Jeden Tag steigt ein Team der Stadtarchäologie in die Baugruben. Es trotzt dem Regen, dem Zeitdruck und den nörgelnden Anwohnern – und hofft dabei nicht auf Gold, sondern auf etwas viel Kostbareres.
In einer Baugrube im Zürcher Niederdorf sitzt ein Mann im Regen und zeichnet mit zitternden Fingern. Seine leuchtend orange Bauarbeiterkluft ist mit Dreck beschmiert, auf seinen roten Harthelm trommeln Regentropfen. Hinter ihm reisst ein Bagger die Strasse auf. Zwei Bauarbeiter tragen ein dickes Rohr vorbei. Irgendwo wummert ein Presslufthammer.
Der Mann in der Baugrube wischt die Regentropfen von seinem Zeichenbrett, misst mit dem Lineal die richtige Position aus, und zeichnet sorgfältig den nächsten Stein der unscheinbaren Mauer vor sich. Er heisst Manuel Zürcher, hat Mittelalterarchäologie studiert und arbeitet bei der Stadtarchäologie Zürich. Wenn im Nieder- oder Oberdorf ein Loch gegraben wird, ist er da. Denn die moderne Stadt steht auf den Überresten ihrer Vergangenheit. In jeder Baugrube stösst man unweigerlich darauf. Für Archäologen kann sie zum Fenster in die Geschichte werden.
Auf der Baustelle muss Archäologie schnell gehen
Heute ist in der Baugrube in der Trittligasse das alte Fundament eines Hauses zum Vorschein gekommen. Die Mauer sei mindestens 500 Jahre alt, schätzt Zürcher. Systematisch dokumentiert er jeden Stein auf seiner fein karierten Zeichenfolie, flucht zwischendurch leise über den Regen, der es fast unmöglich macht, einen Strich zu setzen. Zwei Meter links von ihm manövrieren Bauarbeiter einen dicken Schlauch in die Grube. Ein Saugbagger, erklärt Zürcher. Gleich werde es laut.
Momente später beginnt ein ohrenbetäubendes Getöse. Der Schlauch saugt Kies aus der Grube, um die darunter versteckten Rohre freizulegen. Wegen dieser Rohre ist die Baugrube überhaupt hier. Im ganzen Niederdorf werden bis 2027 die Gas-, Wasser- und Stromleitungen erneuert. Weil die Innenstadt archäologisch besonders interessant ist, ist ein Team von Archäologen bei allen Bauarbeiten vor Ort dabei.
Zürcher lässt sich vom Lärm des Saugbaggers nicht ablenken, ebenso wenig wie von dem lauten Stampfen, das zehn Meter rechts von ihm ertönt. Dort schütten drei weitere Bauarbeiter die Grube bereits wieder zu und befestigen den Untergrund, damit bald wieder Pflastersteine verlegt werden können. Der Grubenabschnitt, in dem Zürcher sitzt, ist als Nächstes dran.
Um die Zeugnisse jahrhundertealter Geschichte in diesem Bereich der Baugrube zu dokumentieren, hat Zürcher nur einen halben Tag Zeit. Denn wenn in der Innenstadt der Boden geöffnet wird, muss es schnell gehen. Von der Gasse bleibt für die Fussgänger momentan nur ein schmaler Pfad, gerade breit genug für eine Person.
Die Bauarbeiten pausieren deshalb nicht für die Archäologen. Gerade legen zwei Bauarbeiter hinter ihm dicke Holzbalken über den Graben, werfen Seile darüber und hieven daran die freigelegten Rohre in die Höhe. «Ich mag den Stress», sagt Zürcher achselzuckend.
Die Archäologen sind ein eingespieltes Team
Damit die kurze Zeit ausreicht, ist Zürcher nicht alleine, er leitet ein kleines Team. Der Archäologe Simon Hardmeier und der Ausgräber Riet Grubenmann sind mit dabei. Die drei arbeiten schon seit zehn Jahren immer wieder zusammen. In dieser Konstellation seien sie am liebsten unterwegs, sagen sie einhellig. Man merkt, dass sie sich gut verstehen, ohne viele Worte. Gehört hätten sie einander im Lärm der Baustelle sowieso nicht.
Während Zürcher zeichnet, schreibt Hardmeier auf, was die Mauer zu bieten hat. Da ist ein kleines Rechteck erkennbar, das wohl einmal das Fenster zu einem Kohlenkeller war. Ein glatter, horizontaler Sandstein dürfte die ehemalige Türschwelle sein, heute einen halben Meter unter der Erde. Diese interessanten Punkte haben die Archäologen nummeriert und mit bunten Pappkärtchen markiert, damit man sie später in den Fotos, der Zeichnung und der Beschreibung einander zuordnen kann.
Grubenmann stellt derweil am Rand des Schachts einen Dreifuss auf. Dabei verliert er auf dem nassen Kies kurz das Gleichgewicht und fällt fast in das Loch. Auf dem Dreifuss montiert er ein Gerät, das mithilfe eines Lasers millimetergenau die Position der Mauer bestimmen kann. Dazu misst er die Distanz zu verschiedenen Markierungen an Strassenlaternen und Hausecken, deren genaue Position und Höhe bekannt ist.
