Herbert Kickl pocht auf den Auftrag zur Regierungsbildung, doch es zeichnet sich keine Mehrheit für seine FPÖ ab. Denkbar ist derzeit auch ein Comeback der grossen Koalition, die in Österreich so geschätzt wie verhasst ist.
Am Tag nach ihrem Erdrutschsieg macht die FPÖ blau. Traditionell begeht die Partei nach einer Wahl den nach ihrer Farbe benannten «blauen Montag». Ihre Vertreter stehen dann für keine Stellungnahmen oder Gespräche zur Verfügung. Herbert Kickl hatte ohnehin bereits am Sonntagabend an der Wahlparty erklärt, was er nun als Chef der stimmenstärksten Kraft erwartet. Man habe mit dem ersten Platz Geschichte geschrieben, sagte er vor den jubelnden Anhängern in einem Wiener Biergarten. Nun gehe es darum, diese 29 Prozent «politisch zu realisieren».
Was er damit meint, erklärte er zuvor bereits in der Diskussion aller Spitzenkandidaten im ORF. Die Wähler hätten ein Machtwort gesprochen, und es sei klarer denn je, dass es nicht weitergehen könne wie bisher. Er sei für die Suche nach einer Mehrheit zu Gesprächen mit allen anderen Parteien bereit. «Unsere Hand ist ausgestreckt», sagte Kickl. Nun sei der Bundespräsident am Zug. Ihm kommt gemäss Verfassung die Rolle zu, den Kanzler zu ernennen.
Der Präsident ist völlig frei, wen er zum Kanzler ernennt
Usus ist, dass der Chef der stimmenstärksten Kraft mit der Regierungsbildung beauftragt wird. Präsident Alexander Van der Bellen hat jedoch seine Skepsis gegenüber der FPÖ und Kickl rund um seine Wiederwahl vor zwei Jahren immer wieder deutlich gemacht. In einem Interview erklärte er damals, eine antieuropäische Partei, die den Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht verurteile, werde er nicht durch seine Massnahmen noch befördern. Van der Bellen entliess Kickl auf Antrag des damaligen Kanzlers Sebastian Kurz wegen der Ibiza-Affäre zudem aus dem Amt des Innenministers – ein Schritt, den es zuvor in der Nachkriegszeit noch nie gegeben hatte.
Er gehe davon aus, dass Van der Bellen sich die Wahlergebnisse sehr genau ansehen werde, erklärte Kickl in der Diskussionsrunde. Wenn die «Schönheit der Verfassung» diesem tatsächlich etwas bedeute, werde er zugestehen müssen, dass sie nicht auf das Prinzip Willkür setze, sondern auf Stärkeverhältnisse. Damit spielte der FPÖ-Chef auf ein berühmt gewordenes Zitat aus der Zeit der Umwälzungen nach «Ibiza» an, mit dem das Staatsoberhaupt das Grundgesetz gepriesen hatte.
Tatsächlich ist der Präsident allerdings völlig frei, wen er zum Kanzler ernennt und mit der Suche nach einer Mehrheit betraut. Die betreffende Verfassungsbestimmung stammt aus dem Jahr 1929 und atmet noch den Geist der Monarchie. In einer krisenhaften Zeit bedeutete sie eine gewisse Abkehr vom als instabil empfundenen Parlamentarismus, indem eine Direktwahl und weitgehende Machtbefugnisse für den Bundespräsidenten beschlossen wurden. Dieser kann seither jeden Staatsbürger zum Kanzler ernennen, der wiederum jederzeit mit einem Misstrauensvotum des Parlaments gestürzt werden kann. Insofern sind die Stärkeverhältnisse also sehr wohl relevant.
Auch Van der Bellen äusserte sich noch am Sonntagabend und kündigte an, nun mit allen Parlamentsparteien Gespräche zu führen. Dabei zitierte er auch die genannte Verfassungsbestimmung und erklärte, die Ernennung eines Bundeskanzlers setze ein gewisses Vertrauen voraus. Er werde bei der Regierungsbildung darauf achten, dass die Grundpfeiler der liberalen Demokratie respektiert würden, und nannte konkret unter anderem die Menschenrechte, die Gewaltenteilung, unabhängige Medien und die EU-Mitgliedschaft.
