Es scheint klar, dass Israel hinter der mysteriösen Attacke steckt. Die Frage bleibt, welches strategische Kalkül der jüdische Staat damit verfolgt – und wie die Schiitenmiliz auf diese Demütigung reagieren wird.
Am Tag nach dem offensichtlich koordinierten Angriff auf Kommunikationsgeräte des Hizbullah herrscht nach wie vor Fassungslosigkeit in Libanon. Tausende Pager waren am Dienstagnachmittag praktisch zeitgleich detoniert, wobei laut den libanesischen Behörden rund 3000 Menschen verletzt und mindestens zwölf getötet wurden. Bei der Mehrheit der Verletzten dürfte es sich um Mitglieder der islamistischen Schiitenmiliz handeln, die die Pager als vermeintlich sicheres Kommunikationsmittel genutzt hatten.
Nach ersten Erkenntnissen waren die Geräte vor ihrer Auslieferung vor einigen Monaten mit kleinen Mengen an Sprengstoff präpariert worden, der dann durch eine Nachricht gezündet wurde. Wie die «New York Times» unter Berufung auf westliche Beamte berichtet, hatten die Pager vor der Detonation sekundenlang gepiepst. Zahlreiche Personen wurden an den Händen und im Gesicht verletzt, weil sie ihre Pager aus der Hosentasche genommen hatten. Laut Medienberichten hat der iranische Botschafter in Libanon mindestens ein Auge verloren. Andere erlitten zum Teil schwere Verletzungen am Oberschenkel, im Genitalbereich oder am Torso. Offenbar wurden auch mehrere unbeteiligte Personen verletzt, unter ihnen Kinder.
Offiziell hat sich bisher niemand zu dem Angriff bekannt. Der Hizbullah beschuldigte jedoch umgehend Israel. Tatsächlich erscheint dies als die wahrscheinlichste Variante: Kaum ein anderer Akteur in der Region verfügt über die technischen Ressourcen, die geheimdienstlichen Kapazitäten und vor allem das Motiv, um eine derart komplexe Operation durchzuführen. Offensichtlich wurde die Attacke während Monaten geplant und vorbereitet – mit dem Ziel, die Miliz und ihre Kommunikation zu schwächen. Doch aus welchem Grund wurde sie ausgerechnet jetzt durchgeführt?
Israel scheint mit einer Offensive zuzuwarten
Laut einem Bericht des amerikanischen Nachrichtenportals Axios, das sich auf einen mit der Operation vertrauten ehemaligen israelischen Beamten beruft, bestand der ursprüngliche Plan darin, die Pager als Auftakt zu einer grossangelegten Offensive gegen die Miliz detonieren zu lassen. Doch offensichtlich hat Israel dem Pager-Angriff zumindest bisher keine Taten folgen lassen, abgesehen vom üblichen Beschuss über die libanesische Grenze hinweg. Dies lässt vermuten, dass ein anderes Kalkül hinter der Attacke steckt.
Laut Axios war in den vergangenen Tagen in Israel die Sorge gewachsen, dass der Hizbullah den geheimen Plan aufdecken und vereiteln könnte. Deshalb sei man zur Tat geschritten, um den strategischen Vorteil nicht vollständig aus der Hand zu geben. Diese Version wird gestützt von einem Bericht des Nachrichtenportals Al-Monitor. Laut dessen Quellen aus Sicherheitskreisen hatten in den vergangenen Tagen zwei Mitglieder der Miliz den Verdacht geäussert, dass etwas mit den Pagern nicht stimmen könnte. Einer der beiden kam laut dem Bericht daraufhin unter unklaren Umständen ums Leben. Weitere Details werden nicht genannt.
Auch wenn diese Berichte darauf schliessen lassen, dass Israel mit einer Offensive gegen den Hizbullah zumindest vorerst zuwartet, ist die Gefahr einer Eskalation nicht gebannt. Die Spannungen zwischen Israel und der Schiitenmiliz haben mit dem Vorfall vom Dienstag einen neuen Höhepunkt erreicht. Seit Monaten beschiessen sich die beiden Konfliktparteien praktisch täglich, seitdem der Hizbullah am 8. Oktober zur Unterstützung der Hamas im Gazastreifen einen limitierten Grenzkrieg gegen Israel lanciert hatte.
In den vergangenen Wochen intensivierte sich der Beschuss weiter. Ausserdem haben der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und sein Verteidigungsminister Gallant immer wieder die Notwendigkeit eines militärischen Vorgehens gegen den Hizbullah betont, um der unhaltbaren Situation an Israels Nordgrenze ein Ende zu setzen.
Warten auf Nasrallah
Die Schiitenmiliz hat bereits Vergeltung gegen Israel angekündigt. Mit einer Mischung aus Angst und Spannung warten die Libanesen nun darauf, wie der Hizbullah-Chef Hassan Nasrallah reagieren wird. Er hat verlauten lassen, er wolle am Donnerstag um 17 Uhr Ortszeit eine Rede halten. Es bleibt jedoch unklar, zu welcher Art eines Gegenschlags der Hizbullah überhaupt fähig und willens ist. Bisher war Nasrallah stets darauf bedacht, einen offenen Krieg zu vermeiden, der verheerende Folgen für die ganze Region haben könnte.
Fest steht: Die Pager-Attacke vom Dienstag ist eine schwere Demütigung für die Schiitentruppe, die sich stets mit ihren militärischen und geheimdienstlichen Fähigkeiten brüstet. Das offensichtliche Sicherheitsversagen stürzt die Miliz in eine Krise. Sie wird nun fieberhaft überprüfen müssen, ob weitere Kommunikationsmittel kompromittiert sind. Ebenso muss sie den Ausfall von Hunderten ihrer Kämpfer, unter ihnen wohl auch wichtige Kaderleute, verkraften und sich neu organisieren. Auch psychologisch dürfte der Angriff einen lähmenden Effekt auf die Gruppe haben – die Paranoia, dass Israel immer und überall zuschlagen kann, nimmt weiter zu.
Gleichzeitig ist unklar, wie sehr geschwächt der Hizbullah wirklich ist. Er verfügt wohl über mehrere zehntausend Kämpfer, laut Nasrallah sind es sogar über hunderttausend. Zudem sind die Pager nicht die einzigen Kommunikationsmittel. So wird sich die Miliz wohl in absehbarer Zeit von diesem Rückschlag erholen.
Die wichtigste Waffe des Hizbullah ist und bleibt sein Raketenarsenal. Dank tatkräftiger Unterstützung der Schutzmacht Iran ist er laut Schätzungen im Besitz von rund 150 000 Geschossen. Es ist davon auszugehen, dass Nasrallah bei einem allfälligen Gegenschlag auf dieses Mittel zurückgreifen wird – zu komplexeren Attacken scheint die Miliz derzeit nicht fähig, auch eine Bodenoperation dürfte nicht im Interesse des Hizbullah liegen. Nun beginnt im Nahen Osten erneut das Warten auf die nächste Drehung der Eskalationsspirale.