Alaa al-Dali wurde durch einen Scharfschützen getroffen und musste sich ein Bein amputieren lassen. Nun startete er als Para-Sportler in Zürich – es war die Erfüllung eines Lebenstraums.
Im Gazastreifen Radprofi werden zu wollen, ist ein irrwitziges Unterfangen, selbst ohne Krieg wäre das so. Der Landstrich ist denkbar ungeeignet für ausgedehnte Trainingsfahrten. 41 Kilometer lang, maximal 14 Kilometer breit, die Strassen voller Schlaglöcher.
Alaa al-Dali war das egal. Der Palästinenser studierte und half bei Bauprojekten aus, um Geld zu verdienen, aber eigentlich träumte er seit seiner Jugend von etwas anderem: Er wollte professionell Velo fahren. Vier bis fünf Stunden habe er damals täglich trainiert, sagt er, ständig auf den gleichen Strassen: zu Wendepunkten und wieder zurück, immer wieder aufs Neue.
Er kam erstaunlich weit, im übertragenen Sinn. Anfang 2018 wurde Dali als 21-Jähriger Landesmeister, im Sommer sollte er an den Asienspielen in Jakarta starten. Frühere Einladungen zu Rennen im Ausland konnte er aufgrund der im Gazastreifen seit Jahren geltenden Reisebeschränkungen nicht annehmen. Diesmal, so hoffte er, werde alles anders.
Obwohl palästinensischen Athleten die staatliche Anerkennung fehlt, können sie gelegentlich an Grossanlässen teilnehmen, das Internationale Olympische Komitee lässt das beispielsweise seit 1995 zu. Ein Jahr später starteten zwei Athleten an den Sommerspielen in Atlanta. Die israelische Regierung, schon damals unter Benjamin Netanyahu, protestierte erfolglos gegen die Verwendung des Namens «Palästina».
Sportler aus der Region, ob israelisch oder palästinensisch, können rasch in politische Spannungsfelder geraten. Es ist möglich, dass sie für Propagandazwecke eingespannt werden, instrumentalisiert von den eigenen Politikern, kritisiert von der Gegenseite. Doch hier soll die Geschichte eines Sportlers erzählt werden, der immer nur eines wollte: Rad fahren. Bis ihm das Schicksal härteste Prüfungen auferlegte.
Die Kugel trennte beinahe sein Bein ab
Am 30. März 2018 gegen 14 Uhr wurde Dali von einem israelischen Scharfschützen am Bein getroffen. An diesem Tag begannen die grossen Proteste entlang des Gaza-Grenzzauns. In morbider Präzision hielt eine Untersuchungskommission der Vereinten Nationen später die Details fest. In dem Bericht heisst es: «Die Kugel trennte beinahe sein rechtes Bein knapp unterhalb des Knies ab und zerstörte den Knochen sowie eine beträchtliche Menge an Muskelgewebe und Blutgefässen. Um sein Leben zu retten, amputierten die Ärzte Dalis Bein oberhalb des Knies. Er wird seine Radsportkarriere nicht wieder aufnehmen können.»
Selbst in diesem Moment kreisten seine Gedanken primär um den Sport, wie er später erzählte. «Es war sehr schwierig, ich hatte die Asienspiele vor Augen», sagt er über seine Erinnerungen an den Tag. Und über den Amputations-Entscheid, später im Spital: «Es war ein brutaler Schock, ich sollte mein Nationalteam repräsentieren.»
Seine Familie wollte Dali für bessere Behandlungsoptionen ins Westjordanland bringen. Der Versuch scheiterte an den durch Israel auferlegten Reisebeschränkungen. Nach tagelangen, mehrstündigen Behandlungen glückte die Amputation in dem mangelhaft ausgestatteten Spital im Gazastreifen. «Es war sehr hart für mich, ein Bein zu verlieren», sagt Dali heute. «Aber es hat mich noch hartnäckiger gemacht.»
Warum er ins Visier des Schützen geriet, blieb unklar. Im Untersuchungsbericht steht, Dali habe während einer Demonstration in Radsportkleidung auf einem Sandhaufen gestanden und sein Velo festgehalten, etwa 300 Meter neben einem Grenzzaun östlich von Rafah. Der nächste Demonstrant sei 15 Meter entfernt gewesen. Dali habe «keine unmittelbare Todesgefahr oder schwere Verletzungsgefahr für IDF-Soldaten» dargestellt.
Bereits zwei Monate später versuchte Dali, sich erneut aufs Velo zu setzen, ohne passende Prothese. Zur Hartnäckigkeit gesellt sich bei ihm ein nie versiegender Optimismus. «Es war sehr schwierig, weil mir in meinem Umfeld niemand beibringen konnte, wie man mit einem Bein Rad fährt», sagt er. Familie und Freunde hätten ihn enorm unterstützt, später auch sein Coach Abo Ali.
Profis absolvieren bisweilen kurze Intervalle einbeinig, um spezifische Muskeln zu stärken, das andere Bein strecken sie vom Rad weg. Wer ein Rennrad oder Mountainbike mit Klickpedalen besitzt, kann in einem Selbstversuch feststellen, wie schwer es ist, auf diese Weise zu beschleunigen und gleichzeitig die Balance zu halten.