Mit den Worten muss er primär die FPÖ meinen, die diese Errungenschaften implizit immer wieder infrage stellt. Einen Bruch mit der Gepflogenheit, die stimmenstärkste Kraft und damit die Freiheitlichen mit der Regierungsbildung zu beauftragen, bedeuten sie aber nicht. Van der Bellen ginge damit das Risiko ein, sich und das Amt zu beschädigen. Sollte die FPÖ eine Mehrheit finden, käme er letztlich nicht umhin, ihr das Kanzleramt zu überlassen.
Die ÖVP schliesst nur eine Zusammenarbeit mit Kickl aus
Wie eine Mehrheit aussehen könnte, ist aber am Tag nach der Wahl genauso unklar wie davor. Kickl muss auf einen Wechsel an der ÖVP-Spitze spekulieren – zu klar hat sich deren Chef, Bundeskanzler Karl Nehammer, gegen ihn positioniert. Ausgeschlossen ist das nicht, immerhin haben die Konservativen den grössten Verlust ihrer Geschichte zu verzeichnen. Sie liegen allerdings mit grossem Vorsprung auf die Sozialdemokraten auf Platz zwei und haben damit gute Chancen, in einem Bündnis gegen die FPÖ das Kanzleramt zu verteidigen. Ein logischer Nachfolger Nehammers steht zudem nicht bereit.
Auch die ÖVP hofft womöglich auf einen Wechsel an der FPÖ-Spitze – so hatte Jörg Haider 1999 den Weg für eine Koalition ermöglicht. Nehammer hatte nämlich bewusst nur eine Zusammenarbeit mit Kickl ausgeschlossen und nicht mit der FPÖ an sich, mit der seine Partei derzeit in drei Bundesländern regiert. Inhaltlich wären die Überschneidungen gross, und insbesondere der Wirtschaftsflügel der Partei soll für eine neuerliche Regierung mit den Freiheitlichen weibeln. Aber es scheint ausgeschlossen, dass diese sich nach dem Rekordergebnis Bedingungen diktieren lassen und Kickl in die zweite Reihe verbannen.
Für die ÖVP hat ein Bündnis ohne die FPÖ ohnehin den Vorteil, dass sie das Kanzleramt verteidigen könnte. Weil die Kleinparteien allesamt den Einzug ins Parlament verpasst haben, kommt nach derzeitigem Stand der Auszählungen sogar ein Zweierbündnis mit der SPÖ auf eine Mehrheit. Die ehemals grosse Koalition hat dem Vernehmen nach Anhänger in beiden Parteien, was nicht erstaunen kann. Sie ist die Hassliebe dieses Landes – geschätzt für Stabilität und Sozialpartnerschaft, verachtet für Postenschacher und gegenseitige Blockade.
Eine Rückkehr ins «Hotel Mama der Innenpolitik», wie es die Inland-Chefin des Magazins «Profil» am Sonntag treffend beschrieben hat, hat allerdings gravierende Nachteile. ÖVP und SPÖ haben zusammen nur eine Mehrheit von zwei Sitzen. Jeder Krankheitsfall oder jeder Sonderwunsch eines Abgeordneten würde damit zum Problem.
Eine Koalition der Verlierer
Vor allem aber wäre es nach dem Rekordverlust der Konservativen und dem historisch schlechten Ergebnis der Sozialdemokraten eine Koalition der Verlierer. Schon allein deshalb gilt als wahrscheinlicher, dass eine dritte Kraft an Bord geholt würde: die liberale Partei Neos, die als Einzige neben den Freiheitlichen ein Plus verzeichnet.
Auch eine Einigung dieser drei Kräfte wird aber eine gewaltige Herausforderung. Die Regierungsbildung könnte deshalb Monate dauern. Damit rechnet auch der Bundespräsident. Das sei gut investierte Zeit, erklärte Van der Bellen am Sonntag. Kickl hofft dagegen, dass diese für ihn läuft. Angesichts des freiheitlichen Triumphs befänden sich die anderen Parteien in einer Schockstarre, höhnte er am Sonntagabend an der Wahlparty. «Ich gebe ihnen noch ein paar Tage, um zur Besinnung zu kommen.» Dann, so glaubt er, müssten auch sie das Ergebnis als Regierungsauftrag für ihn sehen.