Ob Sprint oder Marathon, Catherine Debrunner beherrscht alles in Perfektion. An den Paralympics gewann sie fünfmal Gold. Ihr Hightech-Rollstuhl kostet so viel wie ein Auto.
Catherine Debrunner lässt sich fast nur noch in Superlativen fassen. Sechs Medaillen gewann sie, fünf davon in Gold – und sie deckt damit das ganze Spektrum ihrer Sportart ab: 100 m, 400 m, 800 m, 1500 m, 5000 m, Marathon. Sie übertrifft alles Bisherige, nie zuvor war eine Rollstuhlfahrerin derart erfolgreich.
«Der Erfolg bringt auch viel Verantwortung mit sich», sagt sie. Denn Debrunner ist Spitzensportlerin mit Leib und Seele, aber es geht ihr auch darum, dass ihre Leistungen richtig eingeordnet werden: als Leistungen eben. Oft werde es mitleidig, wenn über den Behindertensport geredet werde. «Und damit habe ich Mühe.» Klar habe jeder, der an den Paralympics starte, seine Geschichte. Aber am Ende seien sie Sportlerinnen und Sportler, die an ihre Grenzen gingen.
Bei Debrunner scheint es verhältnismässig einfach, auf den Sport zu fokussieren, denn sie wurde mit ihrer Beeinträchtigung geboren und wuchs im Rollstuhl auf. Es gab keinen Bruch, kein Drama. Doch das mag sie nicht so stehenlassen. «Ich hätte als junge Frau auch gerne einen normalen Körper gehabt. Ich wüsste auch gerne, wie es ist, wenn man gehen kann.» Und was die Eltern nach ihrer Geburt durchgemacht hätten, könne sie sich nur vorstellen.
Sitzposition und Technik in Tokio perfektioniert
Sie will deshalb kein Mitleid, sie will es bloss festgehalten haben. Debrunner konnte ihre Beine nie benutzen, aber sie war immer ein Bewegungsmensch. Die Familie nahm sie mit auf Wanderungen, sie lernte schwimmen und Ski fahren, und mit acht Jahren sass sie erstmals in einem Rennrollstuhl. Danach ging sie mit dem Vater auf Touren, er mit dem Velo, sie mit dem Rollstuhl. Und sie begann mit dem spezifischen Training.
Dass sie ideale Voraussetzungen für diesen Sport mitbrachte, begriff sie erst mit der Zeit. Debrunner hat lange Arme und breite Schultern, ein Vorteil beim Tempomachen am Schwungrad. An diesem wird im Spitzensport übrigens nicht gedreht, wie man als Laie denkt. Die Athletinnen führen mit der Handfläche eine schlagende Bewegung aus. Ein Gummiteil auf den Handschuhen sorgt für guten Grip.
Der Rollstuhlsport hat sich enorm entwickelt, das Material wurde immer besser, und auch an Sitzposition und Technik wurde herumgetüftelt. Debrunner fährt eine Massanfertigung von Honda, sie reiste mit einem Ingenieur nach Tokio, wo sie vom Kopf bis zu den Zehen vermessen wurde. In dem Hightech-Gefährt sitzt die Sportlerin nun viel stabiler.
Die 29-Jährige gehört zum Rennteam des japanischen Konzerns und wird von diesem ausgerüstet. Der Kaufpreis eines Rennrollstuhls ist vergleichbar mit dem eines Autos. Selbst in der Schweiz könnten sich das nicht alle leisten, sagt Debrunner, in vielen anderen Ländern schon gar nicht: «Wir Topathleten haben sicher einen grossen Materialvorteil.»
Dass sich die Sportart so stark entwickeln konnte, hängt wesentlich mit den grossen Stadtmarathons zusammen. Diese haben schon in den 1990er Jahren eine Rollstuhl-Kategorie eingeführt, seit 2016 gibt es wie für die Läuferinnen und Läufer eine Gesamtwertung der World Marathon Majors, zu der die sechs wichtigsten Marathons der Welt und die globalen Titelkämpfe zählen. Inzwischen ist das Preisgeld für den Gesamtsieg in allen Kategorien gleich hoch: 50 000 Dollar.
