Weil der Mann von seinem Therapeuten kein Arbeitsfähigkeitszeugnis erhält, greift er zu rabiaten Mitteln.
Am 10. Oktober 2023 betrat ein 57-jähriger Patient ohne Termin die Praxis seines langjährigen Psychiaters in Zürich. Er führte eine Pistole mit sich. Das Magazin war eingesetzt, die Munition abgespitzt. Nachdem der Psychiater im Eingangsbereich seines Sprechzimmers einen anderen Patienten verabschiedet hatte, betrat der 57-Jährige das Sprechzimmer. Die Pistole soll er mit ausgestrecktem Arm am Griff Richtung Boden gehalten haben.
Der Patient sagte laut Staatsanwalt sinngemäss, «dass nun die Sache mit dem Zeugnis erledigt werde». Der Psychiater entschied sich «nach sehr kurzer Überlegungszeit und Abwägen von Alternativen», unverzüglich die Flucht zu ergreifen, wie aus dem schriftlichen Antrag des Staatsanwalts hervorgeht. Verletzt wurde niemand. Der Patient wurde noch am gleichen Tag verhaftet. Seither sitzt er in Untersuchungs- und Sicherheitshaft, bis zum Gerichtsprozess insgesamt 323 Tage.
Es wurde ein psychiatrisches Gutachten angefertigt. Der Gutachter diagnostizierte eine schizophrene Störung. Wie aus der Befragung im Saal des Bezirksgerichts Zürich hervorgeht, hatte der Beschuldigte in der Haft keine psychiatrische Betreuung. Medikamente nehme er auch nicht, erklärt er, ausser eine Gicht-Prophylaxe. Laut dem Plädoyer des Staatsanwalts lehnt der Beschuldigte jegliche Hilfe ab.
Seit über 20 Jahren in Behandlung
Der 57-jährige Mann war seit 2003 beim Psychiater in Behandlung. Er war dem Arzt von seinem damaligen Arbeitgeber zugewiesen worden. Der Suizid seiner Lebenspartnerin hatte ihn aus der Bahn geworfen und in eine Depression getrieben. 2006 erhielt der kaufmännische Angestellte infolge Arbeitsunfähigkeit eine volle IV-Rente. Laut seiner Verteidigerin ist diese Rente für ihn aber ungerechtfertigt und demütigend gewesen, bis zum heutigen Tag.
Vor seinem letzten Besuch mit der Pistole hatte der Patient dem Arzt ein Ultimatum gestellt: Er wollte sich von der IV-Rente lösen und wieder im Arbeitsmarkt Fuss fassen. Deshalb hatte er vom Psychiater die Ausstellung eines Arbeitsfähigkeitszeugnisses verlangt, mehrfach und immer wieder. Der Psychiater kam dem Wunsch «aus fachlicher Überzeugung» aber nicht nach.
Im Gerichtssaal ist der Beschuldigte weitgehend geständig, mit einer entscheidenden Ausnahme. Er habe die Pistole nur in seinem Rucksack mitgeführt und nicht in der Hand gehalten, sagt er. Die entsprechende Darstellung des Psychiaters sei falsch. Er habe zu Hause Handfertigkeiten mit der Waffe geübt, diese dann in den Rucksack gelegt und vergessen, dass sie noch darin gelegen habe.
Eine Bewilligung zum Mitführen der Pistole hatte der Mann nicht. Auf die Frage, wieso der Psychiater falsch aussagen sollte, meint der Beschuldigte, es könnte sein, dass die IV-Rente «auf wackligen Füssen» stehe und der Psychiater möglicherweise in seiner Fachkompetenz infrage gestellt sei.
Weshalb der Psychiater kein Arbeitsfähigkeitszeugnis ausstellen wollte, habe er ihm nicht gesagt. Er könne sich auch keinen Grund vorstellen, so beantwortet der Beschuldigte die entsprechenden Fragen. Eine psychische Erkrankung stellt der 57-Jährige in Abrede. Es gehe ihm gut. Er erklärt sich jedoch mit einer ambulanten Therapie einverstanden. Eine stationäre Behandlung sei aber nicht nötig.
In Wahn gehandelt und nicht schuldfähig
Der Staatsanwalt stellt den Antrag auf eine Massnahme für eine schuldunfähige Person. Die Straftatbestände der versuchten Nötigung und des Vergehens gegen das Waffengesetz seien zwar erfüllt, der Beschuldigte habe aber in einem Wahn gehandelt und könne dafür nicht mit Sanktionen belegt werde. Es sei eine ambulante Massnahme anzuordnen.
Bis diese aufgegleist werden könne, sei der Mann aber in Sicherheitshaft zu behalten. Er leide offensichtlich unter schweren psychischen Problemen, und es bestehe die Gefahr von gleichartigen Straftaten.
Allenfalls sei eine stationäre Einleitung der Massnahme angebracht. Dem Beschuldigten sei auch ein Annäherungs-, Kontakt- und Rayonverbot aufzuerlegen und der Besitz von Stich- und Schusswaffen zu verbieten. Eine stationäre Massnahme sei nicht verhältnismässig. Der Beschuldigte könne mit einer geeigneten psychopharmazeutischen Medikation therapiert werden.
Die Verteidigerin sieht nur das Vergehen gegen das Waffengesetz als erfüllt an. Eine versuchte Nötigung habe nicht stattgefunden. Auch sie plädiert für eine ambulante Massnahme. Eine Weiterführung der Sicherheitshaft sei hingegen nicht nötig.
Das Bezirksgericht Zürich stellt in seinem Urteil dann fest, dass beide Straftatbestände erfüllt seien. Die Aussagen des Psychiaters seien glaubwürdiger als jene des Beschuldigten. Es wird eine ambulante Massnahme ohne stationäre Einleitung angeordnet. Die Sicherheitshaft wird verlängert, bis die Therapie angetreten werden kann.
Die Richter telefonierten während der Beratung mit den zuständigen Behörden. Diese hätten die Auskunft erteilt, dass ein Beginn der Therapie innert zwei bis vier Wochen möglich sei, teilt die vorsitzende Richterin bei der Urteilseröffnung mit.
Dem Beschuldigten wird verboten, Stich- und Schusswaffen zu besitzen und mitzuführen. Er erhält ein Kontakt- und Rayonverbot und muss in Zukunft einen Mindestdistanz von 100 Metern zur Praxis des Psychiaters und zum Psychiater einhalten. Die Pistole wird samt Munition definitiv eingezogen. Sämtliche Kosten gehen auf den Staat.
Urteil DG240073 vom 27. 8. 2024, noch nicht rechtskräftig.