Während Grubenmann die Markierungen anvisiert, laufen zwei Bauarbeiter vorbei. «Na, habt ihr schon Gold gefunden?», ruft einer von ihnen Grubenmann mit einem Grinsen zu. «Noch nicht», ruft er zurück. «Wir sagen euch dann Bescheid, dann machen wir 50:50.» Es klingt nach einem eingespielten Dialog, der so oder so ähnlich schon etliche Male abgelaufen ist. «Besser, als wenn sie nach Dinosauriern fragen», sagt Grubenmann augenzwinkernd.
Auch unscheinbare Funde sind wichtig
Man kann es den Bauarbeitern nicht verübeln. Bei Archäologie denkt man zuerst an die spektakulären Funde, an die Mumien, die goldenen Grabbeigaben, die Mosaike. Oder zumindest an Münzen aus der Römerzeit. Doch im Alltag der städtischen Archäologen sind glamouröse Funde selten.
Typisch ist eher die Ausbeute von gestern: Da haben die drei einen Tierknochen gefunden, wahrscheinlich von einem Wildschwein, und eine Tonscherbe. Vielleicht die Überreste einer Mahlzeit, die ein Mensch vor vielen hundert Jahren hier zu sich nahm.
Solche Funde mögen für sich alleine unbedeutend sein. Doch die Archäologen sammeln, waschen, beschriften und fotografieren sie, lagern sie im Archiv ein und speichern sie in der Datenbank ab. Und dort, in der Datenbank, entsteht etwas. Stück für Stück setzen sich die Indizien zu etwas Grösserem zusammen. Sie zeichnen ein Bild der Vergangenheit, das einen Blick erlaubt in die Leben der Menschen, die vor uns hier waren.
Für Zürcher geht es dabei nicht nur um den Erkenntnisgewinn, den die archäologische Feldarbeit bringt. Sondern in erster Linie darum, die Zeugnisse der Vergangenheit überhaupt zu bewahren. Denn für ihn steht fest: ohne Vergangenheit keine Zukunft.
Und im Boden ist die Vergangenheit mitnichten gut aufgehoben. Schliesslich hat Zürich auch eine Gegenwart und eine Zukunft. Um den Bedürfnissen der modernen Stadt gerecht zu werden, wird immer wieder gegraben, abgerissen, neu gebaut. Der Boden wird ständig regelrecht durchpflügt. Dabei werden alte Mauern, Knochen, Gefässe, Münzen, Schmuck oft vernichtet oder zumindest aus dem Kontext gerissen. «Unsere Dokumentation ist der Ersatz für das, was unwiderruflich zerstört wird», sagt Zürcher.
Die Bauarbeiten verzögern sich nicht
Manchmal finden die Archäologen ihre eigenen kleinen Sensationen. Vor ein paar Wochen zum Beispiel. Da kamen im oberen Teil der Trittligasse plötzlich die Überreste einer Mauer zutage, die eindeutig aus römischer Zeit stammt. Dabei liegt das Gebiet ausserhalb der Grenzen, die man bisher für das römische Zürich angenommen hat. Die Entdeckung wird das bisherige Verständnis über die Ausdehnung der antiken Zollstation Turicum verändern.
Doch nicht jeder hat Verständnis für die Arbeit der Stadtarchäologie. Auf der Baustelle spricht eine Passantin den Ausgräber Riet Grubenmann an: «Wann ist die Baustelle hier endlich weg?» Die Frage kommt oft. Grubenmann erklärt geduldig, dass etwa in zwei Wochen alle Baugruben in dieser Gegend wieder geschlossen sein sollten.
Unmut über lange Bauarbeiten habe sich auch schon auf gröbere Weise geäussert, erzählt Grubenmann. Vor Jahren habe ihn einmal ein Mann wüst beschimpft und ihm sogar eine glühende Zigarette in den Nacken geschnippt. «Er hat uns vorgeworfen, dass wir die Bauarbeiten verlangsamen würden und zu nichts nutze seien», sagt Grubenmann. Dabei sind die Archäologen stolz auf die gute Koordination mit dem städtischen Bauprojekt. Mithilfe guter Planung und Absprache schaffen es die Archäologen meist, den Bauarbeiten nicht in die Quere zu kommen. In den anderthalb Jahren, während deren das Projekt im Niederdorf schon läuft, gab es ihretwegen keine Bauverzögerung.
Stossen die Archäologen doch einmal auf einen spektakulären Fund, kann die Stadtarchäologie eine Fundstelle aber auch unter Schutz stellen und die Bauarbeiten stoppen. Denn dann braucht eine sorgfältige Dokumentation und Bergung mehr Zeit. Im Zweifelsfall muss dann die Stadt entscheiden, was wichtiger ist: das Bauprojekt oder der Erhalt historischer Zeugnisse.
Das nächste Grossprojekt steht schon an, denn in Zürich wird das Fernwärmenetz ausgebaut. Um dafür die Leitungen zu verlegen, wird erneut in vielen Bereichen der Innenstadt der Boden geöffnet werden. Damit dabei keine wertvollen archäologischen Erkenntnisse für immer zerstört werden, ist die Stadtarchäologie bereits jetzt bei der Planung eng eingebunden. Mehr Stress also für Manuel Zürcher. Er freut sich drauf.