Ähnlich wie für die Läuferinnen liegt auch für die Rollstuhlfahrerinnen das Geld heute auf der Strasse. «Von dem, was wir auf der Bahn verdienen, könnten wir nicht leben», sagt Debrunner. An den grössten Marathons aber erhält sie inzwischen nicht nur Preis-, sondern auch Startgelder. London war die erste Veranstaltung der Majors-Serie, die 2024 für alle Kategorien gleiche Preisgelder ausschüttete: 55 000 Dollar für den Sieg.
Das sind Dimensionen, die den Besten ein Leben als Profi ermöglichen. Debrunner vollzog diesen Schritt Anfang 2022, sie gab ihre Stelle als Primarlehrerin auf und konzentrierte sich auf das Rollstuhlfahren. Ein gewisses Risiko sei sie dabei eingegangen. Denn als sie Profi wurde, hatte sie gerade eine paralympische Goldmedaille über 400 m vorzuweisen und hatte noch keinen Marathon bestritten.
Ermöglicht wurde der Schritt auch durch die Tatsache, dass sie die Spitzensportler-RS absolvieren konnte und deshalb auch finanzielle Unterstützung von der Armee bekommt. Sie war in der Rekrutenschule mit olympischen Sportlerinnen und Sportlern zusammen und sagt, sie sei sehr schnell aufgenommen worden. Das hing möglicherweise auch damit zusammen, dass sie sofort erklärte: «Wenn ich nichts sage, brauche ich keine Hilfe.»
Inklusion ist ein Thema, das Debrunner immer wieder anspricht. Dass andere Länder hier weiter sind als die Schweiz, hat sie auf ihren vielen Reisen erlebt. Zum Beispiel in den Niederlanden. Seit 2020 arbeitet sie mit dem Trainer Arno Mul zusammen, der damals Headcoach für Para-Athleten am Stützpunkt in Papendal war. Dort trainieren paralympische und olympische Athleten nebeneinander.
In der Schweiz gibt es hingegen ein Trainingszentrum für Paraplegiker in Nottwil und eines in Magglingen für die olympischen Sportler. Mul hat inzwischen den Job beim niederländischen Verband aufgegeben und arbeitet mit einer Profigruppe von neun Athletinnen und Athleten aus acht Nationen. Debrunner sagt, sie geniesse es, in jedem Training gefordert zu werden, teilweise auch von direkten Konkurrentinnen. «Wir sind nicht beste Freundinnen, aber wir haben es gut.»
Die Gruppe hat ihre Basis nicht mehr in Papendal, sondern in Arnheim. Dort hat der Trainer Mul eine Betonbahn gefunden, die im Winter von Eisschnellläufern genutzt wird. Die harte Unterlage sei ideal und lasse Trainings bei hohem Tempo zu, sagt Debrunner. Die für Leichtathleten gebaute Tartanbahn in Papendal sei für Rollstühle zu weich. Den Verbandsstützpunkt der Niederländer kann die Schweizerin aber immer noch für Massagen und Physiotherapie nutzen.
Nur ein Weltrekord fehlt ihr noch
All das zeigt, wie professionell der Rollstuhlsport heute ist. Immer mehr wird er als vollwertiger Sport wahrgenommen. Das zeigt sich an grossen Marathons, vor allem aber an den Paralympics. Die Spiele von Paris waren ein Sportfest, das Stade de France war während der Leichtathletikwettkämpfe jeweils schon am frühen Morgen gut gefüllt. «Sie haben es geschafft, uns gegenüber die gleiche Wertschätzung zu zeigen wie gegenüber den olympischen Athleten», sagt Debrunner. «Das ist echte Inklusion.»
Die herausragende Athletin der Spiele von Paris spürt das auch an der wachsenden medialen Aufmerksamkeit. Nie stand sie so sehr im Fokus wie in den vergangenen Wochen. Und das dürfte noch eine Weile so bleiben. In den World Marathon Majors fährt Debrunner gegen ihre Landsfrau Manuela Schär, die langjährige Dominatorin der Szene, um den Gesamtsieg.
Und dann hat sie noch eine kleine Rechnung offen: Debrunner hält in sämtlichen paralympischen Disziplinen ihrer Kategorie den Weltrekord. Mit einer Ausnahme: Ihre Bestzeit über 5000 m wurde wegen eines Problems mit der Zeitmessung nicht homologiert. Zum Wiederholungsrennen trat sie wegen ihres dichtgedrängten Programms nicht an. Die Amerikanerin Susannah Scaroni schnappte sich den Rekord.
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