Stahl, Chemie und Baustoffe «gezielte finanzielle Unterstützung» für den klimagerechten Umbau.
Noch ein Sondervermögen
Um all das zu realisieren, braucht es bis 2030 zusätzliche Investitionen im Umfang von rund 1400 Milliarden Euro, rechnen die Autoren zusammen. Rund ein Drittel davon oder 460 Milliarden Euro müsste der öffentliche Sektor stemmen. Das entspreche auf jährlicher Basis 1,6 Prozent der Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandprodukt) und sei damit vergleichbar mit dem Marshall-Plan nach dem zweiten Weltkrieg (1,3 Prozent) und den direkten Hilfen für den Aufbau Ost in Deutschland (1,0 Prozent). Zur Finanzierung sollten alle Optionen in Form von Einsparungen, Priorisierungen und Finanzierungsinstrumenten ausgeschöpft werden.
Darüber hinaus sei auch die Aufnahme neuer Schulden erforderlich, «zum Beispiel in Form neuer Sondervermögen». Das Konstrukt der Sondervermögen (korrekter wäre der Name «Sonderschulen»), wie es derzeit für die Bundeswehr verwendet wird, ermöglicht die Aufnahme zusätzlicher, zweckgebundener Schulden, die nicht auf die Schuldenbremse angerechnet werden.
Mit all dem erinnert das Papier an die am Montag veröffentlichten Empfehlungen des ehemaligen EZB-Chefs Mario Draghi für die EU. Einzelne Punkte sind zudem bereits in der «Wachstumsinitiative» und weiteren Plänen der Ampel-Regierung enthalten. Doch laut Russwurm fehlt es der Regierung an Geschwindigkeit und Konsequenz bei der Umsetzung. Man habe Stückwerk, aber kein konsistentes Bild. Deshalb herrsche Unsicherheit, die zu Investitionszurückhaltung führe. Stattdessen brauche man jetzt einen grossen Wurf.
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