Dali haderte mit den Problemen. Die schlechten Strassenverhältnisse machten die Sache zusätzlich herausfordernd. Darüber hinaus sei es wegen der israelischen Blockadepolitik ein Problem, Radsportmaterial in den Gazastreifen zu importieren, sagt er: «Was im Westen in fünf Minuten erledigt ist, braucht bei uns fünf Wochen.» Mit seiner sturen Absicht, dem Velo trotz seiner Behinderung treu zu bleiben, brachte er sich selbst an Grenzen. Doch gleichzeitig dürfte ihn die Liebe zu seinem Sport davor bewahrt haben, in ein noch tieferes psychisches Loch zu fallen.
Über einen Fotografen, der den Gazastreifen 2018 besuchte, erfuhr Karim Ali von Dali. Der in London wohnende Palästinenser war Produktmanager in einem Fintech-Unternehmen und interessierte sich laut eigener Aussage nicht für Sport. Das Schicksal des Veloenthusiasten aus dem Gazastreifen berührte ihn jedoch. Die beiden Männer kamen in Kontakt und gründeten eine Organisation zur Unterstützung lokaler Velofahrer, die Gaza Sunbirds. Alis Geschäftssinn sollte Dali bald vieles ermöglichen.
Die Gaza Sunbirds begannen neben ihren Trainings, auf ihren Velos Lebensmittel und Medizin im Gazastreifen zu verteilen. Bis heute haben sie nach eigenen Angaben 90 000 Menschen versorgt, auch im gegenwärtigen Krieg setzen sie ihr Engagement fort.
Als der Dauerkonflikt nach den Anschlägen der Hamas im Oktober 2023 eskalierte, war für Dali nicht mehr an Training zu denken. Auch der Ort, an dem die Gaza Sunbirds ihre Velos aufbewahrten, sei zerstört worden, sagt er. Über eine private Firma gelang es ihm, ein Visum zu erhalten und nach Kairo zu flüchten. Er habe Frau und Kinder im Krieg zurückgelassen, weil er an den Paralympics habe teilnehmen wollen. Das sei eine schwerere Herausforderung gewesen als die Amputation.
Im April 2024 kam Dali in Kairo an, wo er nach der siebenmonatigen Zwangspause das Training unmittelbar wieder aufnahm. Fast 70 Kilometer legte er bereits am ersten Tag zurück. Noch im selben Monat erhielt er ein weiteres Visum, diesmal für Belgien: Am Weltcup in Ostende konnte er erstmals ein internationales Rennen absolvieren. Wenige Tage später folgte der nächste Weltcup in Maniago in Italien.
Dalis grösste Hoffnung zerschlug sich. Die Leistungen in Belgien und Italien genügten nicht für eine Qualifikation zu den Paralympics in Paris. Auch der Antrag auf eine Sondergenehmigung wurde abgelehnt. Für den Sportler war das eine Enttäuschung, die ihm schwerer zu schaffen machte, als für Menschen nachvollziehbar sein dürfte, für die Sport eine schöne Nebensächlichkeit ist. Doch ein weiteres Mal dauerte es nur kurz, bis sich eine Alternative auftat: Dali erhielt die Möglichkeit, an den Rad- und Para-Cycling-Weltmeisterschaften in Zürich zu starten, die am Sonntag endeten.
Auf der Zürcher Seestrasse kämpft er um jede Sekunde
In der Schweiz wurde deutlich, dass es dem Sportler zumindest derzeit nicht darum geht, seine Auftritte für politische Stellungnahmen zu nutzen. Interviewanfragen lehnte er in der WM-Woche konsequent ab. Die Zitate in diesem Text stammen aus früheren Gesprächen mit ihm. Dali, dieser Schluss liegt nahe, wollte in Zürich Velo fahren und sonst nichts.
Er startete an den Weltmeisterschaften in der Kategorie C2, jener für Athleten mit schweren Behinderungen. Die Definition ist breit gefasst: Einbezogen sind Athleten mit einseitigen Oberschenkelamputationen wie Dali, die ohne Prothese antreten, aber auch Sportler mit Mehrfachamputationen, die Prothesen nutzen. Chancengleichheit ist nicht garantiert.
Bei allen sonstigen Unterschieden eint die meisten Athleten, existenzielle Schicksalsschläge überwunden zu haben. Der Zürcher Weltmeister im C2-Zeitfahren, Ewoud Vromant aus Belgien, musste sich vor elf Jahren das rechte Bein nach einer Krebserkrankung amputieren lassen.
Als Dali im Kampf gegen die Uhr auf dem 18,8 Kilometer langen Kurs am Zürichsee dem Ziel näher kam, wuchtete er sein Velo in weiten Schwüngen von rechts nach links. Er erinnerte an Fahrer, denen jede Eleganz abhandenkommt, wenn sie ihre Grenzen im Wiegetritt auf einer steilen Rampe testen. Dali kämpfte um jede Sekunde. Am Ende reichte es zu Rang 17, mit einem Schnitt von 34,938 Kilometern pro Stunde. Wer dieses Tempo einbeinig auch nur für einige Sekunden zu halten versucht, vermag die Leistung einzuschätzen.
Seine Unterstützer wedelten am Sechseläutenplatz mit palästinensischen Fähnchen. Sie riefen seinen Namen. Im Ziel angekommen, setzte sich Dali schweigend neben andere Athleten aus aller Welt auf die Seestrasse. Gemeinsam genossen sie das Sportlern bekannte Gefühl, wenn die Anstrengung der Zufriedenheit Platz macht. Dali gehörte nun endlich dazu.
Mitarbeit: Jonathan Rashad, Kairo