Er lässt das Aussergewöhnliche normal erscheinen: Das Jahrhunderttalent Lamine Yamal navigiert gekonnt durch Abwehrreihen und die Fallen der Frühreife. Im FC Barcelona ist er mit Anfang 17 bereits der wichtigste Spieler.
Beifall vom gegnerischen Publikum gilt im Fussball als seltenste und höchste Form der Anerkennung. Sie wird normalerweise Legenden zuteil, die sich am Karriereende befinden. Die Zuschauer wollen dann jenseits aller Stammesfehden versöhnlich Abschied nehmen, eine Lebensleistung würdigen. Nicht normal ist hingegen, dass ein Spieler solche Wertschätzung bereits zu Beginn seiner Laufbahn erfährt. Doch was ist bei Lamine Yamal schon normal?
Kürzlich im Liga-Spiel in Villarreal erlebte der seit gut zwei Monaten 17-Jährige die Huldigungen für einen stratosphärischen Aussenristpass, den der Teamkollege Raphinha zu einem Torerfolg veredelte. Ähnlich war es ihm diese Saison zuvor schon in Valencia und Girona ergangen. Allerorten würdigen Fans seinen grossen Beitrag zum Triumph der Spanier an der EM, die er unter anderem als bester Vorlagengeber abschloss. Oder sein weiterhin natürliches und sympathisches Auftreten. Und vor allem ein epochales Talent, dessen Grenzen noch nicht erkennbar sind.
Yamal trifft die Torwinkel mit Leichtigkeit
Der rechte Flügel des FC Barcelona knüpft nahtlos an seine Gala-Darbietungen an der Euro an. An acht Liga-Spieltagen hat er bereits vier Tore erzielt und fünf Assists verbucht. In der Champions League, in der Barça am Dienstag die Young Boys empfängt, erzielte er das einzige Goal bei der 1:2-Auftaktniederlage in Unterzahl gegen die AS Monaco. Lamine Yamal Nasraoui Ebana darf noch nicht wählen und noch nicht Auto fahren. Aber das Spiel des spanischen Tabellenführers dreht sich schon jetzt um ihn.
Der vorerst letzte Beweis wurde am Samstagabend ex negativo geliefert, als Yamal wegen des bevorstehenden Champions-League-Spiels gegen YB erstmals pausierte – prompt verpasste Barça durch ein 2:4 bei Osasuna die Egalisierung des Liga-Startrekordes von acht Siegen nacheinander. Ohne Sorge vor Yamals Tempo und seinen Finten konnten die heimstarken Aussenseiter deutlich befreiter spielen. Lamine kam spät doch noch auf den Platz und markierte mit einem ähnlich fulminanten Linksschuss wie im EM-Halbfinal gegen Frankreich den Endstand.
Die Leichtigkeit, mit der er die Torwinkel zu treffen scheint, gehört zu seinen verblüffenden Eigenschaften. Bei ihm klingt es nicht arrogant, wenn er erklärt, warum er bei jenem Tor gegen Frankreich schon zu jubeln schien, als der Ball seinen Fuss verliess: «Wenn du so schiesst, hart ins Eck, dann dreht sich dein Körper automatisch zum Feiern ab.» Seine Schusstechnik ist so brillant, dass er seine vier Liga-Tore aus Chancen kreierte, deren Qualität nur zwei Treffer erwarten liess. Dieser sogenannte «Expected Goals»-Wert liegt bei anderen Topstürmern wie dem Mitspieler Robert Lewandowski oder den Real-Madrid-Stars Mbappé und Vinicius über dem ihrer tatsächlichen Treffer.
In der für ihn typischen Bewegung zieht Yamal von aussen nach innen, um dann zu schiessen oder abzulegen – der Gegner ahnt, was passiert, und kann es trotzdem nicht verhindern. Doch mit fast jeder Partie zeigt der Teenager auch andere, neue Facetten, etwa im Spielaufbau oder durch Ausflüge in eine zentralere Position. Neben seinem feinen Fuss beeindruckt besonders Yamals Gespür für freie Räume, und seien sie noch so klein. Alles wirkt anstrengungslos bei diesem Spieler, der einmal sagte, die grösste technische Herausforderung seines Lebens sei gewesen, den Fussball in seiner Kindheit gegen die herumtollenden Hunde seines Vaters zu verteidigen.
In der Gegenwart fürchten Trainer und Beobachter nun vor allem die Tritte der hilflosen Gegner, die in den letzten Wochen bisweilen äusserst ruppig zur Sache gingen. Selbst Medien aus der rivalisierenden Hauptstadt Madrid fordern die Schiedsrichter seither auf, das Juwel der Nation besser zu schützen. Immerhin erweisen sich Muskeln und Gelenke bei Yamal bis jetzt als resistent. Anders als andere frühreife Protagonisten des «Baby Barça» wie Pedri, Gavi oder Ansu Fati blieb er bis anhin von schweren Verletzungen verschont. Auch von Druck, Aufmerksamkeit und privaten Schlagzeilen hält er sich erfolgreicher fern als sein Vater, der nach einem Nachbarschaftsstreit im August mit Stichwunden ins Krankenhaus eingeliefert werden musste.
Jetzt will er eine Legende werden
Beim Auftritt in Spaniens meistgesehener Talkshow «El Hormiguero» kürzlich verplapperte sich Lamine nicht – und verriet trotzdem ein paar kuriose Details. Dass er sich gern einen Oktopus als Haustier zulegen würde, aber seine Mutter es nicht erlaube. Dass er sich für Kochen interessiere und dass er keine Tattoos haben möchte. Der Ausnahmefussballer sagte, er könne jetzt nur noch online einkaufen, weil er für Geschäftsbesuche schon zu berühmt sei.
Lamine Yamal already has pitch invaders at just 17yrs. Look at how calmly he walked 🥶 pic.twitter.com/y5XK7C54uS
— Anabella💙❤ (@AnabellaMarvy) September 30, 2024
Aber er fühle sich gut vorbereitet auf sein Leben im Scheinwerferlicht – dank seiner bodenständigen Herkunft im Einwandererviertel Rocafonda der katalanischen Stadt Mataró. Seine Oma Fatima, die dort wohnt, rät ihm noch heute: «Zieh nicht nur schwarze Klamotten an, lächele immer und sorge gut für deine Eltern.» Gut vorbereitet worden sei er auch während der vielen Jahre in Barças Nachwuchsinternat La Masia: «Dort lernt man viel, sie bereiten einen auch mit Psychologen vor.»
Beklatscht wird er jetzt schon, eine «Legende» will er noch werden – der Spieler, über den der damalige Trainer Xavi bei der ersten Nomination in das Kader sagte, er vereine die «Qualitäten verschiedener Fussballer». Damals war Yamal 15 Jahre alt. Und nun, mit 17, ist er schon erstmals für den Goldenen Ball des Weltfussballers nominiert. Er wisse, dass er dieses Jahr noch keine Chancen auf den Gewinn habe, so Yamal: «Aber zum Aufwärmen ist es ganz gut.»