Bei den Zähnen hört die obligatorische Krankenversicherung auf. Wer Schmerzen hat, muss zahlen. Deswegen reisen viele Schweizer Patienten über den Rhein – wo sie bereits erwartet werden.
Platz, Andreas Dorow braucht einfach viel mehr Platz. Den wenigen, den er hat, zeigt er aber gerne, Dorow läuft über einen langen Flur, öffnet eine Tür nach der anderen und präsentiert: helle Wände, dunkles Parkett, neuste Zahnarztstühle. Wer Angst vor dem Zahnarzt hat, empfindet diese Räume als Kammern des Schreckens. Dorow, der Zahnarzt, empfindet sie als: «Oasen des Wohlfühlens». Luxuriöses Ambiente soll Patienten den Schrecken nehmen, wenn Dorow und seine Kolleginnen und Kollegen entzündete Zahnwurzeln behandeln, Weisheitszähne ziehen oder Implantate im Kieferknochen verankern. Gerade wenn es um Behandlungen in Schweizer Mündern geht.
«Davon haben wir sehr, sehr viele», sagt Dorow. Etwa 75 Prozent seiner Patienten kämen von jenseits des Rheins, der 500 Meter entfernt von seiner Praxis die Europäische Union teilt und für eine prosperierende Wirtschaft sorgt. «Die Region hier wäre nicht die gleiche Region ohne Schweizer», sagt Dorow. «Sie würde nicht so boomen.»
Wer in der Schweiz Zahnarztkosten sparen will, muss putzen
Andreas Dorow, 52 Jahre alt, ist ein deutscher Zahnarzt, Arzt und Unternehmer. Er trägt zwei Doktortitel vor seinem Vornamen und hat mit seinem Nachnamen die Klinik getauft, durch die er gerade führt: Die Dorow Clinic im baden-württembergischen Waldshut-Tiengen. Zum C und zum Ort später mehr.
Zunächst hält Dorow an und zeigt auf seinen edlen Boden. «In drei Jahren geht hoffentlich der Mieter unter uns raus», sagt er. «Und es gibt Pläne, den Parkplatz zu überbauen, dann könnten wir weiteren Platz gewinnen.»
Diesen Boom hat er früh erkannt. Die Schweizer reisen mit ihren Franken nicht nur zum Tanken, Einkaufen oder Döner-Essen in die günstigere Euro-Zone, sondern auch, um sich ihre Zähne behandeln zu lassen. Denn für Schweizer Krankenkassen seien zahnärztliche Behandlungen grundsätzlich keine Pflichtleistungen, heisst es beim Bundesamt für Gesundheit. Die obligatorische Krankenversicherung vergütet Zahnbehandlungen nur unter bestimmten Bedingungen.
Bedingungen, die mit schweren, nicht vermeidbaren Erkrankungen des Kausystems zu tun haben oder mit einer schweren Allgemeinerkrankung. Warum, das erklärt ein Sprecher der Schweizerischen Zahnärzte-Gesellschaft (SSO): «Die meisten Zahnerkrankungen sind durch eine gute Prophylaxe und regelmässige Dentalhygiene vermeidbar.» In der Schweiz werde die Eigenverantwortung in der Zahnmedizin höher gewichtet, so solle ein gesundheitsbewusstes Verhalten aktiv gefördert werden. Das heisst: Wer in der Schweiz Zahnarztkosten sparen will, muss seine Zähne entsprechend putzen. Oder eben nach Deutschland reisen.
«Einige Schweizer kommen sogar aus dem Tessin», sagt Dr. Dr. Andreas Dorow, er habe Patienten von Chiasso bis zum Zürichsee. Manche kämen nur für eine Zahnreinigung. Viele aber auch für sehr viel mehr.
Neben klassischer Zahnmedizin bietet die Dorow Clinic auch Schönheitschirurgie und Kiefer- und Gesichtschirurgie an. Zum Beispiel: Brustoperationen, Körperformungen und -straffungen, Faceliftings oder komplette Zahnsanierungen – hier kann man sich im Ganzen runderneuern lassen.
In diesem Konstrukt sei die Dorow Clinic, trotz ihrem angeblichen Platzmangel, der grösste Anbieter im ganzen deutschsprachigen Raum, sagt Dorow. Und das liegt auch daran, dass er seine Klinik mit C schreibt.
Ein Grenzwall aus Kliniken
Die englische Schreibweise von Klinik klingt internationaler, das C betont, womit die Clinic-Website wirbt: Hollywood-Flair. In einem Werbefilm zum Beispiel erzählt der amerikanische Schauspieler und Produzent Vincent de Paul von seiner Behandlung bei Dorow, in einem Schnitt zoomt die Kamera direkt vom Hollywood-Schriftzug auf das Logo der Firma.
Nur dass diese nicht im glitzernd-glamourösen Los Angeles liegt, sondern weit entfernt von jeder Metropole oder jedem Wirtschaftsstandort, im 20 000-Einwohner-Ort Waldshut. Diesen kann der Unternehmer-Zahnarzt Dorow zwar nicht in «Woodhat» umtaufen, aber er kann hier mit seiner Zahn- und Schönheitschirurgie jeden Patienten zum Hollywood-Star umbauen.
