Die Staatsanwaltschaft sagt, die Eltern hätten ihre schwerstbehinderte Tochter ermordet. Am Dienstag mussten sie sich harten Fragen stellen: War ihr Kind trotz schwerer Beeinträchtigung glücklich? Hätte sie sich selbst für den Tod entschieden? Die Staatsanwältin wusste darauf eine klare Antwort.
Für den Blick von nichtbehinderten Menschen auf jene mit einer Behinderung gibt es einen Begriff: Ableismus. Er steht auch dafür, dass die Massstäbe des «Normalen» und «Gesunden» angewendet werden, um über andere Leben, ein solches im Rollstuhl zum Beispiel oder solche ohne Augenlicht, zu urteilen.
Das Wort wurde zwar nicht verwendet an diesem zweiten Prozesstag am Bezirksgericht in Bremgarten. Und dennoch schwang es an diesem Tag in vielen Fragen mit: Wie erkennt man das seelische Leid eines Menschen, der keine Mittel hat, es auszudrücken? Wie lebenswert war das Leben dieses schwerstbehinderten Kindes? Wie empfand es selbst sein Leiden und Leben? Hat es sich gefreut, war es glücklich? Um diese Fragen ging es im Kern.
Die dreijährige Sophie* konnte nicht richtig schlucken, nicht aufrecht sitzen, nicht sprechen oder gehen. Sie litt unter starken Schmerzen und Krampfzuständen. Sie hatte eine schwere Schlafstörung, weil sie nachts, sobald sie eine Weile lag, höllische Schmerzen und Krämpfe bekam. Ihr Zustand habe sich verschlechtert, trotz allen Bemühungen und Therapien, sagten die Eltern am ersten Prozesstag am Montag aus. Auch ihr Lachen sei immer seltener geworden, nichts habe sie mehr ablenken können von ihrer Qual. Sophie wäre nie gesund geworden, und vielleicht hätte sie das Erwachsenenalter nie erreicht.
«Es geht um Liebe und Ohnmacht»
Die Eltern dieses Mädchens stehen vor Gericht, weil sie im Mai 2020 ihr Kind getötet hatten – um es von seinem Leiden zu erlösen, wie sie und ihre Verteidiger im Verlauf der beiden Prozesstage immer wieder beteuerten.
Für den Verteidiger der Mutter geht es um «Liebe und Ohnmacht». «Und zwar um die Lieber zweier Eltern für ihr Kind», wie er in seinem Plädoyer am Dienstag sagte. Er machte klar, dass die Eltern zu ihrer Tat stehen und auch nachvollziehen können, dass sie dafür bestraft werden müssen. Aber nicht für Mord, wie es die Staatsanwaltschaft verlange. Denn, wie der Anwalt sagte: «Bei Mitleid und Liebe ist Mord ausgeschlossen.» Deshalb plädieren er und der Verteidiger von Sophies Vater auf Totschlag. Das heisst, dass die Angeklagten, anders als bei Mord, nicht skrupellos gehandelt hätten, sondern im Affekt – verursacht durch starke seelische Belastung.
Doch was hätte Sophie gewollt?
Auf diese Frage ging die Staatsanwältin gleich zu Beginn ihres Plädoyers ein, als sie darauf hinwies, dass es in diesem Strafverfahren keine – wie sonst üblich – Privatklägerschaft gebe: «Niemand kann beurteilen, welche Bedürfnisse das Opfer hatte, welches Leben es sich gewünscht hat.» Dann führte sie aus, dass es entgegen der Beteuerung der Eltern Hoffnung gegeben habe auf eine Verbesserung des Gesundheitszustandes. Die Physiotherapeutin habe es so gesagt: «Sie hat viel gelacht, war ein glückliches Kind.» Ja, sie habe viel geweint. Aber sie habe auch oft gestrahlt.
Die Staatsanwältin zeigte dem Gericht Bilder von Sophie. Da ist sie zu Besuch bei einem Esel, die Mutter trägt sie auf dem Arm, und das Mädchen strahlt in die Kamera. Dann noch ein Bild: Sophie im Kindersitz. Lachend.
Von langer Hand geplant?
Die Staatsanwältin lässt die Fotos eine Sekunde wirken, bevor sie zum Schlag ausholt. «Die beiden Angeklagten führten nicht das harmonische Familienleben, das sie hier darstellen», sagt sie. Die Gespräche der beiden wurden nach Sophies Tod abgehört. «Der Umgangston war erschreckend – für alle Beteiligten an diesem Verfahren.» Sie blendet transkribierte Aussagen des Paares ein. Die Sprache ist verroht, es fallen derbe Ausdrücke von beiden Seiten und immer wieder gegenseitige Vorwürfe über den Umgang mit Sophie, auch über die Umstände von deren Tod.