2006 kam Dorow aus Ulm nach Waldshut und eröffnete eine kleine Zahnarztpraxis. Dorows gute Arbeit sprach sich auch durch sein gutes Marketing herum. Die lokale Zeitung berichtet, wenn «Stars und Sternchen» vorbeikommen. «Daniela Katzenberger war Anfang Juni in der Dorow Clinic. Zuerst war sie wegen ihrer unsichtbaren Zahnschienen in Behandlung, danach spritzte Andreas Dorow persönlich Botox in die Achseln», schrieb zum Beispiel der «Südkurier». Dorow lässt dann auch Fernsehteams bei sich drehen. Und: Es gibt eine eigene Serie. «Die Schwarzwald-Docs» erzählt in acht Folgen von seinem Klinikalltag. In den sozialen Netzwerken zeigt die Clinic Vorher-nachher-Vergleiche von Patienten und zählt Zehntausende Follower. Zum 1. August gratulierte ein Instagram-Post den Schweizern zum Nationalfeiertag: «Wir möchten unseren geschätzten Schweizer Patienten an diesem besonderen Tag erneut danken.» Und wer Zahnärzte an der Schweizer Grenze googelt, findet Dorow sofort.
Er hat inzwischen einen Grenzwall aus Kliniken aufgebaut. Die Dorow-Kliniken bewachen die Grenze an inzwischen sieben Standorten. In Jestetten, nahe dem Rheinfall, kommen laut eigenen Angaben 95 Prozent von Dorows Patienten aus der Schweiz, in Gottmadingen, nahe Schaffhausen, sind es 60 Prozent. Hinzu kommen eine weitere grosse Clinic in Lörrach und Zahnarztpraxen in Dogern, Bad Säckingen und zwei weitere in Freiburg. Dorows Einrichtungen beschäftigen heute etwa 350 Angestellte. Sie empfangen mit ihren speziellen Konstrukten aus Zahn- und Schönheitskliniken aber auch Patienten aus ganz Deutschland. «Einige kommen auch aus Hamburg oder Berlin», sagt Dorow.
Früher konnte ein deutscher Zahnarzt einfach Porsche fahren
Für jene aus der Schweiz gibt es längst Reiseunternehmen, die Behandlungsausflüge nach Deutschland organisieren. Der Schweizer Arzt Stéphane von Büren zum Beispiel vermittelte mit seinem Unternehmen Novacorpus International Healthcare laut eigenen Angaben schon Tausende von Operationen im europäischen Ausland. Dort seien Zahnbehandlungen bis zu 80 Prozent günstiger, heisst es bei der Vermittlungsfirma: «Perfekte Zähne zu einem fairen Preis und gleich hoher Qualität wie in der Schweiz.»
Faktoren wie Gehalts- und Praxiskosten machen Behandlungen in Deutschland wesentlich günstiger. Das bedeutet konkret: Eine zahnerhaltende Behandlung kann in der Schweiz pro Zahn bis zu 2000 Franken kosten. Die Preise ergeben sich aus den sonstigen hohen Schweizer Kosten: Mieten für Praxen, Lohnniveau der Zahnärzte, Dentalassistentinnen, Dentalhygienikerinnen und die höheren Materialkosten. Wenige hundert Meter über dem Rhein kann die gleiche Behandlung 150 Euro pro Zahn kosten.
Andreas Dorow sagt: «Früher hat man in Deutschland viel zu viel für seine Zähne bezahlt.» In den 1980ern habe ein Zahnarzt kaum etwas leisten müssen, um Porsche zu fahren. «Heute ist das anstrengend verdientes Geld.» Das liegt an der Gebührenordnung für Zahnärzte (GOZ). Diese bestimmt, was ein Zahnarzt in Deutschland für Privat- und Kassenpatienten abrechnen darf. Die GOZ wurde seit 35 Jahren nicht verändert. Während die Inflation stieg, blieben die Behandlungskosten konstant.
Wie viele Schweizerinnen und Schweizer das für ihre Zähne ausnutzen, lässt sich nicht sagen. Die Schweizerische Zahnärzte-Gesellschaft (SSO) führte letztmals 2017 eine Patientenbefragung durch. Diese ergab, dass damals rund 22 Prozent der Befragten einmal einen Zahnarzt im Ausland aufgesucht haben. Deutschland sei das am häufigsten genannte Ziel für Behandlungen im Ausland gewesen. Die SSO hat keine Zahlen darüber, wie viel Geld den Schweizer Zahnärzten dadurch entgeht. Sie verfolgt auch keine Pläne, den Zahnarzt-Tourismus einzudämmen. Man mache aber regelmässig auf die Risiken aufmerksam, die mit Zahnbehandlungen im Ausland verbunden seien – und die Umfrage von 2017 habe auch gezeigt, «dass jeder Dritte, der schon einmal auf einem Zahnarztstuhl im Ausland sass, dies künftig nicht mehr tun will».
Andreas Dorow sieht das anders. «Wer einmal bei uns war, kommt wieder», sagt er. Dorow spaziert nun durch ein oberes Stockwerk, präsentiert 3-D-Drucker und Fräsmaschinen für Kronen und Implantate. Im Gemeinschaftspausenraum sitzt die neue Operations-Managerin der Clinic auf einer edlen Couch.
Annika Franziska Stoll arbeitete zuvor als stellvertretende Geschäftsführerin in einem Fünfsternehotel. Stoll sagt: «In beiden Branchen geht es darum, dem Kunden ein Premium-Erlebnis zu ermöglichen.»
Andreas Dorow nickt. Vielleicht plane ein Schweizer Patient seinen ersten Besuch aus finanziellen Gründen, sagt er. Doch seien sie einmal dort, entwickelten die Patienten Vertrauen in die Zahnärzte und ihre hohe Qualität. «Die Patienten freuen sich, zu uns zu kommen», sagt Dorow. Und erzählten ihren Schweizer Bekannten davon, die dann auch kämen. Mundpropaganda funktioniert auch in Zeiten von digitalem und Hollywood-Marketing.
Und dann ist da noch das Finanzielle. Das sei in Deutschland immer so eine Sache. «Der Deutsche ist eher weniger bereit, für eine Behandlung viel Geld auszugeben», sagt Dorow. Der Schweizer zahle auch gern einmal viel für wirklich gute Arbeit.