«Die Tat ist von langer Hand geplant worden», sagt die Staatsanwältin und verweist als Beleg auf Whatsapp-Sprachnachrichten, die das Paar verschickt hat, als die Tochter noch am Leben war. Das steht im starken Kontrast zu den Aussagen der Eltern, die in Befragungen aussagten, dass es nie einen konkreten Plan gegeben habe oder gar ein bestimmtes Datum für die Ausführung. Die Anklage wirft ihnen vor, Hilfsangebote und Unterstützung von Institutionen gezielt ausgeschlagen zu haben. So etwa hätten sie die Operation für die Einsetzung einer Magensonde, welche die Mangelernährung ihrer Tochter gelindert hätte, kurzfristig abgesagt.
Kein kaputtes Spielzeug
Die Eltern führten an, dass sie nach Absprache mit den Ärzten zu der Einsicht gekommen seien, dass die Magensonde das Problem nicht lösen würde, da der Schluckreflex auf diese Weise nicht mehr trainiert würde. Sophie habe sich selbst an ihrer eigenen Spucke so stark verschluckt, dass sie panische Angst bekam. Eine Heimeinweisung zur Entlastung hätten sie geprüft, aber wieder verworfen, weil sie sich nicht von der Tochter hatten trennen wollen. «Wir wollten sie nicht einfach abgeben wie ein kaputtes Spielzeug», sagte der Vater dazu.
Die Staatsanwältin hingegen sagt, das Elternpaar habe von Anfang an nur einen Ausweg in Betracht gezogen: sein Kind zu töten. «Sie haben sich nicht mit dem Leben von schwerstbehinderten Menschen auseinandergesetzt.» Sie hätten die Tochter nicht von ihrem Leiden erlösen wollen, vielmehr sei es darum gegangen, dass «sie selber nicht mehr damit konfrontiert werden». Dieser Beweggrund sei eine «besonders verwerfliche Auslöschung des Menschenlebens».
Die Heimtücke der Täter zeichne sich darin aus, dass sie mit dem präparierten Schoppen, dem sie Erdbeerbrei zugaben, die Vertrauensbeziehung zu ihrer Tochter ausgenutzt hätten. Sie hätten sich auch nicht die Mühe gemacht, sich ausreichend zu informieren darüber, was MDMA oder Zolpidem im Körper eines Kleinkindes bewirke: «Sie vertraute ihrer Mutter voll und ganz. Sie war ihren Eltern ausgeliefert.»
Die Verteidigung der drei Angeklagten – mitangeklagt war die Grossmutter des Mädchens wegen Beihilfe zum Mord – machte der Staatsanwaltschaft schwere Vorwürfe. Diese sei von Anfang an voreingenommen gewesen, sagte der Verteidiger der Mutter. «Entlastende Umstände müssten mit gleicher Sorgfalt geprüft werden», doch dies sei nur oberflächlich geschehen. Aus den Aussagen der behandelnden Ärztinnen und Ärzte könne auch nicht hergeleitet werden, ob sich der Gesundheitszustand von Sophie wesentlich verbessert hätte. «Es gab keinen Eingriff, der entlastende Wirkung gezeigt hätte.» Was für ihn hingegen klar sei: Seine Mandantin sei weder «kaltblütige Mörderin noch eine überforderte Mutter», sie habe das nicht für sich getan, sondern für ihr Kind. Sie habe bei der ersten Befragung gesagt, dass sie sich sicher sei, dass ihr Kind dieses Leben nicht habe leben wollen.
Und dann liest der Anwalt ein Zitat der Mutter vor: «Ich bin von Trauer bestraft, von der Trauer, ihr kein lebenswertes Leben geschenkt zu haben und sie jeden Tag vermissen zu müssen.»
Die Staatsanwaltschaft fordert achtzehn Jahre Freiheitsentzug und einen Landesverweis von fünfzehn Jahren für die Eltern, die deutsche Staatsbürger sind. Für die Grossmutter verlangt die Staatsanwaltschaft eine Gefängnisstrafe von fünf Jahren und ebenfalls fünfzehn Jahre Landesverweis.
Das Urteil wird für Freitag, den 13. September, erwartet.
* Name geändert.